Weit liegen die siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zurück, da der Kapitalismus allgemein nur als "Schweinesystem" bezeichnet wurde, tatsächlich aber, im Westen wenigstens, ein weitgehend menschliches Antlitz trug und gegen seine Kritiker leicht verteidigt werden konnte. Er versprach Wohlstand für alle und schien diese Hoffnung, sehr im Gegensatz zum Sozialismus, sogar einlösen zu können. Er sorgte sich um Bildung, sozialen Aufstieg, die wirtschaftliche Teilhabe aller, er war in Betrieben wie in der Gesellschaft dringlich interessiert, Gründe für Klassenhass und Klassenkampf zu beseitigen. Man könnte auch sagen: Er war bereit, sich zähmen zu lassen, um alle Menschen für sein Wachsen und Gedeihen zu gewinnen – oder doch von der sozialistischen Versuchung abzuhalten. Vielleicht waren die Unternehmer willens, auf einen Teil ihrer Profite zu verzichten, um die Akzeptanz des "Systems" und damit sein langfristiges Überleben zu sichern.
Aber wie auch immer man das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, Politik und Wirtschaft damals einschätzen will – die Bereitschaft des Kapitals, Akzeptanzkosten zu tragen, ist verschwunden. Im Gegenteil: Für die Rettung der Banken, von denen die Finanzkrisen der letzten Jahre verursacht wurden, musste der Steuerzahler aufkommen. Er zahlt auch heute nicht nur, um überschuldete Staaten zu retten, sondern um die Gewinne der Spekulanten zu sichern, die auf den Bankrott dieser Staaten wetten. Das wird im Übrigen nicht einmal beklagt. Ein Heilsversprechen dichtet niemand mehr dem Kapitalismus an. Der Markt, so heißt es inzwischen, sei nun einmal dazu da, die Überlebenskräfte von Staaten, Firmen, Menschen zu testen und die Starken von der Last der Schwachen zu befreien.
Das ist der Kern der Lehre, die allgemein, aber vielleicht zu Unrecht, neoliberal genannt wird. In jedem Fall hat sie nur noch schwache Ähnlichkeit mit dem klassischen Liberalismus, der die Freiheit des Individuums nicht nur als Freiheit des stärksten Marktteilnehmers sah, alle Übrigen ins Elend zu stürzen. Einen gewissen, manchmal vagen Nutzen für das Gemeinwohl erwartete auch der Liberale von der Marktkonkurrenz. Er war vielleicht ein Träumer – in seiner Hoffnung auf eine magische Macht der Märkte, alles zum Guten zu wenden –, aber ein Zyniker war er nicht. Das änderte sich, als in der Bankenkrise plötzlich nach dem Staat gerufen werden musste, den der Liberale bisher immer als Störenfried draußen halten wollte. Der Eindruck war so überwältigend, dass der Markt nicht mehr dem Allgemeinwohl, sondern das Allgemeinwohl dem Markt zu dienen hatte, dass die Lobredner des Kapitals augenblicklich ihre letzten menschenfreundlichen Versprechungen fallen ließen.
Das hieß jedoch nicht, dass den Regierungen auch nur irgendeine der dringend notwendigen Regulierungen der Märkte gestattet wurde. Vielmehr galt der Markt nunmehr als Naturgesetz, das als solches allen menschlichen Wünschen nach Glück oder Moral entzogen ist. Der Markt wurde zur Schicksalsmacht, und alles Klagen offenbarte nur die Untüchtigkeit der Klagenden, die sich auf ihm nicht zu behaupten vermögen. Von der Fortschrittshoffnung der Liberalen blieb nichts als ein Darwinismus, der sich am survival of the fittest freut und die Aussonderung schwacher Schuldner, schwacher Staaten, schwacher Arbeitnehmer feiert.
Kommentare
Gehirnwäsche?
Das Problem ist nicht die marktliberale Gehirnwäsche - wir haben eher zu wenig Markt. Der Staat will alles regeln: von Handytarifen bis hin zu den Beiträgen zur Krankenversicherung. Leider ist der Staat am Ende überfordert und er kann seine Kernaufgaben nicht mehr erfüllen: Schulen verfallen - aber ein Stadtschloss wird gebaut.
Der Markt ist doch schon überall !
Mehr Markt geht doch gar nicht: Alle Lebensbereiche vom Kinder kriegen, über Erziehung/ Bildung bis hin zur Altenpflege ist doch schon nach Kriterien des Marktes durchdrungen worden und auf seine Nützlichkeit hin bewertet.
Mehr markt geht nicht!
Was die Neo-Feudalisten meinen, wenn sie sagen, "mehr Markt" ist "weniger Gesetze" und meinen damit das Recht auf Ausbeutung des Schwächeren ...
Zweifelos richtig !
und,was schlussfolgern Sie daraus?
Wir steuern in eine Katastrophe-unweigerlich.Die Bürger werden sich auf Dauer diese Abkassierei nicht mehr bieten lassen.
Die Finanzjongleure machen was sie wollen-
Politiker sind unfähig einzuschreiten-
Der steuerzahler-Otto-Normalverdiener-muß für alle Finanzganoven den Gürtel eng schnallen und mit steuergeldern bürgen,
Die Verursacher werden nicht strafrechtlich belangt-sondern kassieren noch horrende Abfindungen -lachen sich ins Fäustchen und Leben in Saus und braus.Der doofe Steuerzahler zahlt.
Und dann wird dem bürger auch noch versucht klarzumachen-das man nur dadurch(mit Steuerzahlungen)eine Katastrophe verhindert hat.
Armselige Aussichten.
Zweifellos richtig ist auch etwas anderes
> Die Bürger werden sich auf Dauer diese Abkassierei nicht mehr bieten lassen. <
Und was machen die Bürger dann? Geht hier jemand auf die Straße? Wohl eher nicht.
Und ändert der Bürger durch Wahlen wirklich etwas? Wohl eher nicht.
Schauen Sie mal die Wahlprognosen an ...
http://www.wahlrecht.de/u...
Was hat sich außer bei den Grünen wirklich geändert? Ist jemand bereit (außer vielleicht in Berlin die Piraten 5%) eine neue Partei zu wählen? Wohl eher nicht.
Mecklenburg-Vorpommern - CDU/CSU - 28%, SPD 35%, Grüne 8%, FDP 4%, Linke 16,5%
Berlin - CDU/CSU 21%, SPD 32%, Grüne 19%, FDP 4%, Linke 11%, Piraten 5%
Bitter
Der Artikel stößt einem bitter auf, aber er ist gut geschrieben und deckt sich leider mit meiner Auffasung der momentanen Realität. Immer weniger wichtig ist die Demokratie, und die Politiker und 'Wirtschaftsweisen' geben es immer unverhohlener zu, dass die Bürger mit ihren Interessen ihnen eher lästig sind und im Wege stehen. Man lese z.B. die zynischen Meinungen einger dieser Leute in der ZEIT im Ressort 'Wissen' zum Thema Logistik.
Alle scheinen tatsächlich der Meinung zu sein, dass das auch noch gut so ist. Nicht einmal die Betroffenen (Betrogenen?) sehen es anscheinend anders. Denn sonst wären die Demonstranten ja nicht 'beängstigend unpolitisch'. Die Bürger sollen für die Wirtschaft, für das Wirtschaftssystem da sein?! Ich dagegen vertrete eher die Meinung, dass es umgekehrt sein sollte. Dann würde nicht mit Menschen verfahren werden, wie es der Politik und Wirtschaft gerade passt (Leute einstellen, Leute entlassen, Leute umschulen, Leute versetzen etc.), denn dann stünde der Mensch im Mittelpunkt und das System wäre dazu da, ihm das Leben zu ermöglichen und angenehm zu machen. Und wenn das System diese Anforderung nicht erfüllt, sollte man es eben ändern.
Betrogenen !!!
Ganz richtig.
Denn jeder Arbeitslose ist ja ein im Grunde Betrogener.
Betrogen um einen auskömmlichen Beruf zum Beispiel.Zum Nichtstun verdammt und sich dafür auch noch öffentlich an den Pranger stellen lassen müssen.
Menschenverachtend ist das System.Natürlich wesentlich subtiler als andere totalitäre Gesellschaftsformen aber letztenendes eben gleichgültig vor dem Individuum.
Die Frage wird sein,wie es weitergehen soll?
Demokratie ja,Kapitalismus nein?
Plutokratie
Ich würde sagen das wir nicht auf dem Weg dorthin sind, sondern schon lange angekommen.
Der Schweinekapitalismus
Besser kann man das nicht ausdrücken!
Und die Herren Gadafi und Assad oder die Familie Saud - alle willige und willkommene Helfer von George W. Bush in Zeiten seiner Präsidentschaft - zeigen zur Zeit, wie die von den "Akteuren am Markt" gekaufte Politik zu reagieren gedenkt, wenn es wirklich zu massiven Aufständen kommt. Wir können jetzt schon sicher sein: im Zweifel wird die NATO nicht auf der Seite der Bevölkerung in ihren Mitgliedsländern stehen.