Das erste, was auffällt an Los Angeles, ist seine Schäbigkeit: Die winzigen, windschiefen Häuser sehen aus wie Datschen, die Farbe der Reklametafeln ist verblichen, Stromkabel hängen wie Urwaldlianen über den Dächern, auf den Straßen zeichnen Risse Muster in den Asphalt. Die Schlaglöcher auf dem Wilshire Boulevard sind so tief, dass man bei der Fahrt ständig Angst vor einem Achsenbruch hat. Es wirkt, als treibe das große, lange angekündigte Erdbeben seit Jahren sein Spiel mit der Stadt und sende mit kleinen Stößen Botschaften, die Furchen in Häusern und Straßen hinterlassen. Der brüchige Untergrund ist ein Sinnbild für die momentane Stimmung in dieser Stadt, in diesem Land.
Los Angeles ist ein Ort, von dem jeder eine Vorstellung hat, und immer ist es eine angenehme. Wir haben L.A. in Hunderten Filmen gesehen. Surfer, Skater, Schauspieler – wir glauben die kalifornische Lebenskultur gut zu kennen. Unser Bild von L.A. ist von Hollywood geprägt: Sonne, Stars, Schönheit. Die westliche Welt hat L.A. als Ziel ihrer Sehnsüchte auserwählt. Die Stadt der Hoffnung, die Ruhm und Unsterblichkeit verleihen kann. Vielleicht ist es die amerikanischste aller Städte, weil hier der Amerikanische Traum am intensivsten erstrebt wird. Und jeder hat das Gefühl, er kann mitreden, wenn es um L.A. geht, auch wenn er nie dort gewesen ist. Los Angeles ist die bekannte Unbekannte. Auch ich habe diese Vorstellungen von Luxus und Glamour verinnerlicht und bin mit meinem Mann und meiner Tochter gekommen, um sieben Monate in L.A., in den USA, zu leben, zu schreiben, zu arbeiten.
Am ersten Tag in L.A. regnet es, und zwar so heftig, dass Bäche den Hügel vor unserer Wohnung in Silver Lake hinunterlaufen. Bäume kippen um, Häuser rutschen von den Bergen. Es ist die erste Ahnung, was die Natur hier vermag, eine Demonstration ihrer Macht. Unsere Nachbarn könnten das Ergebnis eines Castings für eine TV-Serie sein: ein junger Schauspieler aus Italien, der auf seinen Durchbruch wartet und seine Brusthaare abrasiert hat, ein Schwarzer, der in Vietnam gekämpft hat, ein älterer Herr, den die anderen seit Jahren nicht mehr gesehen haben. Er sei sehr schüchtern, heißt es. Die einzigen Spuren seiner Existenz sind die Pflanzen auf der Terrasse, die er wahrscheinlich nachts pflegt.
Unten am Haus hängt ein Schild, das anzeigt, dass wir auf einer Chemiehalde leben, für eventuelle gesundheitliche Schäden, die das verursachen könnte, übernimmt der Vermieter keine Haftung. Unsere Nachbarn scheint das nicht zu stören. Wer in einer Stadt lebt, die jeden Tag vernichtet werden könnte durch Erdbeben, Feuersbrunst oder Dürre, die eigene Vergänglichkeit stets vor Augen, schenkt solchen Nebensachen vielleicht keine Beachtung. Noch ist es nur ein vages Gefühl, in den nächsten Monaten wird es zur Gewissheit: In Los Angeles geht es um den Augenblick. Vergangenheit und Zukunft sind Kategorien, um die sich andere sorgen sollen.
Unser Viertel Silver Lake ist eine Mischung aus den Berliner Bezirken Prenzlauer Berg und Kreuzberg, aus Alternativem und schon Etabliertem. In jedem Häuschen sitzt einer, der ein Drehbuch schreibt oder es noch vorhat. Es sind übernächtigte, schwarz gekleidete Gestalten, Leggings sind in Mode für Männer und Frauen. Hier sehe ich auch das erste Mal die Armee der homeless , der Obdachlosen, die Herren der Straßen von L.A. Fortwährend in Bewegung, schieben sie ihre Einkaufswagen die Hügel hinauf und hinunter. Sie hoffen, dass wir den Eingang zur Garage offen lassen, damit sie unsere Mülltonnen nach Brauchbarem durchforsten können.
Warum sind wir hier? Herr Schindler ist schuld, mein Geografielehrer an der Dr. Richard Sorge-Schule im Ost-Berlin der achtziger Jahre. In der neunten Klasse nahmen wir die USA durch, wir sahen Karten an, auf denen Bodenschätze verzeichnet waren, und dann zeigte Herr Schindler uns Dias von New York. Ich konnte meinen Blick nicht von den Hochhäusern lösen. Ich weiß nicht, ob Herr Schindler vorhatte, uns abzuschrecken und uns Wolkenkratzer als krasse Symbole des Imperialismus vorzuführen. Ich glaube eher, er empfand ähnlich wie ich. Mir stiegen Tränen in die Augen, mein Magen fühlte sich hohl an, der Tag war gelaufen. Ich hatte mich in den Klassenfeind verliebt.
Leider wurde die Liebe erst einmal nicht erhört. New York und die USA lagen auf der falschen Seite der Welt, in dem Teil, der für mich verboten war, in den ich vielleicht als Rentnerin reisen könnte. Und ich wurde aus der Ferne eine naive und völlig ahnungslose Verehrerin der amerikanischen Kultur: der Sesamstraße , von Filmen wie Beat Street und Fame , Büchern wie Franny und Zooey und Tom Sawyer , von Madonna und Michael Jackson. Das Land erschien mir locker, entspannt, cool. Das Gegenteil von meinem Alltag.
Meine erste große Reise nach dem Mauerfall machte ich 1991 nach New York. Ich war gerade 18. Meine Mutter war nicht begeistert, und ich durfte noch nicht einmal legal Alkohol trinken. Ich wohnte allein auf der Upper West Side in einer Wohnung von Freunden und ging, auch allein, auf ein Konzert im Central Park. New York war der Inbegriff der neuen Welt, der neuen Freiheit, meines neuen Lebens. Ich war im Rausch.
Kommentare
Zeit Magazin
Im Zeit Magazin wurde als Titelbild für diese Story (Seite 12) ein Bild ausgwählt, dass bewusst aus dieser Sicht fotografiert wurde. Es zeigt ein ein marodes ebenerdiges Haus, in dem ein Wahrsager sein Geschäft hat. Im Hintergrund ragen Hochhäuser aus dem Boden großer Unternehmen, wie Ernst& Young und AON. Dieser Kontrast wird durch die beschädigten Bürgersteige und die marode Straße untermalt. Wer sich aber in der Gegen auskennt, der weiß, dass sich Downtown LA gerade in einem Wandlungsprozess befindet. Genau gegenüber des "Wahrsager-Hauses" befindet sich ein neueröffnetes Kino der "Regal Cinema Group". Um es kurz zu fassen, befindet sich direkt gegenüber nicht nur das Kino, sondern ein 2,5 Milliarden Dollar Projekt, genannt L.A. Live. Unter anderem gehört dazu das Staples Center (Heimat der Lakers und Clippers;fasst ca. 19.000 Zuschauer), das Nokia Theatre (ca. 7.200 Plätze), ein Museum, sowie zwei Hotels der Luxusklasse (Ritz Carlton, JW Marriott). Alles befindet sich nur einige Meter von dem Standort des Fotografen. Daher finde ich, dass die Darstellung bewusst gewählt wurde um den Leser zu täuschen, sowie den Artikel in seinen groben Zügen zu unterstützen.
LA, LA Live und die USA
LA Live ist eines der typischen, amerikanischen Gentrifizierungsprojekte gewesen: ein von Gangs und Kriminalität unbewohnbar gemachtes Viertel wird durch den Bau eines Vergnügungsparks (sehr gerne: Sportarena - siehe auch das Home Depot Center in Compton) hip und künstlich attraktiv. Teure Restaurants siedeln sich an und die Kriminalität, Obdachlose und Abhängige werden in Vororte verdrängt.
Ich habe zwei Jahre in Downtown LA gewohnt, habe das Ende der Hoffnungen auf einen kommenden Hype um das Viertel, den Bankrott von Bauträgern, die mit der Umwandlung von Lagerhallen und leeren Bürotürmen in Luxusappartements versuchten, reich zu werden und die bis zu meinem Wegzug vor wenigen Monaten stetig wachsende Zahl an Obdachlosen und Hilflosen erlebt. Ich kenne auch andere weite Teile der USA - es stimmt, LA ist nicht die Quintessenz und die Summe unter den USA. Aber es ist die -zwar von vielen Amerikaner gehasstes- Krönung des Amerikanischen Traumes. Hier wurde der Mythos um die amerikanische Schönheit und den Reichtum begründet und die ständige Erreichbarkeit derselben gepredigt. Dass ausgerechnet hier dieser Traum so deutlich von einer völlig anderen Realität eingeholt wird, ist für den Zustand der Nation bezeichnend.
Hm...
Es mag sein, daß der Fotograf/die Autorin durch "passendes" Bildmaterial die ihr vorgekommenen Zustände entsprechend unterstreichen wollte, doch der eigentlich Tenor zielt auf die Sorgen und Nöte Amerikas (Food, Water, Homeless, Debts, pretended Freedom, etc.). Ich finde den Bericht sehr gelungen, authentisch und verstörend. Eine handvoll Milliardäre machen bestes Marketing für ein Land bzw. ein großartiges Lebensgefühl, daß es in der Form offensichtlich lange nicht mehr gibt.
Deja Vu
"..für ein Land bzw. ein großartiges Lebensgefühl, daß es in der Form offensichtlich lange nicht mehr gibt." so schreibt Akvarium. Ich würde eher sagen noch nie gab. Denn genauso habe ich L.A. vor mehr als 25 Jahren erfahren.
Schmerzhaft authentisch
Der Artikel ist von geradezu schmerzhafter Authentizität. Die zahlreichen Vorurteile über den vermeintlichen Sehnsuchtsort L.A. werden bis ins Absurde bestätigt. Dieses Land ist moralisch und ethisch längst verkommen, der Hass und die Anmaßung zur moralischen Keule gegenüber allen Andersdenkenden trägt jetzt bittere Früchte. Man mag es nicht glauben, was man da liest und es ist wahrscheinlich nur ein schmaler Ausschnitt aus einer viel niederschmetternden Wirklichkeit.
Keulen
"Anmaßung zur moralischen Keule gegenüber allen Andersdenkenden"
Sie meinen sicherlich die Invasion der Normandie, nicht wahr? Da hatten die USA ja auch die moralische Keule gegen die "andersdenkenden" Nazis geschwungen. Oder in Vietnam, als sie nicht akzeptierten, dass die Kommunisten Millionen Flüchtlinge aus ihren Gebieten verjagten. Oder in Irak, als die USA sich anmaßten, zu entscheiden, dass Saddam Husseins genozidales Regime nicht von innen zerfallen würde sondern nur von außen zu stürzen sei. Oder in Afghanistan, als man es tatsächlich für besser hielt, dass Mädchen zur Schule gehen und keine Säure ins Gesicht geschüttet bekommen. So moralisch überheblich darf man heute wirklich nicht sein, das hätte man ja aus der Geschichte lernen können. Gerade die Amerikaner und wir als Deutsche und vor allem die Israelis. Wir Deutsche haben gelernt, dass es besser und profitabler ist, Genoziden zuzusehen - das ist moralisch nicht so verkommen und dekadent.
Das Märchenland
"Die Vereinigten Staaten waren immer der Sehnsuchtsort unserer Autorin. "
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Medien - in welcher Form auch immer - erzeugen Bilder in den Köpfen der Menschen. Die seit vielen Jahrzehnten der Lebensrealität nicht standhalten.
Dennoch haben die Medien niemals aufgegeben, Märchenbücher über die USA zu verteilen.
Urlaubsreisende fahren im Eiltemp durch die USA und besichtigen nur spektakuläre Orte, welche mit dem wirklichen Teil der USA wenig zu tun haben.
Wer "Songs" von Kalifornien hört und dann selbst in den USA ist, der wundert sich, was an den USA so toll sein soll.
Je nach Jahreszeit fährt man in Kalifornien durch verdorrte Landschaften und ausgetrocknete Flussbette. Selbst in den heißesten Sommern ist das in Deutschland nicht so schlimm.
Wenn man zB in LA durch die Städte fährt (Verwandte von mir wohnen in LA) so ist das im Vergleich zu Deutschland oft einfach nur trostlos.
Urlauber fahren in die Parks - Grand Canyon, Sequoia und viele viele andere. Was für ein tolles Land. Aber diese Landschaften haben nicht wirklich etwas mit dem realen Leben in den USA zu tun.
Was die Medien vermitteln sind unwirkliche Bilder zB vom Grand Canyon ua.
Im Prinzip ist das Leben vielerorts in den USA so, wie wir es in den alten Westernstädten in Westernfilmen gesehen haben.
Hat sich schon mal jemand überlegt, wie hoch der Dreck in den Westernstädten war und wie die Cowboys sicher gestunken haben, die sich wochenlang nicht waschen konnten?
Illusionen. Tagträume. Fantasien.