Sollen die anderen ruhig jammern und klagen, sollen sie ängstlich ihre Schuldenberge und Wachstumstäler beäugen – der Kunstwelt ist es einerlei. Denn ihr geht es gut. Nie gab es mehr Künstler und Ausstellungen, nie waren die Museen besser besucht. Und wenn im Sommer die großen Biennalen nach Venedig und Istanbul rufen, dann werden wieder alle da sein und fröhlich Ausschau halten: nach neuen Talenten, neuen Stilen, neuen Bildern. Allerdings, so viel ist absehbar, wird die Enttäuschung nicht ausbleiben. Das Neue ist eben auch nicht mehr, was es mal war. Es verflüchtigt sich, es will nicht mehr neu sein, es hat sich ausgeneut. Man möchte sagen: zum Glück!
Über viele Jahrzehnte, im Grunde seit dem Beginn der Moderne, strebten die meisten Künstler nach dem nie Gesehenen. Sie wollten die Geschichte hinter sich lassen, denn ihre Kunst sollte anders, sollte so einzigartig sein wie sie selbst. "Wir wollen von der Vergangenheit nichts wissen", schrieb 1909 der erhitzte Künstler Marinetti. "Leitet den Lauf der Kanäle ab, um die Museen zu überschwemmen!" In der Folge wurde Innovation zum höchsten Ziel. Ein Genie, wer das Neue gebar, voraussetzungslos nur dem eigenen Ich verpflichtet.
Doch damit scheint es nun vorbei zu sein. Wer sich aber an den Hochschulen umsieht, wer mit jüngeren Künstlern spricht, wer die Szenegalerien besucht, der bekommt die tiefe Zäsur rasch zu spüren. Die Werteordnung der Kunst hat sich verschoben, mehr noch, sie wird auf den Kopf gestellt. Was eben noch wichtig schien, hat ausgedient. Und was bis vor Kurzem verpönt war, wird nun gefeiert. Eine große Umkehrung, wenngleich eine stille.
Für die lauten Künstler der Avantgarde galt es noch als vornehmste Pflicht, sich bis zu den Ursprüngen vorzukämpfen, zu jener Quelle, die auf Lateinisch origo heißt und die in der Originalität bis heute fortlebt. Die leisen Künstler von heute interessieren sich hingegen nur wenig für Quellen, sie wollen auch nicht unbedingt kreativ sein, sondern verlegen sich auf das, was manche Rekreativität nennen. Eine Kunst mit großem R: Recycling und Reenactment, Reproduktion und Reprise, Remix, Ripping und Remake. Hat die Retrowelle nun auch die Kunstwelt erwischt? Keineswegs!
Nicht Nostalgie treibt die Künstler, sondern Neugier: Sie erkunden offenen Blicks die reichen Gefilde der Kunstgeschichte, durchstreifen ebenso die Alltagswelt der Bilder und Objekte – und präsentieren ihre Funde zumeist als Variationen des Bekannten. So wird bei Sven Drühl das Eismeer von Caspar David Friedrich zu einem kaltweißen Bild aus Neonröhren. Tatjana Doll hat sich Picassos endlos reproduziertes Guernica-Opus vorgenommen und malt es ab, mit vielen Tropfspuren. Eine andere Künstlerin spielt eine Performance von Marina Abramović nach. Der Nächste bringt die krauseligen Malspuren von Jackson Pollock als Zeichnung auf Papier. Auch das Werk von Warhol wird von Gavin Turk und anderen Künstlern wieder aufgelegt. Und so erscheint es als geradezu visionär, dass die Netzkünstlerin Cornelia Sollfrank bereits 1999 den "Net Art Generator" entwickeln ließ, ein Computerprogramm, das im Internet per Mausklick eigenständig die buntesten Amalgame aus lauter Internetbildern anfertigt. Die Theoretikerin Marjorie Perloff spricht in solchen Fällen vom "unoriginellen Genie".
Nun sind Collage und Pastiche lange schon Kunstgeschichte. Und natürlich ist es überhaupt nichts Neues, das Originalgenie des Künstlers zu zerpflücken. Ob Fake oder appropriation art – viele postmoderne Spielformen haben die alten Mythen abgeräumt und die Vorstellungen vom autonomen, authentischen Kunstwerk längst zerlöchert. Doch wenn etwa Elaine Sturtevant ihre Kollegen Beuys oder Lichtenstein derart akribisch nachahmte, dass kein Unterschied zwischen Original und Kopie zu erkennen ist, dann handelte es sich dabei doch immer noch um eine demonstrative, belehrende Geste. Sturtevant machte etwas Neues, indem sie auf alles Neue verzichtete.
Hingegen geht es den meisten Copy- und Collage-Künstlern von heute um etwas anderes. Sie belustigen sich nicht über die Bilder anderer, sie schmähen und fleddern sie nicht. Eher begegnen sie ihnen mit hungrigem Respekt. Deshalb ist es auch kein Zufall, dass derzeit Sammler und Kuratoren den Kunstbetrieb dominieren: Sie sind das Rollenmodell all jener Künstler, denen es um das Bewahren geht und die unverhoffte Zusammenhänge stiften. Ihre Kunst verstehen sie als eine Form der Aktualisierung. Was eben noch abgelegt, verstaubt und in kunsthistorischen Begriffen eingesperrt schien, bekommt ein heutiges Gesicht. Statt also die anderen Künstler, die alten wie die jungen, als Konkurrenten zu begreifen, sehen sie in ihnen eher Geschwister. Und es erscheint ihnen völlig selbstverständlich, dass sie die Kunst geschwisterlich teilen.
Geistiges Eigentum? Urheberrecht? Derlei halten viele längst für vergilbte Begriffe. Sie nehmen sich, was sie brauchen, und haben nichts dagegen, dass sich andere wiederum bei ihnen bedienen. Die Kunst, so scheint es, wird mehr denn je als ein kollektiver, unabgeschlossener Vorgang begriffen, der die Vergangenheit ebenso einbindet wie das, was heute an Bildern produziert wird. Cornelia Sollfrank spricht von einer "anderen Originalität" – und präsentiert sich als multiple Persönlichkeit, als ihr eigenes, vielköpfiges Künstlerkollektiv.
Kommentare
Endlich
Ich stimme dem 100% zu. Danke an ZO.
Sie nehmen sich, was sie brauchen
Neues entsteht aus der unerwarteten Verknüpfung von Bekanntem.
Leonardo zog frisches Quellwasser abgestandenem Wasser vor.
Doll wa?
schon mehrmals wird in der ZEIT die Doll erwähnt.
Gibt´s etwa was Neues?
Leo zog abgestandenem Wasser frisches vor
deshalb heisst der Bumms in der Kunsthalle Düsseldorf Amateursaloon
Na ja ...
Dass jeder ein Künstler ist, kann ich nicht unterschreiben, aber weit mehr Menschen werden schöpfend tätig, wenn auch eben in kleinerem Maße. Doch ein Künstler zeichnet sich durch mehr aus, vor allem künstlerische Fertigkeiten, oder eher Kenntnisse seines Kunsthandwerks. Dazu kommt noch die eigene Fertigkeit, kreativ zu denken, Ideen zu verknüpfen und etwas zu erschaffen. Ist nicht erschöpfend oder allgemeingültig, aber am ehesten meine Definition eines Künstlers.
'Stammbäume' von Künstlern sind keine Neuigkeit; Schiller verliebte sich in Klopstock und Shakespeare und es ist wahrscheinlich, dass deren Werke seine beeinflussten und seine widerum andere. Das ist ein alter Hut. Es ist schön, dass diese gegenseitige Beeinflussung wieder stärker wahrgenommen wird, jedoch halte ich Kopieren und Abmischen nicht gerade für einen idealen Weg. Eher zeigt es mir doch, dass die Künstler selbst orientierungslos geworden sind und nicht mehr nach vorne denken, stattdessen lieber nach hinten sehen. Das ist etwas, was ich nicht als positiv empfinde.
Ist aber nur meine Interpretation der Dinge. Ein Hoch auf diese Ausübung der Kunst; auf das Wiederentdecken alter Techniken. Quasi einer Renaissance. Aber über die Vergangenheitsschwelgerei sollte man nicht Gegenwart und Zukunft vergessen.
Jeder Mensch ist ein Künstler
Joseph Beuys ist das sicher nur mal in einem Interview rausgerutscht,denke ich.Sicher wurde er gefragt:Sie als Künstler,was sagen Sie dazu,oder so.J.B.zum Journalisten:Sie sind doch selbst Künstler *lach*und dann pathetisch: Jeder M... usw.
in der Nachfolge von Nietzsches Oh,Mensch usw.
und dann stand das in der Zeitung und war nicht mehr weg zu kriegen