Nach einem Urteil des Amtsgerichtes Berlin-Tiergarten darf die katholische Kirche "eine kinderfickende Sekte" genannt werden. Würde ich eine Richterin am Familiengericht als "stutenbissige Emanze" titulieren, ich hätte ganz schnell ihren Kollegen Strafrichter am Hals. Zu Recht.
Die unterschiedlichen Konsequenzen haben allerdings kaum damit zu tun, für welche dieser Schmähungen weniger Gründe beansprucht werden könnten. Sie hängen vielmehr damit zusammen, dass Kritik an Richtern ein Tabu ist. Richter beanspruchen "Unangreifbarkeit". Warum eigentlich? Selbst der angeblich unfehlbare Papst ist öffentlichen Angriffen ausgesetzt. Nichts und niemand ist vor Kritik geschützt. Nur Richter empfinden Angriffe als Zumutung, für die Strafen wegen Nötigung drohen. Rücktritt – das ist im Richtergewerbe ein völlig unbekanntes Wort, ja eine unerhörte Vorstellung.
Anklagen gegen Richter sind eine Rarität. Selbst als ein Oberlandesgericht sehenden Auges mit seinem Urteil gegen Recht und Gesetz verstieß und das Verfassungsgericht dies als eine "willkürliche Entscheidung" bezeichnete, passierte den Richtern nichts. Die vom Staatsanwalt beantragte Eröffnung eines Strafverfahrens wurde abgelehnt, weil bei drei beteiligten Richtern nicht geklärt werden konnte, ob sie alle die fragliche Entscheidung zu verantworten hatten. So entschieden durch dasselbe Oberlandesgericht, an dem die mutmaßliche Rechtsbeugung begangen worden war.
Hat irgendwer irgendwo danach auch nur einen Hauch von öffentlicher Verwunderung gespürt? Vergleichbares hätte in der Politik einen Orkan der Windstärke 11 ausgelöst.
Richter sind frei wie ein Vogel unter Gottes weitem Himmel. Sie sind nur ans Gesetz gebunden. Wenn sie es fehlerhaft auslegen, werden sie schlimmstenfalls von übergeordneten Instanzen zur Ordnung gerufen, was sie nicht weiter beunruhigen muss. Notfalls verweigern sie die Überprüfung ihrer Urteile, weil eine erneute Beweisaufnahme nach so langer Zeit "unzumutbar" sei, wie in Bayern mehrfach geschehen.
Es gibt keinen anderen Berufstätigen, der seine Arbeit so unabhängig organisieren und selbst bestimmen kann, wann, wo, wie und wie viel er arbeitet. Für dieses Richterprivileg gibt es gute Gründe; sie liegen in der Unabhängigkeit der dritten Gewalt, die zur Urausstattung der freiheitlichen Gewaltenteilung gehört. Diese Unabhängigkeit wird von niemandem infrage gestellt. Doch gehören zu dieser Unabhängigkeit auch die Freiheit von Kritik und der Verzicht auf Rechtfertigung? Bedeutet Unabhängigkeit auch Unangreifbarkeit?
Der ehemalige Präsident des Bundesgerichtshofes Günter Hirsch verstieg sich zu der Feststellung, dass es bei der gesetzesauslegenden Urteilsfindung nicht darum gehe, "was der Gesetzgeber – wer immer das sein mag – beim Erlass eines Gesetzes ›gedacht hat‹, sondern was er vernünftigerweise gedacht haben sollte". Der Richter ist also eine Gouvernante, die es besser weiß als das Parlament. Lässt sich die Selbstüberschätzung höher treiben? Auf diese Weise wird die Unabhängigkeit zu einer Ungebundenheit vom Recht, die Recht nicht auslegt, sondern schafft.
Gesetzgeber ohne Volk
Woran aber orientieren sich diese Gesetzgeber ohne Volk? Der klare Trend lautet: Das gesetzliche Recht weicht zurück zugunsten einer geschwätzigen Kompromissfindung. Einigung statt Urteil, Therapie statt Ordnung. Im Zivilprozess verdrängt der Vergleich das Urteil, denn ein Vergleich ist für den Richter bequemer; er erspart ihm die arbeitsintensive Urteilsfindung und -begründung und bewahrt ihn vor Revisionsverfahren. Vereinbarung statt rechtlicher Entscheidung dient aber nicht in jedem Fall der Gerechtigkeit. Ein Vergleich ist problematisch, wenn sich die Kontrahenten nicht auf Augenhöhe begegnen. Das Recht ist seinem Ursprung nach Schutz vor Übermacht. Kann von dieser Schutzfunktion noch die Rede sein, wenn der Richter, mal zart, mal grob, darauf hinweist, dass einem sperrigen Beklagten als Alternative ein Urteil mit saftigen Kosten droht?
Im Strafrecht hat der Deal, bisweilen schon vor Prozessbeginn ausgehandelt, für Richter und Anwälte die gleichen angenehmen Folgen wie der Vergleich im Zivilprozess. Es spart allen Seiten viel Zeit und Arbeit, wenn beispielsweise Josef Ackermann mit der Zahlung von drei Millionen Euro im Mannesmann-Prozess eine Vorstrafe wegen Bestechung abwehren kann.
Sicher, Strafrichter sollen und müssen schnell sein, damit sie nicht unter Prozesslawinen verschüttet werden. Angesichts des Personalmangels in der Justiz können sie sich oft nicht die notwendige Zeit nehmen. Mit dieser Art Rationalisierung aber wird auch Gerechtigkeit wegorganisiert.
Am weitesten fortgeschritten ist die Aufweichung des Rechts hin zum flexiblen Konfliktmanagement an den Familiengerichten. Wenn es um Scheidung oder Sorgerecht geht, wird gelogen, dass sich die Balken biegen. Den Richter interessiert das wenig. "Wir sind hier nicht im Strafgericht", ist eine oft gebrauchte richterliche Ausrede vor Familiengerichten. Selbst wenn Eid gegen Eid steht und nach den Gesetzen der Logik mindestens ein Meineid im Spiel ist, bleibt dies meist unaufgeklärt, weil offenbar die Wahrheit nicht interessiert. Das Pendel ist von der totalen Moralisierung der Scheidung ins andere Extrem umgeschlagen, in die moralfreie Zone. Dafür mag es auch Gründe in der Richterqualifikation geben. "Familienrichter haben eine hochgradig jämmerliche Ausbildung. Das Familienrecht spielt weder im Studium noch in der Referendarzeit eine große Rolle, geschweige denn, dass es eine spezielle Ausbildung oder verpflichtende Fortbildung für angehende Familienrichter gäbe", behauptete der Münsteraner Jurist Elmar Bergmann, und der muss es wissen, denn er war selbst fast 30 Jahre lang Familienrichter. Umso wichtiger, dass Richter wenigstens lernen, mit Kritik umzugehen.
Wohin eine berufsbedingte Überheblichkeit führen kann, demonstrierte unlängst Richter Manfred Götzl zu Beginn des Münchner NSU-Prozesses. Die Kritik an seinem dilettantischen Verfahren bei der Vergabe der Plätze für journalistische Beobachter konterte er mit der von Selbstmitleid triefenden Bemerkung, die Angriffe auf das Gericht seien "in der deutschen Geschichte ohne Beispiel". Richter Götzl gilt unter Kollegen als "brillant". Zu dieser Brillanz gehörte, dass er einen Gutachter, der während eines langen Vortrags einen Schluck Wasser zu sich nehmen wollte, anblaffte, er solle gefälligst eine Pause beantragen, wenn er Durst habe. Einen Staatsanwalt ließ er wegen eines flüchtigen Lesefehlers einen langen Vortrag wiederholen.
Kann es sein, dass solche Skurrilitäten mehr sind als nur Marotten? Dass sie symptomatisch sind für eine amtgemachte Überheblichkeit, die Richter vergessen lässt, dass sie ihre Urteile im Namen des Volkes fällen? Eine gewisse sprachliche Nähe zu ihrem Arbeitgeber, nämlich dem Volk, sollte dieses erwarten können, inklusive alltagsverträglicher Umgangsformen. Die Verwechslung von Unabhängigkeit mit Rechtfertigungsfreiheit befördert eine strukturelle Enthobenheit des Richteramtes. Diese Entrücktheit führt zum Gegenteil dessen, was mit den Richterprivilegien beabsichtigt war: Sie beschädigt nicht nur die Rechtspflege, sondern auch die Gewaltenteilung.
Kommentare
Entschiedener Widerspruch, Herr Blüm
Ja, all das gehört zur Unabhängigkeit der Richter, ob uns das im Einzelfall paßt oder nicht, und schließlich gibt es ja Revisionsinstanzen. Wenn Richter zum Beispiel mit Rausschmiss bedroht sein könnten, ist es schon mit der Unabhängigkeit vorbei.
Freibrief für Rechtsbeugung?
Ja, die Richterliche Unabhängigkeit ist ein hohes Gut in einem Rechtsstaat.
Aber muss und darf sie wirklich auch ein absoluter Freibrief für Rechtsbeugung sein?
Sind Richter wirklich so unfehlbar und unbegrenzt integer, dass schon der Verdacht, sie könnten *selbst* Dreck am Stecken haben, ein Sakrileg ist?
Ich verweise nur auf den "Fall Mollath", wo der beteiligte Richter eine höchst suspekte Rolle gespielt hat, aber wohl trotzdem damit durchkommen wird.
Arbeitsbelastung
Ein Grund für die eigene Abschottung der Richter von äußeren Umständen mag unter anderem an der inzwischen enormen Arbeitsbelastung liegen. Der durchschnittliche Zivilrichter hat rund 200 Akten auf dem Schreibtisch und auf der Fensterbank, Arbeitszeiten von 60 Stunden sind bei vielen Gerichten die Regel. Wie soll sich der Richter noch intensiv mit dem Sachverhalt auseinandersetzen, wenn er schon die nächste Sitzung vorbereiten muss?
Es greift alles ineinander über. Der Nachbar, der wegen jeder Kleinigkeit klagen muss, ebenso der Oberstudienrat, der jede Nacht Anzeige wegen Ruhestörung erstattet.
Richtig
Zitat: " Arbeitsbelastung
Ein Grund für die eigene Abschottung der Richter von äußeren Umständen mag unter anderem an der inzwischen enormen Arbeitsbelastung liegen. [...] Es greift alles ineinander über. Der Nachbar, der wegen jeder Kleinigkeit klagen muss, ebenso der Oberstudienrat, der jede Nacht Anzeige wegen Ruhestörung erstattet."
Richtig, und genau da schließt sich der Kreis wieder: Solange die Parlamente am laufenden Bande Gesetze erlassen und damit die Grundlage für allerlei gerichtliche Auseinandersetzungen schaffen, ohne aber gleichzeitig für eine bessere Budgetierung der Judikative zu sorgen, wird die von Blüm (zu Recht) bemängelte Oberflächlichkeit in der Rechtsfindung weiter zunehmen
Hallo Herr Blüm!
Was wollen Sie denn?
Etwa abhängige Richter?
Sollen Richter weisungsgebunden urteilen?
Ich versteh denn Sinn und Zweck Ihrer Rede nicht.
Wessen Rente sicher ist, der hat Zeit für so was!
Olle Kamellen
Das Aufzeigen von Missständen wird in Deutschland fälschlicherweise immer mit Besserwisserei gleich gesetzt. Herr Blüm zeigt hier Missstände auf. Es kann eben nicht sein, dass Richter quasi Narrenfrei sind. Und das sagt er auch. Sie fragen, ob er abhängige Richter möchte. Ich denke, dass er das will. Das schreibt er auch. Und zwar vom Gesetz und dem Volkswillen abhängig. Denn das, was er hier aufzeigt, bedeutet, dass sie sich nicht an diese Abhängigkeit halten.
Und dann kommen Sie mit einer Wahlkampagne aus 1986. Es ist schade, dass Politiker an dem gemessen werden, was sie vor Ewigkeiten gesagt haben, Stellen Sie sich vor, Ihre Aussagen aus diesem Jahr würden heute genutzt um Sie zu messen!
Kleine Geister missbrauchen i m m e r ihre Macht.
"Richter sind unabhängig. Aber sie neigen auch zur Überheblichkeit und Kritikunfähigkeit."
Es gibt nur einige Richter, die das Format und die Substanz haben n i c h t grössenwahnsinnig auf Grund der ihnen verliehenen Entscheidungsbefugnis zu werden. Macht wird immer für eigene Eitelkeiten und Bestätigung der eigenen Wichtigkeit missbraucht. Deshalb hat die Demokratie die Machtenteilung und die gegenseitig Kontrolle und Balance eingeführt, dass nie eine I n s t i t u t i o n alleine entscheidet. Das Richterwesen in Deutschland ist ademokratisch und ein Überbleibsel feudalistischer Zeiten, als der Richter der Stellvertreter des "Herrn" war, der wiederum von Gott gesalbt war. Er entscheidet (oder im Dreierbund) alleine. Beisitzend Laienrichter werden untergebügelt. Es ists unglaublich, dass eine fast unkontrollierte Machtausübung in einer Demokratie vorkommen kann. Die Revisionsinstanzen sind längst zu Durchwinkinstanzen verkommen. Dass die Justizministerin Leutheusser-Schnatterberger dieses seit 55 Jahren brennende Thema angeht* und in Ihrem Bereich für demokratische Strukturen, Gleichheit der Prozessebeteiligten und Einhalten des Grundsatzes der Würde des Menschen sorgt, ist nicht zu erwarten. Die gründet nur runde Tische zum Schnattern.
Wer über das Leben der anderen entscheidet, ist Gott. Und so treten die auf.
* Artikel 20 GG:
"(3) (..), die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden."
Völlig falsch
"Beisitzend Laienrichter werden untergebügelt".
Es kommt oft genug vor, dass Laienrichter den Berufsrichter überstimmen.
"ademokratisch"
Zum Glück. Ein Blick über den Teich, wo die Richter und Staatsanwälte gewählt werden, vermittelt ein gutes Bild, warum es so nicht sein sollte. Ein Richter hat in der stillen Kammer mithilfe des Gesetzes den Fall zu lösen. Eine Abhängigkeit von Wahlstimmen bedeutet automatisch eine Befangenheit dahingehend, den Angeklagten möglichst hart zu bestrafen - schließlich ist das ja popular. Unschuld hin oder her.
"Die Revisionsinstanzen sind längst zu Durchwinkinstanzen verkommen"
Gibt es für diese Aussage irgendwelche Belege oder ist das nur mal wieder ins Blaue geschossen?