Eine türkische Version des Textes finden Sie auf Seite 2.
Es sind gerade einmal zwei Monate vergangen, seit EU-Kommissionspräsident Manuel Barroso vor den Särgen der ertrunkenen Flüchtlinge auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa stand, ehrlich verzweifelt und hilflos in dieser Leichenhalle. Barroso sagte, er werde diese Särge sein Lebtag nicht vergessen.
Nun ist die Realpolitik wieder zurückgekehrt nach Brüssel, jetzt gibt es andere Bilder. Sie zeigen drei lächelnde Politiker: die EU-Kommissare Cecilia Malmström, zuständig für Innenpolitik, und Štefan Füle, zuständig für Erweiterung, mit dem türkischen Außenminister Ahmet Davutoğlu in ihrer Mitte. Sie haben sich gerade geeinigt: Die Türken nehmen die Flüchtlinge zurück, die über ihr Land in die EU kommen (die meisten nehmen diese Route) – und die Europäer lockern dafür die Visumspflicht für Türken. Die EU will damit ihre offene Flanke im Osten schließen. Der Deal: Die Türken sollen es leichter haben, es dafür aber anderen schwerer machen.
Das Abkommen mit der Türkei ist ein weiterer Stein in der Festung Europa. Die EU zeigt damit, dass sie nie vorhatte, etwas an ihrer Flüchtlingspolitik zu ändern. Dieser Tauschhandel ist ein Hohn: Hilfsorganisationen weisen darauf hin, dass in dem Land nur Menschen aus Europa berechtigt sind, internationalen Schutz zu beantragen. Wer aus Eritrea oder Afghanistan kommt, für den könnte die Türkei damit zur Flüchtlingssackgasse werden.
Warum lassen sich die Türken darauf ein? Sie sind mit ihrer außenpolitischen Annäherungsstrategie gescheitert. "Null Probleme" mit den Nachbarn, besonders den östlichen, lautete der Plan, der wegen all der Aufstände und Kriege nicht so recht aufgeht. Nun schaut man wieder mehr in Richtung Westen und biedert sich prompt als Türsteher Europas an. Dabei ist die Türkei schon mit den mehr als 600 000 Flüchtlingen aus Syrien überfordert, die sozialen Spannungen steigen. Und nun will man für das bisschen Reisefreiheit die Drecksarbeit der Europäer erledigen?
Die Visavergabe hätte schon längst erleichtert werden müssen, ohne zynische Gegenleistung. Denn sie hat nie ihr angebliches Ziel erreicht, die illegale Migration zu verhindern. Und wegen des steigenden Wohlstandes zu Hause haben die Türken ohnehin nicht vor, nach Ablauf ihrer Touristenvisa in Deutschland, Frankreich oder Spanien zu bleiben. Statt unmoralischer Deals sollten die Türken sich und die Europäer fragen, warum diese ohne Probleme jederzeit ein Visum für drei Monate in der Türkei bekommen und sie in europäischen Ländern nicht. So viel Selbstachtung muss sein.
In einer früheren Version dieses Artikels hieß es: "Im türkischen Asylsystem dürfen nur EU-Bürger Anträge stellen." Das ist falsch, denn auch Menschen aus Georgien, Ukraine und Weißrussland gehören dazu. Wir bitten, diesen Fehler zu entschuldigen.
Kommentare
Oh je..
Wo bleibt der Dank, Frau Topçu? In Europa wird erwartet, dass die Türkei in Dankesstarre verfällt, ob soviel Güte endlich nicht mehr im Visastau stehen zu müssen. Erdogan hat "sich und seinen Erfolg" in der türkischen Presse so ausgiebig gefeiert, da können doch keine Zweifel aufkommen?
Die Drecksarbeit, wie sie es sehr treffend bezeichnen bleibt in türkischer Hand. Nach dem Aufbau Europas folgt nun die Verteidigung. Sehr treffend, dass der türkische Text groß mit "Drecksarbeit" übertitelt ist, das deutsche Wort hat etwas symbolisches.
Die Türkei ist nach wie vor Ausland zweiter Klasse. Dies ist eine traurige Feststellung. Und Mr. Erdogan, dem es sonst nicht an Selbstbewusstsein mangelt, hätte in diesem Punkt Stärke zeigen können, nein MÜSSEN. Stattdessen sonnt er sich jetzt in diesem Erfolg und die Türkei wird später die Zeche dafür zahlen. Somit hat die EU wie die Türkei politisch versagt, aber beide Parteien treten als Sieger auf.
Politik kann ganz schön zynisch sein.
@ 1 Wollen Sie behaupten,
die Türkei hätte den Aufbau Europas geleistet?
Oh je.
Redaktionsempfehlung.....
Fernab von Moral wird Staatspolitik betrieben!
Dazu lese man mal zwei Artikel von Helmut Schmidt über die Politik mit und gegenüber der Türkei.
Einbinden, nicht aufnehmen
http://www.zeit.de/politi...
Bitte keinen Größenwahn
http://www.zeit.de/2004/4...
Sowie eine Übersicht von Klaus Bade, welche Lasten alleine die Bundesrepublik und ihre Bürger bezüglich türkischer Migranten in den letzten 50 Jahren tatsächlich getragen haben und weiterhin tragen.
Vielleicht kühlt das das Mütchen ein wenig ab.
@ 2 Falsche Kompromissbereitschaft
Es ist eine Selbstverständlichkeit, daß die Türkei Illegale nicht einfach nach Europa durchreicht. Darauf hätte man bestehen müssen, mit der Drohung von Einfuhrzöllen z.B. untermauert. Visa-Lockerungen sind schädlich und hätten vermieden werden können.
Kann mir jemand erklären, warum der Artikel auch auf Türkisch erscheint?
Immer mehr Zweifel an dem Menschenbild der EU-Politik
Die EU hat nicht nur Gemeinsamkeiten mit scheinbar sympathischen Ländern wie Kanada und Australien, nein sie hat auch Gemeinsamkeiten mit Ländern wie Russland, China, Nordkorea.
Die EU-Außenpolitik verfolgt knallhart eigene strategische Ziele und geht dabei im wahrsten Sinne des Wortes wie andere Länder dieser Welt über Leichen. Wer den Tod von Menschen billigend in Kauf nimmt begeht Mord, aber die EU-Politiker bestitzen im Gegensatz zu Diktatoren für sich "Werte und Moral" in Anspruch zu nehmen und ihr Gewissen in Unschuld zu waschen.
Hier sind die Zahlen zu Ihrem Kommentar.
Gabriele del Grande zählt 19372 Tote an Europas Außengrenzen zwischen 1988 und 2013.
http://fortresseurope.blo...
Irgendwer macht immer die Drecksarbeit..
Wenn, die Leute diese Musik bestellen und gerne die Flüchtlinge in Deutschland auifnehmen würden, diese auch finanzieren müßten, dann wäre deren Anzahl sehr klein und das wohlfeile Geschrei längst nicht so groß.
Der Papst war bestürzt über die Verhältnisse in Lampedusa? Warum nehmen denn unsere Kirchen nicht diese Flüchtlinge auf und bieten diesen Kirchenasyl? Mal ganz konkrete Nächstenliebe.
Wer ist bereit 20 000€ seines Jahreseinkommens zu spenden, damit diese Leute nicht unsere Sozialsysteme belasten?
Wer ist bereit, diesen eine Ausbildung in seinem Bereich zu finanzieren, damit diese Leute nicht in Konkurrenz mit unseren Armen im Kampf um die Arbeitsplätze treten müssen?
Wer bietet ihnen Wohnstatt in seinem Quatier, damit unsere Armen nicht diese Menschen als Konkurrenten um bezahlbaren Wohnraum haben?
Ich glaube, ich bin ein unverbesserlicher Optimist, wenn ich schätzte, dass sich 1% unserer Bürger bereiterklären würde, dieses "Kreuz einen Stück mitzutragen".
Der Anteil der Menschen, die kein Problem damit haben, anderen die Kosten für ihr gutes Gefühl aufzudrücken haben wir wie Sand am Meer.
Wir schaffen es ja nicht einmal einen Mindestlohn auf die Straße zu bringen, damit diese Flüchtlinge mal eine Chance haben, sich selber zu finanzieren.
So machen dann bei uns die Armen und die Beamten die Drecksarbeit für das gute Gefühl anderer.
Ich bin bereit.
Ich kann kein Menschenleben mit Geld aufwiegen. Wenn es nur um Geld gehen würde, ich möchte meinen Teil beitragen!
Einige Gegenfragen:
Wer sind denn "unsere" Armen, wer die "Anderen" und wer bestimmt das? Geht es um Nationalgrenzen, die ziemlich willkürlich einst gezogen wurden und sich seitdem immer mehr verfestigten? Sind nicht Menschen anderswo genauso Menschen, wie meine Nachbarn? Warum scheinen manche Menschenleben mehr wert zu sein als andere und was hat das mit Rassismus zu tun? Sind wir wirklich schon so weit im neoliberalistischen Denken angelangt, dass wir Menschenleben in ihrem Marktwert und Nutzen be- und abwerten? Sind das die Werte, auf die unsere Gesellschaft aufgebaut ist? Und will ich das wirklich stützen? Wie wäre es denn, wenn wir AsylbewerberInnen einfach Arbeitserlaubnisse geben würden, anstatt sie über Jahre in Sozialleistungen festzuhalten? Billiger käme das auf jeden Fall. Warum will das die Regierung nicht, worum geht es hier wirklich? Wovor die Angst?
Wahrscheinlich braucht es Mut, die Werte der Menschenrechte höher zu setzen als die des Neoliberalismus mit seiner marktwirtschaftlichen Bewertung von Menschen. Um Opferbereitschaft geht es hier gar nicht in erster Linie - und wenn der Wohlstand im Endeffekt doch sinken würde, dann hoffe ich (ja, in allem Idealismus, ohne den ich sonst untergehen würde), dass wir das gemeinsam in Kauf nehmen, um die Werte der Menschenrechte höher zu heben, als blinden materialistischen Egoismus.