Der Takt von Torte, Braten und Mintplättchen ist vorgegeben. Auf die Kartoffelsuppe folgt der Kräuterschnaps, auf Erdnussflips das Bier. Bei meinen Großeltern in Sachsen sind die Essensgänge meist strenger arrangiert als das Protokoll eines Staatsempfangs. Schert jemand aus, führt das zu Gezeter. Und so üppig wir essen, so spärlich reden wir. Übers Wetter, die Nachbarn, Familienfeiern. Es ist fast so, als würden politische Themen bei den Mahlzeiten mitverschluckt.
Die Gespräche darüber fehlen mir sehr. Denn selten gehen die Ansichten über Gesellschaftsfragen so weit auseinander wie zwischen den Alten und meiner Generation. Zur Wende war ich ein Kleinkind, kurz darauf gehörte ich zum ersten Jahrgang, der nicht mehr das blaue Tuch der Jungpioniere umgebunden bekam. Meine Großmutter war beim Mauerfall Ende vierzig. Ihr halbes Leben hatte sie in der DDR verbracht. Sie fehlte bei den Montagsdemonstrationen im nahen Leipzig . Wie sie lebten alle in ihrer Stadt von der Nationalen Volksarmee. Während ich für mich Lego entdeckte, wurde meine Oma arbeitslos.
Zündstoff für Diskussionen gäbe es in meiner Familie zuhauf. In den Achtzigern galt mein Vater als Gefahr für den Staat – und die Familie. Er verweigerte den Wehrdienst, trat in die Kirche ein und organisierte Proteste. Traf mein Vater sich mit Freunden, war das Ministerium für Staatssicherheit unterrichtet: durch Nachbarn, Freunde – und zuletzt durch die eigene Mutter. Diese fühlte, dass sie die Kontrolle über ihren Sohn verlor. Brachten Eltern ihre Kinder nicht auf Linie, zog die Stasi bald die politische Loyalität der ganzen Familie in Zweifel. Als mein Vater wegen eines Aufrufs zu einer Demonstration 1986 verhört wurde, schrieb meine Großmutter einen Brief an die Stasi. Damals wurde sie zur Zuträgerin einer Behörde, die rund 175.000 inoffizielle Mitarbeiter zählte.
Auf dem Weg zu meinen Großeltern fährt man vorbei an eingefallenen Chemiefabriken und Häusern im immer gleichen, blassen Gelb, das das immer gleiche Grau der DDR abgelöst hat. Meine Großeltern wohnen in ihrer Kleinstadt nördlich von Leipzig in einem Plattenbau mit gespannten Wäscheleinen im Innenhof. Seit vierzig Jahren. Nur einmal sind sie umgezogen, vier Platten weiter und zwei Stockwerke tiefer – der Knie wegen.
Zweifel am real existierenden Sozialismus?
Nach 1989 stellte mein Vater Anträge und blätterte sich durch die Akten, durch sein Leben in der DDR. Er erfuhr, wer die Stasi unterrichtet hatte. Nur durch Glück war er einer Verhaftung entkommen, die Legende war schon gesponnen. Geheimnisverrat. Darüber wurde lange geschwiegen. Sie habe ihn vor Dummheiten schützen wollen, sagte meine Oma einmal im Stillen zu meinem Vater. Dummheiten: Das waren aus heutiger Sicht banalste Dinge wie Reisen und Reden.
Als meine Großmutter so alt war wie ich jetzt, zog sie drei Kinder groß. Wie hat es sich angefühlt, in der DDR zu leben? Hatte sie Zweifel am real existierenden Sozialismus? Und sind die alten Ideale, von heute aus gesehen, Spinnereien oder Ideale geblieben? Antworten auf Fragen wie diese würde ich mehr genießen als das nächste Stück Selbstgebackenes. Spreche ich meine Großmutter auf ihr Leben in der DDR an, erfahre ich nicht viel. Es wird einsilbig, als ob sie es selbst noch nicht verdaut hat.
Manchmal kommt es bei Tisch aber doch zu kleinen Debatten. Die Tagesschau lässt sie aufblitzen oder ein Bericht aus der Lokalpresse. Einmal ging es um die Deutschrussen im Nachbarblock. Viele seien es geworden, so richtig sicher fühle man sich nicht mehr. Ziemlich schnell sind meine Großeltern bei einem Urteil angelangt. Vor 25 Jahren hätte die »deutsch-sowjetische Freundschaft« die Nachbarn vor übler Nachrede geschützt. Heute, scheint mir, sind meine Großeltern weniger solidarisch.
Dabei haben sich beide mit der neuen Zeit arrangiert. Beide bekommen eine ordentliche Rente, Opa sammelt Postkarten, und Oma zieht im Garten Pfingstrosen – so wie Rentner in der ganzen Republik. Glücklich sehe ich sie dennoch selten.
Kommentare
Kein Blick zurück
"Kein Blick zurück" Der könnte aber so hilfreich sein.
Warum wird auch in diesem Artikel versucht, die DDR darzustellen, als wäre sie nur "Stasi" Land gewesen.
Was die DDR auch war, hier mein Beispiel: Hervorragende kostenlose Ausbildung als Bergmann(Hauer)im Kupferschieferbergbau. Unterkunft, Verpflegung, Ausbildung, Betreuung erstklassig, sowohl in Praxis, wie auch Theorie. Danach Studium an der Bergakademie Freiberg, Abschluss mit Diplom. Auch alles kostenlos und erstklassig.
Gesicherter Arbeitsplatz in Forschung und Industrie, ausreichendes Einkommen, gute medizinische Versorgung.
Bereitstellung von Wohnraum noch im gleichen Jahr der Arbeitsaufnahme. Existenzangst in über 30 jähriger Tätigkeit nie kennengelernt.
Nein, das alles, ohne bereits Mitglied der FDJ oder SED zu sein.
Darüber, was es in der DDR alles nicht gab oder nicht regelmäßig gab, Bananen eingeschlossen, wurde und wird ja ausführlich berichtet, wenn auch oft nicht wahrheitsgemäß. Ich halte es für richtig, auch darauf hinzuweisen, was es in der DDR regelmäßig gab: gute Ausbildung oder regelmäßig nicht gab: Existenzangst und Altersarmut.
Die Hoffnung, dass eines Tages die Menschen ausgestorben sind, die die DDR auch so erlebt haben wie ich, ist natürlich richtig.
Dann können die "Historiker" die Geschichte der DDR so darstellen, wie es ihre Auftraggeber erwarten.
Die folgenden Generationen werden mit dieser Sicht der Geschichte leben müssen, was ja wohl auch der Sinn der ganzen "Darstellungen" sein soll.
@ Lehrhauer_38
"Ich halte es für richtig, auch darauf hinzuweisen, was es in der DDR regelmäßig gab: gute Ausbildung oder regelmäßig nicht gab: Existenzangst und Altersarmut."
----
Und ich halte es in diesem Zusammenhang auch für richtig, darauf hinzuweisen, dass es das in der ´alten´ BRD auch gab.
Nur die ´neue´ BRD kennt anderes, aber dafür sind wir ja nun gemeinsam verantwortlich, die Ossis und die Wessis.
Mütter, die ihre eigenen Kinder anschwärzen,
sind eine Tragödie... Gut möglich, dass es in Deutschland im 20. Jahrhundert insgesamt mehr zerrüttete, um gesellschaftlichen Konformismus bemühte Familien gegeben hat als anderswo, ein ausschliessliches DDR-Phänomen ist das aber sicher nicht
Bitte! keine "Aufbereitung".
...wir haben doch schon eine aufbereitete Religion, die wohl nur noch aus Fabelmythen besteht und uns zu blinden Fundamentalisten gegenüber jeglicher Realität und Objektivität macht.
Entfernt. Bitte achten Sie auf Ihre Wortwahl. Danke, die Redaktion/mk
Ich glaube,
dass ihre Großmutter sagen kann, was sie will. Ihr Urteil steht doch schon fest oder nicht?
Ich glaube ebenfalls,
daß Ihre Meinung doch schon vorher feststeht. Wer so mit seinen Großeltern umgeht, der braucht sich nicht zu wundern, daß der keine Antwort bekommt.
Vielleicht wollte die alte Damen Ihnen mit Selbstgebackenem einfach eine Freude machen, wie es eben früher zu DDR Zeiten üblich war, wenn die Kinder zu den Eltern oder Großeltern zu Besuch kamen.
Damals gab es noch so etwas wie Gemeinsinn und nicht diesen heute allenortes anzutreffenden Egoismus samt zugehöriger Besserwisserei.
Damals in der DDR gab es auch kein HartzIV samt staatlicher Repressionen der BA.