ZEIT ONLINE: Herr Thierse , eine Machtfrage. Nächste Woche besucht der Bundespräsident den Papst . Darf das Staatsoberhaupt vorm Oberhaupt der Katholiken das Knie beugen? Und sollte der protestantische Pastor Gauck den Papstring küssen?
Wolfgang Thierse: Ich selbst habe als Katholik weder vor dem Papst das Knie gebeugt noch seinen Ring geküsst. Warum sollte ausgerechnet Pastor Gauck es tun? Als Christ, auch als Katholik, beugt man sein Knie nur vor Gott, vor sonst niemandem!
ZEIT ONLINE: Wann haben Sie sich zuletzt über zu viel Religion in der Politik geärgert?
Thierse:(nach langer Pause) Ärgern ist das falsche Wort. Ich habe mich wieder gewundert, welch riesige Rolle religiöse Bekenntnisse im amerikanischen Wahlkampf spielen. Das ist bei uns in Europa nicht üblich. Man versteckt seine Religion bei uns nicht, aber trägt sie auch nicht demonstrativ vor sich her.
ZEIT ONLINE: Warum? Aus Angst, bei den Atheisten anzuecken?
Thierse: Kann sein. Das aufgeklärte Europa denkt, der Prozess der Moderne sei ein Prozess unausweichlicher Säkularisierung. Doch Europa ist die Ausnahme und nicht die Regel. Sowohl in Nord- und Südamerika wie in Afrika und Asien spielt Religion im öffentlichen Leben eine außerordentliche Rolle. Daran müssen sich die Europäer gewöhnen, Religion verliert nicht an Bedeutung. Sie führt keine bloße Restexistenz im privaten Raum.
ZEIT ONLINE: Freut Sie das?
Thierse: Ich staune darüber. Religion ist heute vitaler, als die Religionskritiker vorhergesehen haben.
ZEIT ONLINE: Und der weltweit erstarkende religiöse Fundamentalismus beunruhigt Sie nicht?
Thierse: Wenn Religion von Islamisten missbraucht wird zur Begründung von Gewalt – dann bin ich empört. Dagegen müssen sich alle Religionsgemeinschaften gemeinsam wehren. Es gibt aber nicht nur Fundamentalismus im Islam oder bei den Evangelikalen, es gibt auch eine Art atheistischen Fundamentalismus. Der gegenwärtige Streit über die Beschneidung bringt jedenfalls eine beträchtliche antireligiöse Militanz an den Tag.
ZEIT ONLINE: Militant sind die Beschneidungsgegner eigentlich nicht. Manche sind vielleicht ignorant.
Thierse: Es mehren sich aber die Stimmen derer, die aus dem weltanschaulich neutralen Staat einen parteiischen Staat der Religionslosen und der Laizisten machen wollen. Das halte ich für falsch. Da bin ich überempfindlich, denn das habe ich alles schon erlebt. In der DDR gab es keinen Religionsunterricht an den Schulen, keine Militärseelsorge, keine öffentlichen Bekenntnisse. Und siehe da, das Ding ging unter! Tatsache ist, Religionslosigkeit kann gefährlich sein. Denken Sie nur an die schlimmsten religionslosen Verbrecher des 20. Jahrhunderts: Stalin, Hitler, Mao Zedong , Pol Pot .
Kommentare
Neutraler Staat
Da hat Herr Thierse wohl etwas missverstanden. Die entscheidenden säkularen Bewegungen wollen zunächst einmal einen weltanschaulich neutralen Staat. Genau dort sind wir eben noch lange nicht...
Und dass die DDR untergegangen ist, weil es keinen Religionsunterricht gab, ist blanker Hohn ;-)
Von der "Religionslosigkeit" des dritten Reichs und anderer autoritärer Staaten wurde ja nun oft genug geschrieben.
Wünschenswerter Journalismus
Insbesondere das Nachhaken bzgl. des Religionsunterrichts ist lobenswert, bei dem Thierse ein -fundamentalistische?- Auffassung vertritt, die er als Represantant unserer Demokratie nicht kundtun dürfte - wonach aber immer wieder auch gehandelt wird.
Ist aus Schülersicht nicht der Religionsunterricht - im Gegensatz zu der trefflichen Alternative, die Herrn Thierse hier angeboten wurde - eine Art staatlich gefördertes Zwangsrekrutierungsprogramm für Religionsgemeinschaften?
Aufklärung sollte Indoktrinierung vorbeugen - dieses ist dann aber kein Religionsunterricht mehr im Sinne Thierses.
Demokratie ohne Religionsbackground geht nicht?
Ach Herr Thierse, das ist eine so altertümelnde Denke, das es der Rede schon gar nicht mehr wert ist.
Ein angeblich weltanschalich neutraler Staat, der mit den Kirchen vielfältig verknüpft ist und diverse Glaubensgemeinschaften begünstigt, auch über solche Schlagworte muss man nicht ernsthaft reden.
Sie haben den Artikel,
allem Anschein nach nicht gelesen oder nicht verstanden.
Religion und Demokratie vertragen sich nicht wirklich
Eine Demokratie kann auf Religion als Wertereservoir nicht verzichten.
Wertereservoir...welch schräges Wort. Ich hab zwar nichts gegen Thierse, aber ist dem Mann der Begriff der Ethik bekannt?
Meiner Meinung nach wird Religion (organisierte) in einer aufgeklärten Gesellschaft überflüssig. Eine Gesellschaft, die einen gewissen Wohlstand und einen hohen Bildungsstand erreicht hat, hat auch ein ethisches Bewusstsein. Und das auch völlig ohne Religion.
Ethik und Moral sind überhaupt nicht gebunden an Religion.
Oft laufen diese der Religion sogar zuwider.
Religion schadet der Demokratie! Weil sie Grenzen zieht zwischen Gesellschaftsgruppen, die auf keiner sachlichen Überlegung beruhen. In Religion wird man hineingeboren bzw. duch sein Umfeld integriert. Demokratie aber beruht darauf, sich seine Wahl nach sachlichen Überlegungen auszusuchen.
Da steht die Religion im Weg.
Aussagen wie "Ich wähle CDU weil ich Christ bin", sind der Beweis für meine Ansicht. Und dieser Spruch ist gerade beim älteren Teil unser Gesellschaft nicht selten.
So einfach, so schwer
Wissen Sie, eigentlich braucht es nicht viel, um folgende einfache Wahrheit zu begreifen:
Nähmen alle Menschen dieser Welt die von Jesus eingeforderte Nächstenliebe (oder gar Feindesliebe!) WIRKLICH ERNST, so könnten wir Kriege, Verfolgung, Vertreibung, Mord, Totschlag usw. endlich hinter uns lassen.
Doch die einfachsten Wahrheiten erweisen sich -wie so oft - als die schwersten.
Zumindest in der Umsetzung.
Entfernt. Bitte setzen Sie sich sachlich mit dem Inhalt des Artikels auseinander. Die Redaktion/mak