Ulrich Weitz war gerade in Alaska, als er den Zaun zum ersten Mal richtig wahrnahm. Aus der amerikanischen Presse erfuhr er, dass ganz Stuttgart seit Wochen kopfstand. Im Internet stieß er dann auf ein Bild des über und über mit Protestnoten behängten Bauzauns am Bahnhof und dachte gleich: "Ein Kunstobjekt!"
Ein paar Monate später steht Weitz, Kunsthistoriker und Reiseunternehmer, am Nordausgang des inzwischen wohl berühmtesten Bahnhofs Europas. Hinter seinem Rücken erhebt sich der gewaltige Torbogen der Eingangshalle, deren eine Flanke kürzlich schon amputiert wurde. Vor ihm warten etwa 20 Menschen, die trotz des Nieselregens gekommen sind, um sich von dem schmalen Mann mit dem grauen Haarkranz Stuttgarts neueste Sehenswürdigkeit erklären zu lassen: "144 Meter", sagt Weitz, "da können Sie wochenlang staunen."
Der Bauzaun wurde Anfang August errichtet, um den Abriss des nördlichen Bahnhofsflügels zu sichern. Schon in der ersten Nacht pinnten Bürger Zornesäußerungen ans Gitter. Heute versammelt sich hier die ganze Bandbreite des Protestes der Stuttgarter gegen den unterirdischen Durchgangsbahnhof, dem der alte Kopfbahnhof und ein erheblicher Teil der innerstädtischen Parkanlagen zum Opfer fallen sollen. Auf ein Lebkuchenherz hat jemand mit Zuckerguss die Parole der Neubaugegner gepinselt: "Oben bleiben!" Andere haben Gedichte oder Spottverse verfasst, Bilder und Karikaturen gemalt, Collagen geklebt. Manches hat der Regen längst aufgeweicht, vieles ist in der Dämmerung nur schemenhaft zu erkennen.
Ulrich Weitz richtet seine Taschenlampe auf eine nackte Schöne am Zaun. "Die Reproduktion eines wiederentdeckten Jugendstilplakates, das für die Mineralquellen warb. Die Dame mahnt, diese Quellen nicht durch die Tunnelbohrungen zu gefährden." Ein anderes Exponat zeigt Ministerpräsident Stefan Mappus als König mit Birnengesicht. Für diese Zeichnung habe der französische Maler Honoré Daumier Pate gestanden, erklärt Weitz. "1835 hat er Seine Majestät, den ungeliebten Louis-Philippe, als Birne karikiert."
Kunstreisen, die Agentur, die Ulrich Weitz zusammen mit seiner Frau Sybille leitet, ist spezialisiert darauf, Reisenden Kunst im Kontext ihrer Entstehung zu zeigen. Weitz begleitet Reisegruppen durch den Garten von Giverny, der Claude Monet zu seinen besten Bildern inspirierte, er folgt August Macke und Paul Klee bis nach Tunesien, führt durch die Corbusier-Villen am Genfer See. Die Idee, in seiner Heimatstadt Bauzaunführungen anzubieten, kam Weitz gleich nach seiner Rückkehr aus den Sommerferien. Gesellschaftlich engagierte Kunst war schon während seiner Zeit als Student der Stuttgarter Kunstakademie seine Leidenschaft, Beuys, Warhol, Alfred Hrdlicka hat er verehrt. Und ist der Zaun nicht der Inbegriff von Beuys’ Idee der sozialen Plastik? Der Idee, dass jeder Mensch durch kreatives Handeln zum Wohl der Allgemeinheit beitragen kann?
Auch Dan Perjovschi, der berühmte Künstler aus Bukarest, soll den Bauzaun besichtigt und den Stuttgartern geraten haben, ihn bald ins Museum zu bringen. In Rumänien habe man zu viele Zeugnisse der Wendezeit verloren, weil man ihren Wert zu spät erkannte. "Ist das nicht verrückt?", ruft Ulrich Weitz in die Gruppe, die sich im Laufe der letzten Stunde fast verdoppelt hat. Radlerinnen in Pelerinen haben sich dazugesellt, einige Mädchen mit Geigenkästen. Außerdem vier Japaner, die geschäftlich unterwegs sind "to Daimler" und sich unterwegs noch anschauen wollen, was los ist in diesem Stuttgart.
Selbst die schwäbische Diaspora aus Berlin kehrt öfter heim als sonst
Böse Zungen sprechen von Revolutionstourismus. Aber das ist wohl ein bisschen dick aufgetragen. Gingen die Stuttgarter früher mit ihren Gästen in den zoologisch-botanischen Garten der Wilhelmina, so zeigen sie ihnen nun den berühmten Bauzaun. Reisende lassen einen Zug aus, um sich umzugucken. Die schwäbische Diaspora aus Berlin kommt öfter nach Hause als sonst. Amerikaner, die durch einen Artikel in der New York Times neugierig geworden sind, machen bei ihrem Deutschlandbesuch ein paar Stunden Station.
Kommentare
Bahnhof wird nicht abgerissen!
Es ist falsch im Text dargestellt, dass der Bonatzbau, der Bahnhof, agerissen wird. Dieser wird Bestandteil des neuen Durchgangsbahnhofssein den Stuttgart ab 2020 in Betrieb hat.
Dieser wird zwar erstmal Einschnitte während des Baus bewirken, aber danach wird ein ganzes neues Stadtviertel entstehen, der Park für alle Menschen erweitert und eine schnelle, pendelfähige Verbindung nach Ulm hergestellt!
Des Weiteren ist es Lächerlich nur über die "Kunst" am Bauzaun und im Schloßpark zu bericht!
1. Gibt es am Bauzaun auch eine Menge provokante, rassistische, sexistische, verläumende und "unter jeder Gürtellinie" Plakate!
2. Ist der Schloßpark eine einzige Müllhalde geworden! Überall Müll, offenes Feuer, Zeltstädte, Dixiklos. Fürchterliche Zustände sind das in einem Park der nicht mehr erholsam ist, obwohl erst in 18 Monaten dort mit dem Bauen hätten beginnen werden sollen!
Bahnhof ist amputiert
Der Bonatzbau wird nicht in seiner Gesamtheit erhalten bleiben. Der Nordflügel wurde schon abgerissen (wohlgemerkt, ohnn dass es zum Zeitpunkt des Abrisses eine Notwendigkeit dafür gab, diese wäre erst in 1-2 Jahren eingetreten. Es war somit eine reine Machtdemonstration in der naiven Hoffnung die Menschen würden entmutigt nach Hause gehen). Der Südflügel ist schon geräumt und soll auch abgerissen werden.
Ach ja, das schnöde Märchen der Parkerweiterung - was nützt mir im Kessel ein neu angelegter Parkteil, der mehrere km entfernt vom Stadtzentrum liegt? Mal kurz im Alltag in den nahen Park gehen, um unter 200 Jahre alten Platanen innezuhalten und frische Luft zu geniessen ist was den jetzigen alten Schlossgarten ausmacht.
Die Kunst am Bauzaun zeugt von der Kreativität und Phantasie der BürgerInnen. Der Bauzaun ist einzigartig - ein wahres Zeugnis der Zeitgeschichte. Ich kann nur empfehlen dass jeder selbst hingeht und sich ein Bild von dem Zaun und dem Park macht.
S21 aus der Sicht eines Frankfurters
Ich glaube, es wird Zeit, dass ich mir das alles nun auch einmal selber anschaue - auch wenn ich den Protest vor allem in dieser Form für falsch halte (nicht dass ich S21 voller Inbrunst befürworten würde, mir als Frankfurter ist das eigentlich Wurscht und den Bahnhof finde ich potthässlich).
Und doch bin ich nach Lektüre dieses Artikels neugierig geworden auf eine wohl etwas andere Art des Protestes - eine schwäbische eben.
Stuttgart hat eine neue Touristenattraktion, ein Wochenende in Stuttgart steht an.
Ach ja, zu all denen, die den frankfurter Bahnhof als gelungenes Beispiel eines funktionierenden Kopfbahnhofs anführen: Völliger Quark. Züge poltern mit ohrenbetäubenden Getöse über uralte Mainbrücken, fahren mitten durch Sachsenhausen und rauben den Menschen dort den Schlaf - was bitte ist daran "gelungen"?
Und die völlig dämliche Idee von Norden zuerst zum Flughafen im Süden zu fahren um dann anschließend mit der S-Bahn zurück nach Norden in die Stadt...
Ach übrigens, die S-Bahn wurde bereits vor Jahren mit großen Aufwand komplett unter die Erde verlegt.
Zum Glück ist wenigstens der Güterbahnhof bereits verschwunden (da wohne ich übrigens).
Die Stuttgarter sollten sich nicht so anstellen.
Bitte diskutieren Sie in Kommentaren das Artikelthema - hier geht es um die kreativen Auswüchse des S21 Protest. Danke, die Redaktion/fk.
Die Demos gegen Stuttgart 21 haben für das Image der Stadt
Stuttgart im Sinne einer augeweckten und lebendigen Stadt mehr getan als je Fremdenverkehrsämter und Politiker auf Messen usw. werbetechnisch tun können!
Denn in erster Linie ist man FÜR etwas,
für eine maßvolle, kultivierte und demokratische Stadtplanung und Stadtbebauung.
Das kommt eben weltweit an! alle Politiker weltweit reiben sich aber die Augen, weil diese in der Regel naive Träume im Kopf haben. Meist sind es ja Juristen,, die mit
Planungs-,Bau- und Kulturprozessen völlig überfordert sind, denn sie wurden dafür in keiner Weise ausgebildet.
Das schreibt Ihnen ein studierter Landschaftsplaner, der - u.a. von Geschichtsprozessen ausgehend - über Planung nachdenkt.
Annäherung an ein Problem musealer Dokumentation
Die heutige Schlichtung zu Stuttgart 21 verriet, dass sich Konservatoren schon ans zeitgeschichtliche Bauzaunkunstwerk gemacht haben. Anlass zur Freude für alle Jahreskartenbesitzer im Stuttgarter Raum.Dem History- und Kunstfreund erspart dies, zwecks Rezeption Geschichte schon im Entstehen erleben zu müssen.
Auffallend ist die schwindende aber noch existente Zeitlücke zwischen erlebter Gegenwart und ihrer konsumierbaren Fixierung. Die könnte idealerweise gegen Null gehen. Und ein anderes Entscheidendes fehlt. Weiterhin konservieren wir nur unbelebte Zeugen eines Ereignisses. Erleben wird so noch immer nur indirekt dokumentiert.
Dieses hic-et-nunc Problem ist auf der Ebene von Bild und Ton durch „Bild- und Tonträger“ seit langem gelöst. Gesucht wird die zeitbeständige Fixierung des Lebens, ein handhabbarer
„Erlebensträger“. Berlin zeigt eine Näherungslösung: die innermuseale Laufsteghaltung von Rentieren. Ensprechend stände Stuttgart für einen Satz Juchtenkäfer auf höhenreduziertem Parkbaum samt Kleingruppe bürgerlicher K21-Befürworter vor Bauzaun. Doch auch da mangelt es an hinreichender Fixierung. Schon nach drei Tagen ließe sich bei männlichen Exemplaren verfälschender Bartwuchs feststellen. Keine befriedigende Lösung.
Hier mein Vorschlag. Warum nicht versuchsweise einen funktionsfähigen Wasserwerfer ankaufen und von Wasser auf liquiden und hochreaktiven Mehrkomponentenkunstoff umbauen. Erleben ließe sich so im Augenblick Null fixieren und dauerhaft verarbeitbar machen.