Einen Pferdefuß hat das Verbessern und Optimieren, das Reformieren oder sogar Revolutionieren der Gesellschaft, und zwar einen prinzipiell teuflischen: Je gerechter und vernünftiger sie wird, desto weniger hat der Einzelne das Recht, ihr zu trotzen. Sie gewinnt eine moralische Autorität, die eine ungerechte, ungereimte, unvernünftige Gesellschaft niemals beanspruchen könnte. In der schlechten Gesellschaft hat der Außenseiter das Recht auf seiner Seite – in der guten Gesellschaft nicht. Er ist bestenfalls ein Querulant, wenn nicht ein im Wortsinne asoziales Subjekt, das missbilligt, wenn nicht weggesperrt oder umerzogen werden muss. Der Sozialismus brauchte gar nicht die Diktatur der Einparteienherrschaft, um für Einzelgänger, Querköpfe oder auch nur empfindsame Träumer zum Albtraum zu werden, es reichte der Anspruch, das bessere, das schlechthin moralische Gesellschaftssystem zu sein. Wer in der guten Gesellschaft nicht mitmachen möchte, ist böse. Dieser Terreur lässt sich auch heute in jedem Kindergarten beobachten: Das ärgerlichste Kind ist jenes, das nicht in den Kreis der Singenden treten und alle lieb an der Hand fassen möchte. Es gibt nun einmal einen Grundkonflikt zwischen Individuum und Kollektiv, der sich in keiner denkbaren Gesellschaft auflösen lässt. Anpassung wird immer gefordert – und ist immer demütigend. Da ist es kein Trost, zu wissen, dass die Kindergärtnerinnen weise und gütig sind – im Gegenteil. In einer sichtbar ungerechten und verdorbenen Gesellschaft muss die Anpassung zwar immer noch geleistet werden, aber man muss sie nicht respektieren. Das Herz bliebt frei. Die Kinderhand, die sich in der Tasche zur Faust ballt, wird dereinst die Noten, die Literatur, die Formeln der Zukunft schreiben. Denn alles, was groß und herrlich ist am Menschen, formiert sich im Widerstand gegen die Mehrheit.
Jens Jessen
Kommentare
Es tröpfelt
Nun, dem Inhalt des kurzen Beitrages kann ich schnell zustimmen. Wo aber wird jetzt das öffentliche Gespräch hierüber angestoßen?
Beiträge, die über den Tellerrand hinausweisen und den Alternativlos-Merkelialismus durchbrechen, tauchen in der Publikumsresse von Zeit zu Zeit - im Krisen-Rhythmus - auf. Leider bleiben Sie immer kurz und folgenlos (eine der rühmlichen ausführlicheren Ausnahmen: Uchatius' "Wir könnten auch anders" http://www.zeit.de/2009/2... ).
Und wenn ein Frank Schirrmacher sich fragt, ob die Linke doch recht hat ( http://www.faz.net/-0229sx ), dann werden nicht die Inhalte seiner Analyse diskutiert. Sondern nur, dass so einer wie Schirrmacher das schreibt.
Es fehlt eine breite offene liberale Auseinandersetzung über große und kleine Alternativen zum Alternativlos. Das öffentliche gesellschaftliche Gespräch. Politiker werden Alternativen erst folgen, wenn eine genügende kritsche Masse öffentlich wahrnehmbar in diese Richtung denkt.
Bedauerlich.
p. s.: Ist der Titel der Kolumne "Weltverbesserer" eigentlich ironisch gemeint? Und warum steht sie im Ressort "Kultur"?
"Lässt sich die Gesellschaft wirklich nicht mehr verändern? "
Letztlich kann man gar nicht verhindern, daß sie sich verändert. Die Geschichte ist noch lange nicht vorbei, und gerade die junge Generation - die vor allem als Opfer der heutigen Gesellschaft (und der Politik der letzten 20 Jahre) angesehen werden kann - wird sicher nicht zulassen, daß der Status Quo lange beibehalten wird.
Außerdem muß man nur mal 10-15 Jahre zurückdenken und überlegen, wie sehr sich die Welt seitdem verändert hat, um zu sehen, daß gewaltige Veränderungen im Gange sind.
Ich bin begeistert...
ein überraschender, nahezu frech zu nennender Jessen-Beitrag: "Denn alles, was groß und herrlich ist am Menschen, formiert sich im Widerstand gegen die Mehrheit."
Trete ich deshalb so sehr in Resonanz, weil ich in der Schweiz lebe und Dänemark ein bisschen kenne? Jedenfalls sind Herrn Jessens Gedanken mehr als die "schöne Kleinigkeit" auf dem Abendbrottisch bei Frau von Thadden. Gefährlicher Sprengstoff quasi. Oder das Salz in der Demokratiesuppe.
TINA wird verwendet
von einer Untermenge von Menschen, die nicht bis drei zählen können; ja, es nicht einmal bis zwei schaffen