Es gibt Bilder, sagt Helen Behn, die verblassen nie. Ihre Konturen bleiben scharf, ihre Farben kräftig: Da ist das Blut, das aus dem Ohr des Jungen sickerte, und da sind die großen braunen Augen, die sie anzustarren schienen, als sie mit ihrem Kollegen zur Unfallstelle kam. Neben dem Jungen lag ein Fahrrad, ein paar Schritte weiter stand ein Vierzigtonner, dann kam der Bestatter mit dem Kindersarg. Zu Hause, nach Dienstschluss, als sie nichts mehr ablenken konnte, hat Helen Behn geweint. Es war 2001, ihr erstes Dienstjahr als Polizistin nach der Ausbildung, und es war ihre erste Leiche – ausgerechnet ein Kind.
»Die erste Leiche vergisst man nicht«, steht auf dem Buch, das heute auf dem Küchentisch ihrer Wohnung in Bremen liegt: ein Band des Netzwerks der »Polizeipoeten«. Seit ein Freund ihr das Buch vor drei Jahren geschenkt hat, gehört Helen Behn zu den rund 170 Beamten, die ihre Erlebnisse im Internet und in Sammelbänden veröffentlichen. Wenn sie die Haustür hinter sich zugezogen, wenn sie geduscht, ihre roten Haare getrocknet und den Laptop eingeschaltet hat, ist die 32-Jährige nicht mehr die Kommissarin im gehobenen Dienst, sondern einfach: Helen Behn, die Polizeipoetin. Sie und ihre Kollegen schreiben, weil sie zeigen wollen, was in ihnen vorgeht, und weil das Vergessen auch nach der ersten Leiche nicht einfacher wird: Wie soll man verkraften, dass man einen Mann erschossen hat? Einen abgetrennten Kopf gefunden hat? Zu spät kam?
»Schreiben tut gut, um Dinge loszuwerden«, sagt Volker Uhl, Kriminalhauptkommissar aus der Nähe von Freiburg, der die »Polizeipoeten« gegründet hat. Der Tod kommt häufig in den Geschichten vor. »Die Kollegen sind immer dann sehr betroffen, wenn ihr Privatleben berührt wird«, sagt Uhl. Väter berichten über Kinder, die ihre Eltern verloren haben. Junge Beamte über Ermordete in ihrem Alter. Enkel über erfrorene Greise.
Helen Behns Polizeialltag nähert sich oft ihrem Privatleben an. Sie arbeitet bei einer Polizeiinspektion in Niedersachsen im Streifendienst und ist im selben Landkreis aufgewachsen. Während ihrer Schichten kommt sie viel herum, die Streifenpolizisten sind immer die Ersten vor Ort – sie müssen herausfinden, was los ist. Erst studierte Helen Behn ein paar Semester Geologie, doch an der Universität fühlte sie sich verloren, also ging sie zur Polizei. »In der Ausbildung wird man auf einiges nicht vorbereitet«, sagt sie: wie man etwa eine Wasserschildkröte von einer Straße trägt, ohne dass sie zubeißt. Dass die Menschen oft nur reden wollen, wenn sie wegen einer Ruhestörung die Polizei rufen. Wie man den Tod verkraftet.
Am Anfang ihres Berufslebens war sie nervös. »Zum Funkhörer greifen, Namen buchstabieren, und alle hören mit.« Schnell kam die Routine. »Die Situationen sind meist gleich, es ändern sich nur die Menschen«, sagt Helen Behn. Aber genau die sind es, die ihr im Gedächtnis bleiben. Ihre Sätze, Gesten, Blicke. Also hebt Helen Behn Zeitungsartikel über die Schicksale auf, mit denen sie konfrontiert wurde. Und sie schreibt über den Mann, der fast im Wartehäuschen einer Bushaltestelle starb, über den Jungen, dessen Vater seine Mutter erstach. Die Frau mit Downsyndrom in der Straßenbahn, über die sich alle lustig machten. Oder über den ersten Menschen, der in ihren Armen starb.
Manche Geschichten notiert sie direkt am Tag danach, in ihr Notizbuch, auf Zeitungsseiten, auf Zettel, in den Computer, manche erst Jahre später – kein Problem, die Bilder bleiben frisch. »Ich werde bis an mein Lebensende wissen, wie der Junge neben seinem Fahrrad lag.«
Sie könnte doch auch zu einem Polizeipsychologen gehen, mit ihm darüber sprechen? »Ich mache die Dinge gerne mit mir alleine aus«, sagt Helen Behn. Und selten frage sie einer der Kollegen: Kommst du damit klar?
Kommentare
Ein Gedicht für Helen
Ich falle nicht aus Gottes Hand.
Ich halte mich. Ich bleibe fest.
Wann immer mich das Leben fand
Und würgte mich. Ein Rest
In mir blieb ungerührt.
Verführt
Vom Leben lebe ich
Und wirft‘s mich:
Ich erhebe mich.
Eva Strittmatter (*1930 in Neuruppin)
Erzählen
Das kann ich gut verstehen! Vielleicht geht es allen so, vielleicht ist es in manchen Berufen schwieriger als in anderen. Meine Schwester ruft mich manchmal an, wenn sie auf den Helicopter wartet, der die Organe gerade Verstorbener abholen soll, sie versucht zu beten und kann nicht, weil ihr so grau um die Seele ist. Sie sagt: "Red mit mir!"
Reden kann ich mit ihr, ihren Beruf könnte ich nicht ausüben. Ich wollte nie einen Job, der mit Blut, sterbenden Kindern und Leichenteilen zu tun hat. Ich wollte einen schönen, intellektuellen Beruf. So hab ich mir das vorgestellt. Ich bin Juristin. Und studiere jetzt mit noch 40 Psychologie. Weil sich mit den Jahren im Beruf verdichtet, dass der eigentliche Fokus im Beruf nicht das Fachwissen, die Fertigkeiten oder das Geschick sind.
Ich finde es großartig, dass Sie das worum es eigentlich geht, aufschreiben, und vielleicht andere daran teilhaben können.
Chapeau!
Hut ab für die Polizeipoetin! Ich arbeite seit über zwanzig Jahren im Sozialbereich und versuche Arbeit und Freizeit streng zu trennen. Vor Ersthelfern wie Polizei-, Feuerwehr- und Rettungsmenschen hab ich grössten Respekt. Im beruflichen Kontext schätze ich Teambesprechungen und halte Supervisionen für absolut wichtig zur Erhaltung der Psychohygiene. Um persönliche Betr-offen-heiten zu verarbeiten weiss ich aber um die reinigende Wirkung von Malen, Tanzen, Schreiben, Reden- einfach Ausdrücken, was Eindrücke hinterlässt. Diese Buch werde ich mir sicher kaufen. Liebe Grüsse an die Autorin-