Was ist los in London? Eine Nachricht auf Twitter beschreibt es so: »Die Jugend im Nahen Osten erhebt sich für ihre Grundrechte. Die Jugend in London erhebt sich für einen 42-Zoll-Plasma-Fernsehbildschirm.«
Man sieht in diesen Tagen viele schreckliche Bilder aus der Millionenstadt: Fotos von ausgebrannten Autos, Videos von Jugendlichen in Kapuzenpullis, die Steine werfen und Geschäfte plündern. Das schlimmste Video aber zeigt weder Gewalt noch Feuer.
Ein Junge liegt auf dem Boden und blutet. Mehrere junge Männer gehen auf ihn zu und helfen ihm auf die Beine. Der Junge ist erst misstrauisch, lässt sich dann aber humpelnd von den Fremden führen. Nachdem sie ein paar Schritte gegangen sind, greift einer in den Rucksack des Jungen. Er zieht einen Gegenstand heraus, man kann nicht erkennen, was. Der Junge ist zu schwach, um sich zu wehren, die Diebe schlendern davon.
Der Clip ist 75 Sekunden lang. Das reicht, um zu sehen, dass den Plünderern von London alles scheißegal ist. Es geht ihnen nicht um Mark Duggan, der vergangene Woche von einem Polizisten in Tottenham erschossen wurde: Sein Gedenken haben sie geschändet. Sie rebellieren auch nicht im Namen jener ärmeren, schwarzen Community, deren Stadtviertel sie abfackeln. Was sie zertrümmern, ist ihre eigene Community und ihr eigenes Leben.
Man will diese Leute am liebsten packen, ihnen die Kapuzen herunterziehen und rufen: Was fällt euch ein?! Wieso seid ihr so wütend? Wieso seid ihr so hoffnungslos? Man müsste dabei die eigene Wut gegen sie unterdrücken: Jugend ist auch ein Versprechen, aber dieses Versprechen haben die Plünderer von London weggeworfen.
Denn eigentlich ist es sehr schön, jung zu sein. Man hat wenig zu verlieren und viel zu gewinnen: ein ganzes Leben. Man sieht, was schlecht ist an der Gegenwart, und will, dass es besser wird in Zukunft. Die meisten jungen Leute wollen die Welt nicht in Brand setzen, sondern sie verändern. Einige haben sie sogar verbessert.
Seit Anfang des Jahres erheben sich überall die Jungen. In Tunesien und Ägypten haben sie zwei Diktatoren gestürzt. In Griechenland und Spanien haben sie vor den Regierungsgebäuden gezeltet. In Israel überraschen sie die Regierung mit ihren Massendemonstrationen für niedrigere Mieten. Sie wollen aufbrechen, was verkrustet ist. Sie fordern ihr Versprechen ein.
Kommentare
Sichtweisen...
http://www.freitag.de/pol...
Gier wird vorgelebt
Gier wird nachgemacht. Die Jugendlichen nehmen sich jetzt, was Ihnen seit Jahren ständig per Marketing an allen Ecken unter die Nase gerieben wird, wofür aber die legalen Möglichkeiten fehlen (gute Ausbildung, guter Job, genug Geld-->Iphone+Flatscreen). Die Randale ist schlicht und ergreifend die (oder eine) logische Konsequenz des Systems, was seit 20 Jahren besteht.
Die jugendlichen haben wahrscheinlich keine Ahnung von Politik
aber sie sind nicht so doof nicht zu merken, dass ihre Lebensbedingungen und Chancen im Vergleich zu anderen Menschen in ihrem Land schlecht sind und und zu verlieren haben sie auch nichts, denn sie haben ja ansonsten keine sinnstiftende Perspektive.
Wen es überrascht, wenn junge Männer unter diesen Bedingungen Krawall machen, der sollte ganz dringend sein Weltbild überprüfen. Soziale Sicherung, sinnstiftende Beschäftigung und ein gewisses Maß an Gerechtigkeit sind kein Luxus, sondern Voraussetzung einer Gesellschaftform, die wirklich effizient darin ist menschliche Bedürfnisse zu befriedigen.
Ahnung von Politik?
Die braucht man auch nicht um zu brandschatzen und zu rauben. Mit naiver Sozialromantik werden Sie nichts ändern! Hier sind außer dem Rechtsstaat die Solidarität und Entschlossenheit der örtlichen Community gefragt - wegen der Opfer und deren Schutz!!
Einzelfall
Anhand des bekannt gewordenen Videos eine ganze Gruppe zu verurteilen scheint mir sehr tendenziös. Solche Szenen gibt es bei jedem gewalttätigen Aufstand - nur sehen nun Millionen youtube-user zu, wie sich ein verletzter Junge ausrauben lässt.
Die Gründe der Gewalt bleiben trotz der Duggan-Polemik im Dunkeln. Die Menschen in London haben gleich viel Grund ihren Unmut kundzutun, wie die Leute in Ägypten - es geht nicht um Flachbildfernseher oder ähnliche Luxusprobleme, das System ist in den europäischen Staaten genauso korrumpiert, nur werden die Schattenseiten besser versteckt.
Die politische Ebene sollte nicht so einfach unter den Tisch fallen gelassen werden.
Macht der Bilder, Interpretationen, Deutungshoheit...
Ich gebe Ihnen völlig Recht, dass dieses Video sehr problematisch ist.
Ich kann mir kein Urteil über die Lage in England erlauben, aber ich finde es allgemein immer wieder sehr krass und verstörend, wie heftig Bilder und Videos wirken und auch, wie wenig sich viele Menschen darüber im Klaren zu sein scheinen.
Es sieht an dieser Stelle auf den ersten Blick vielleicht etwas unpassend aus das Buch "Wir amüsieren uns zu Tode" von Neil Postman zu empfehlen, aber das sieht meiner Meinung nach wirklich nur so aus und ist tatsächlich angebracht. Denn in dem Buch wird in meinen Augen unter anderem gut dargestellt, wie Nachrichtenverbreitung übers Fernsehen bzw. allgemein eben über Bilder und nicht vor allem über Worte wirkt und wie gefährlich diese Art der Verbreitung sein kann.
Ich will jetzt noch kurz sagen, dass ich zwar, letztlich unbegründet, an die Authentizität dieses Videos glaube. Wenn es in England aber tatsächlich um etwas ganz anderes geht als um "Plasma-Fernsehbildschirme", dann ist es mit Videos wie dem oben einfach möglich einer nicht gerade kritischen Öffentlichkeit das Gegenteil doch glaubhaft zu machen, ganz egal, was wirklich abläuft, auch wenn das dort Gezeigte im Vergleich zum gesamten Geschehen nur einen lächerlich kleinen Teil ausmachen sollte.
Jugendprotest war Norwegen
Entfernt. Bitte verzichten Sie auf pauschale Darstellungen. Danke. Die Redaktion/wg
verzogene Halbstarke
@uwilein "...gelangweilte, verzogene kleine Halbstarke demonstrieren Macht, Neid und "Haben wollen".
Genau, sie orientieren sich an den großen Halbstarken, die es ja auch nicht besser machen. Bloß hat die Gesellschaft irgendwie eine Sehstörung. Wenn Jungmänner mit Krawatte an der Börse mit Lebensmittelpreisen spekulieren, was andernorts Menschen in Hungersnöte treibt, oder schwarze Konten anlegen, um sich die Extrayacht zu finanzieren oder Rohstoffe plündern und ganze Völker ausrotten, gelten sie eben nicht als verzogen, sondern sind geachtete Mitglieder der Gesellschaft. Mit "haben wollen" hat das nichts zu tun, gelle? Die Alten haben schon immer den Jungen das vorgeworfen, was sie selbst an sich nicht wahrhaben wollten. Ich finde, die Jugendlichen sind gute Schüler, ihnen fehlt halt noch die Schläue und Eleganz der alten Hasen... Und natürlich gehört es sich nicht, vor der eigenen Haustür zu plündern, schwerer Fehler.