Die Stunde Null war keine Stunde der Wahrheit. Denn die Wahrheit über sich selbst wollten die Deutschen am Ende des Weltkriegs am allerwenigsten wissen, davor zitterten sie mehr als vor russischen Panzern und britischen Bombern. Erinnert sich in Zeiten illustrer Geschichtsfilme über unseren tragischen Untergang noch jemand an diese unrühmliche Angst? Sie wurde ja zum prägenden Erlebnis für viele antifaschistische Nachkriegsschriftsteller, die keineswegs als Antifaschisten zur Welt gekommen waren. Wer ihre Lebensläufe heute verstehen will, muss Christa Wolfs alte Erzählung Blickwechsel lesen, die von der Flucht vor der Wahrheit handelt.
Zeit der Handlung ist April 1945, Ort ist eine von deutschen Flüchtlingen bevölkerte Landstraße in Mecklenburg. Die Nation will dem Endsieg entkommen und lässt die Gewehre am Straßenrand liegen. Gerade plündert man einen Versorgungswagen der Wehrmacht, als am Waldrand die entlaufenen KZ-Häftlinge auftauchen. »Sie sahen anders aus als alle Menschen, die ich bisher gesehen hatte«, sagt die Erzählerin, eine junge Frau aus dem Flüchtlingstreck. Vorsichtig nähern sich die Todesmarschkandidaten der Straße, doch das angstvolle Zurückweichen des Trecks verrät, dass hier auch ein Wiedersehen stattfindet. Es ist die leibhaftige Wiederkehr der Verdrängten, die nun auf blutigen Füßen über den Acker stolpern. »Wir wussten Bescheid«, gesteht die Erzählerin und fürchtet, die Zerlumpten könnten ihr die Kleider wegnehmen, und fühlt, das wäre gerecht, und findet, sie sei durch Bescheidwissen schon lange schuldig. Mit der schockartigen Erkenntnis dieser Wahrheit – und auch wenn das Schuldgefühl rasch einer hilflosen Wut auf die elenden Gestalten weicht – beginnt der Zweifel an allen bisher geglaubten Wahrheiten.
Sie findet drastische Worte gegen die Hoffnung auf ihre Generation
Wir müssen uns die Achtzigjährige im Alter von sechzehn vorstellen, die linke Moralistin als naive Hitlerjugendliche und verirrten Flüchtling. Wir müssen die politisch engagierte Schriftstellerin als Kind ihrer Zeit sehen, um die Ursachen ihres Engagements zu verstehen: Es beruht auf Entsetzen, Schuldbewusstsein und einer mühsam erworbenen Distanz nicht nur zum »Dritten Reich«, sondern auch zu sich selbst. Christa Wolfs autobiografischer Bericht heißt Blickwechsel und entwirft in lakonischen Worten eine Jahrhundertszene. Darin fallen Erkenntnis und Entfremdung zusammen. Darin weitet sich die moderne Ich-Krise zum Weltzustand. Darin wird der moralische Nullpunkt markiert, an dem die Generation der Hineingeborenen 1945 steht. Auf engstem Raum begegnen sich die Themen eines großen Werkes: Krieg, Gefangenschaft, Heimatverlust, Vertrauensverlust, Sinnverlust, Täuschung, Trauer, Todesangst.
Die KZ-Häftlinge stürzen sich nicht auf die Vorräte des Flüchtlingstrecks, sie sammeln nur die Gewehre aus dem Straßengraben und erklimmen dann eine Böschung, wo sie nach Verfolgern Ausschau halten. Schweigend blicken sie auf den Treck hinunter, und der Treck blickt zu ihnen hinauf. Es ist einer der härtesten Showdowns der Weltliteratur, weil die Opfer an den Mitläufern nicht Rache üben und kaum Kraft haben, die Gewehre in Anschlag zu bringen. Christa Wolf schildert mit einfühlsamem Sarkasmus das Unaushaltbare dieses Blickwechsels, der die Erzählerin dazu bringt, sich zu wünschen, dass endlich einer schreit oder in die Luft knallt oder sie abknallt, Herrgott noch mal! »Ich konnte ihnen nicht helfen, und sie mir auch nicht, und ich verstand sie nicht, und ich brauchte sie nicht, und alles an ihnen war mir von Grund auf fremd.«
Verordneter Antifaschismus klingt anders. Da müssen einem die Überlebenden stets nahe sein und die Täter auf ewig fremd. Die Fremdheit angesichts der Opfer und die Unmöglichkeit des Mitleids widersprechen dem Gründungsmythos der DDR ebenso wie dem demokratischen Erneuerungspathos der BRD. Ähnliche Endzeitgefühle wie bei Wolf gibt es nach der doppelten Staatsgründung beiderseits der Interzonengrenze, sie sind nicht populär, aber einige junge Autoren sprechen sie aus. Dass gerade die Ostdeutschen unter ihnen drastische Worte finden gegen die Hoffnung auf ihre Generation, mag eine erste allergische Reaktion auf die doktrinäre Kulturpolitik sein, die »vorwärtsweisendes Schreiben« über den Faschismus fordert. Heiner Müller und Günter Kunert (beide Jahrgang 1929) ziehen pessimistische Geschichtsbilanzen; Erich Loest und Hermann Kant (beide Jahrgang 1926) schildern die hitlertreuen Kameraden, die sie waren; Franz Fühmann (Jahrgang 1922) gedenkt harmloser Feinde, die von Helden wie ihm erschossen wurden.
Fühmann, der bald ein vertrauter Gesprächspartner für Christa Wolf wird, fragt am beharrlichsten von allen deutschen Nachkriegsautoren, welche Art Mensch die Jugendjahre in der HJ und der Wehrmacht aus ihm gemacht haben. »Meine Generation ist über Auschwitz zum Sozialismus gekommen«, lautet sein biografischer Merksatz, den Christa Wolf zitiert. In Fühmanns Erzählung Judenauto nimmt das Kind namens Franz vor vermeintlichen Juden Reißaus, und als es seinen Irrtum erkennt, gerät es aus Scham in helle Wut auf alles Jüdische, dies Schreckgespenst der Nazikinderzeit. Wie überwindet man den Kinderglauben? Wie befreit man sich vom Faschismus?
Kommentare
Schöner Artikel. Macht mir echt Lust, Christa Wolf mal wieder zu lesen!
Die Kultur der Lüge
Die Stunde Null ist eine Lüge. Wer sich ihrer öffentlich bedient, belügt seine Mitmenschen. Ein 1945 eingetretenes Ende Deutschlands hat Ereignis werden lassen, dass jeder Deutsche, ob Mann, ob Frau, außer einer Handvoll geistig Träumender wie Ernst Cassirer, Thomas Mann und Ernst Jünger (gegen Thomas Assheuer), ein kriegsgeiler Verbrecher, ein machtwahnbesessener technisch arbeitender politischer Amokläufer, ein kultureller Mörder eines osteuropäischen Judentums ist. Eine Wahrheit eines Ereignisses, dessen geistige Dimensionen unaussprechbar sind, ist schlechthin unfassbar. Ein Volk, das von der Gesamtheit seiner politischen Elite in die Irre geführt und zu Verbrechen, deren einsetzendes und anhebendes Bewusstsein einen sofortigen geistigen und seelischen Tod seines Trägers nach sich zöge, angeleitet wurde, kann sowohl einer substantialen als auch einer funktionalen Wahrheit eines Ereignisses nicht in die Augen sehen können, da sie jenes Volk, aus deren Reihen die unendliche Anzahl der Besessenen, der Mörder, der Verbrecher aufsteigen konnte, richten und zu einem ewigen geistigen und seelischen Tode verdammen würde. Die Ungeheuerlichkeit und Überdimensionalität der in dem Namen Deutschlands und des deutschen Volkes geschehenen politischen Ereignisse ist mittels eines substantialen oder funktionalen Wahrheitsbegriffes gar nicht erfassbar, gar nicht aussagbar. Wer sich seiner bedient, macht sich mitschuldig an dem Vergessen und an dem Verdrängen einer Erinnerung und eines Gedächtnisses, deren Bewahren und Pflege einem durch 1945 eingetretenen politischen Tode das Recht nimmt und verweigert, das Humanum, das Europa kulturell trägt und nährt, beerdigt, begraben, beseitigt sein zu lassen.
Deutschland und seine Intellektuellen: Eine Vaterlandssichtung!
Christa Wolfs spät offen gelegte Selbstverpflichtung für die DDR-Stasi, ihre Kapitalismuskritik an der alten BRD und ihre Vorbehalte gegen den Untergang der DDR im Jahre der Wiedervereinigung erbrachte ihr kein positives Renommee, trotz einer Literatur, die ihr in den Jahrzehnten davor große Beachtung verschafft hatte. Sie ist seither keine ernst genommene Schriftstellerin mehr, keine moralische Instanz fürs Deutschland der neuen Republik seit 1990.
Aber andere, von denen wir bisher überzeugt gewesen sind, dass sie moralisch hoch stehend und über alle Kritik erhaben sichere Gewährsleute unserer besten Absichten für eine bessere Welt sein müssten, haben vor kurzem ihre Verstrickungen in längst überwunden geglaubte politische Zumutungen eingestehen müssen. Und zum Teil besserwisserisch an ihrem Weg festgehalten.
Aber ist all das, was wir darin sehen müssen, nicht nur eine allzu menschliche Krankheit, eine allzu deutsche Mentalität: Denn noch die letzte allzu deutsche Revolution, die unter dem Motto gestanden hatte „Wir sind das Volk!“, führte zu nicht viel anderem als zur Verbrüderung der politischen Klassen von Deutschland West und Ost unterm Deckmantel der BRD-Verfasstheit. Es wurde der Untertanengeist, das Obrigkeitsdenken des von Alters her wohl bekannten preußisch-restaurativen Wegs nur um ein weiteres Beispiel ergänzt – was letztlich schwerwiegender ist als die Tatsache, dass sich die CDU West die CDU Ost einverleibte, dass sich die SED als Die LINKE auf Basis alter stalinistischer Kader neu formierte und die SPD sich dieser inzwischen zunehmend anbiedert.
Christ Wolf wird da zur Projektionsfläche eines schlechten Gewissens, zu der einer an sich besseren Einsicht, die man nicht leben will, die man in eine uneingestandene, moralische Gewissenslosigkeit abschiebt, geschuldet der Mentalität, vom Staat und der Gesellschaft alles, von sich selbst nichts zu verlangen: das Gemeinwesen wird da zu reiner Teilhabe an obrigkeitsstaatlich gewährten Sozialtransfers oder dem staatsliberalistisch sanktionierten kapitalistischen Boniwesen.
Und da interessiert es auch niemanden mehr, dass Christa Wolfs Werk über anderes spricht: Christa Wolfs Bücher haben mich immer tief beeindruckt, weil sie viel über das deutsche Wesen, den Umgang der Deutschen mit ihrer Geschichte und über ihren Umgang mit ihren Intellektuellen sagen. Christa Wolfs Bücher waren für mich immer eine Auseinandersetzung mit der Authentizität und dem Selbstverständnis deutschen Dichtertums und Schriftstellerei gewesen: eine Auseinandersetzung zwischen totalitären Geschichtsentwürfen mit solchen der Demokratie und eines recht verstandenen Republikanismus.
Dabei kennzeichnet Christa Wolfs Werk Entmutigung, Ausweglosigkeit, ja Sprachlosigkeit, auch ihre Figuren wie z.B. Günderode und Kleist, auch Kassandra. Ihre Bücher sprechen von Figuren, von Intellektuellen, die nicht ankommen, wo sie hingehören, wo sie dazugehören wollen. Ihr Land, in dem sie leben, ist ihnen verschlossen, bleibt fremd, ist ein Kontext der Existenzweise, der sich ihnen nicht erschließen kann. Und sie sind darin nur die Gradmesser des Unzeitgemäßen, Verschobenen, Falschen.
Aber Christa Wolf ist und bleibt, trotz dem, das sie auch war, eine wichtige Mahnerin auf dem Weg zu einer Sehnsucht nach Freiheit, Solidarität und Menschlichkeit, Menschenrechte, die so universal sind wie Sprache, Kommunikation und poetische Werkfähigkeit. So ist es nicht so sehr das Sozialistische, die Kapitalismuskritik an ihr, das Falsche ihres eigenen politischen Wegs, die uns einen Weg weisen können, sondern ihr poetisches Werk, das uns auf dem Weg in eine Demokratie mit einer humaneren Marktwirtschaft in globaler Herausforderung Hinsichten geben kann. Denn dass Christa Wolf in ihrer Kritik an der alten Bundesrepublik diese als Systemalternative gegenüber der DDR verwarf, ist kein Appell für die Diktatur. Dem widerspricht schon ihr poetisches Werk. Es wäre Zeit, Christa Wolfs Schaffen neu zu sichten.
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