DIE ZEIT: Es wird viel über Islamophobie und Antisemitismus diskutiert. Gibt es tatsächlich Parallelen zwischen dem Judenhass von einst und der Hetze gegen Muslime heute?
Saul Friedländer: Das bezweifle ich. Zwischen beiden Phänomenen bestehen so grundlegende Unterschiede, dass ein historischer Vergleich nicht sonderlich hilfreich ist. Antijudaismus und Antisemitismus sind jetzt zweitausend Jahre alt. Deren unselige Tradition ist etwas anderes als die momentan tatsächlich wachsenden Vorurteile im Westen gegen den Islam. Und man kann lange darüber streiten, ob es den clash of civilizations, den Samuel Huntington vorhergesagt hat, tatsächlich gibt und ob er heute zwischen dem Westen und dem Islam passiert – einen clash of civilizations zwischen Juden und Christen gab und gibt es jedenfalls nicht.
ZEIT: Ihr Kollege Wolfgang Benz hat – zuletzt im Gespräch mit der ZEIT – auf das öffentliche Reden über Muslime seit den Anschlägen vom 11. September 2001 hingewiesen. "Abermals wird eine religiöse Gruppe mit bestimmten Eigenschaften belegt, die aus Glaube und Kultur abgeleitet werden." Hat er damit nicht recht?
Friedländer: Ich schätze Benz und seine Arbeit sehr. Er hat recht, wenn er jetzt auf die Gefahren unsinniger und beschämender Vorurteile hinweist, die schnell über bestimmte Bevölkerungsgruppen entstehen, heute traurigerweise über die Muslime – und das in vielen Teilen der westlichen Welt. Doch solche Sorge beschreibt nicht den grundlegenden historischen Unterschied. Juden waren und sind eine verstreute Minderheit, während der Islam heute weltweit über eine Milliarde Gläubige zählt. Das Osmanische Reich war seit dem späten Mittelalter eine expansionistische Großmacht. Die Türken standen zweimal vor Wien. Die Angst vor ihnen hatte durchaus reale Grundlagen.
ZEIT: Die Juden hingegen waren stets machtlos.
Friedländer: Sie wurden zum inneren Feind erklärt, obwohl sie seit Jahrhunderten als kleine Gruppe in den christlich geprägten Mehrheitsgesellschaften lebten und viele sich durchaus so schnell wie möglich assimilieren wollten. Die Geschichte des Islams im Westen ist da einfach zu jung, um solche Vergleiche anzustellen. Ich hoffe jedenfalls, dass der Islamophobie eine kürzere Geschichte beschieden ist als dem Antisemitismus.
ZEIT: Wenn Sie zurückschauen auf die weltweite Erforschung von Nationalsozialismus und Holocaust in den letzten Jahrzehnten: Hat Sie, aufs Ganze gesehen, etwas überrascht dabei?
Friedländer: Überrascht hat mich sicher die Intensität der Forschung, die so in den sechziger Jahren noch nicht abzusehen war. Diese Welle wird allerdings abnehmen, tut es womöglich bereits; das ist der Lauf der Dinge. Große Überraschungen mit revolutionären Erkenntnissen gibt es nicht mehr – aber einen enormen Kenntniszuwachs über die Abläufe, seit Raul Hilberg 1961 sein Pionierwerk Die Vernichtung der europäischen Juden schrieb.
ZEIT: Für Hilberg war der Holocaust noch vor allem die Geschichte der deutschen Ermordungsmaschinerie.
Friedländer: In der Tat. Und ich hatte schon damals das Gefühl, das reicht nicht aus, eine Geschichte der Shoah müsste mehr erzählen. Die Juden kamen ja meist nur als Opferzahlen vor. Ich wollte den Ermordeten ihre Stimme zurückgeben.
ZEIT: Was Sie in Ihrem zweibändigen Opus magnum Das Dritte Reich und die Juden schließlich getan haben.
Friedländer: Das war für mich das wichtigste Motiv. Wenn Sie die Tagebücher und Briefe der Opfer lesen, erkennen Sie deren Individualität, ihre Hoffnungen und Empfindungen. Das sind eben keine Schafe auf dem Weg zur Schlachtbank, sondern ganz unterschiedliche Menschen. Daher wurden diese Zeugnisse zum Kern meiner Darstellung. Die Stimmen der Opfer kamen in meine Erzählung hinein, sie wurden fast zu meiner Stimme. Ich war bewegt von den kleinsten Details dieser Leben.
Kommentare
Vielen Dank
für dieses gelungene, interessante Interview. Nachdem das genannte Werk "Das Dritte Reich und die Juden" nun bereits seit einigen Wochen in meinem Bücherregal steht, werde ich es nun zur Hand nehmen und lesen. Leider nur die gekürzte Taschenbuchversion... so ist das eben mit Geschenken.
Nicht nur Ermüdung sondern auch Umkehr?
Nachdem sich nach und nach die Zahl der Zeitzeugen reduziert und in letzter Zeit immer mehr Debatten mit Argumenten aus dem Dritten Reich gespickt werden, ist leider nicht nur damit zu rechnen, dass die "Ermüdung" bezüglich dieser Thematik immer weiter zunimmt, sondern sich Desinteresse in Anerkennung rassistischer Propaganda wandelt...
Entschuldigung...
...aber solch eine Formulierung macht uns im Kampf gegen Rechts unnötig angreifbar:
"Die Juden hingegen waren stets machtlos."
Ich meine, natürlich gab es keine zionistische Weltverschwörung etc., das ist alles Blödsinn. Aber Macht hat nicht nur der der eine Armee hat. Die Juden haben durchaus einiges geleistet und waren und sind sehr erfolgreich, und demzufolge verfügen sie auch über Macht. Greenspan, Kissinger, Albright, Bernanke, etc.
Leistung ungleich Macht
>>...aber solch eine Formulierung macht uns im Kampf gegen Rechts unnötig angreifbar:
"Die Juden hingegen waren stets machtlos."
...
Die Juden haben durchaus einiges geleistet und waren und sind sehr erfolgreich, und demzufolge verfügen sie auch über Macht.<<
Leistung ist nicht Macht. Geleistet haben auch die teilweise millionenstarken Sklavenheere der totalitären Regime teilweise Erstaunliches, wenngleich nicht eben freiwillig.
Macht indes kann man ihnen nicht gerade zuschreiben.
Bei der Macht, die Friedländer meint, ist die gemeint, etwas mit brachialer Gewalt gegen die Mehrheitsgesellschaft durchzusetzen, und die hatten die Juden nie. Weit weniger als - hier lebende - Muslime heute, wie man schon daran erkennen kann, dass Ausstellungen aus Angst vor dem Zorn von Muslimen nicht eröffnet oder inhaltlich verändert werden.
Ich möchte übrigens klarstellen, dass ich ganz gewiss NICHT "islamophob" bin. Ich bin allerdings bekennend fundamentalistophob, und zwar egal, ob mir christlicher oder muslimischer Fundamentalismus unterkommt.
zur Ermüdung
ich bin schon in einer Generation aufgewachsen, in der der Besuch des KZ Dachau während der Mittelstufe zum Pflichttermin gehörte. Ich fand das damals nicht wirklich gruselig. Aber als ich die Kerkerräume gesehen habe, da habe ich eine Vorstellung von der Grausamkeit bekommen.
Damals hatte ich noch nicht genug von dem Thema.
Problematisch wird der Umgang mit dem Holocaust dann, wenn Wichtigtuer aller Art meinen, damit ihre Umwelt terrorisieren zu müssen. Wenn man Meinungen nicht mehr äußern darf, weil sie angeblich die Juden verhöhnen. Und damit meine ich keine Juden, sondern so verschrobene Linksradikale der Sorte "Antideutsch". Die machen das Thema unangenehm.
Und solche Vorgänge sind gerade dann nicht hilfreich, wenn es um das Thema Integration geht. Beispiel "Deutschlernzwang". Da haben sich viele Parteien und deren Mitglieder lange dagegen gewehrt. Obwohl es kontraproduktiv für Integration ist. Andere Parteien wollten überhaupt keine Integration. Noch schlimmer. Erste bringen dann gerne Meinungen der Sorte: Zwangsassimilierung, Gleichschaltung...
Also die sogenannte "Nazikeule". Dann fängt das Thema an zu nerven.
Das tut mir besonders für die Menschen leid, die sich ernsthaft mit dem Thema auseinander setzen.
Ich setze mich als (VERZEIHUNG) Kind "arischer" Abstammung recht oft mit dem Thema auseinander und würde es gerne sehen, wenn die Hetzkampagnen gegen z.B. Muslime, ähnlich der antijüdischen Propaganda, sehr kritisch betrachtet würden.