"Ich gehe ins Theater, lese Zeitung, verfolge das politische Geschehen"
"Was machst du als Nächstes mit deinem Leben?", habe ich gedacht, als mein Mandat als Richter am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu Ende ging. Ich habe überlegt, für eine internationale Organisation zu arbeiten, vielleicht nach Amerika zu gehen, da bekam ich eine Anfrage für eine DAAD-Gastprofessur von der Humboldt-Universität zu Berlin. Ich war begeistert, und auch meine Frau wollte gern im deutschen Sprachraum bleiben. Ich habe auch deutsche Wurzeln. Einige meiner Vorfahren stammen aus dem Badischen und der Schweiz. In Bolivien habe ich die deutsche Schule besucht und schon als Kind die Sprache gelernt. In den letzten Jahren hatte ich wenig Gelegenheit, Deutsch zu sprechen. Das hole ich jetzt nach. Es gibt so viele kulturelle Veranstaltungen in Berlin. Es ist wunderbar, dass ich alles verstehe. Ich gehe ins Theater, lese Zeitung, verfolge das politische Geschehen. Die Wahlen waren hoch interessant.
Dass ich mich so wohl fühle, verdanke ich auch meinen freundlichen Kollegen. Sie haben mir in jeder Hinsicht viel geholfen, sowohl im Alltag als auch beruflich. Das römisch-germanische Strafrecht ist eines der zwei großen Strafrechtssysteme der Welt, es wird auch in Lateinamerika und Asien angewandt, und Berlin ist ein zentraler Ort für mein Fachgebiet, das Völkerstrafrecht. Das wichtigste internationale Lehrbuch wurde hier verfasst. Mein erster Prozess in Den Haag war ein Verfahren gegen einen Kriegsverbrecher aus Afrika. An der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität gibt es das Südafrikanisch-Deutsche Zentrum für Internationales Strafrecht, das hauptsächlich afrikanische Juristen ausbildet. Ich habe das Gefühl, dass sich damit für mich ein Kreis schließt. Meine Frau und ich haben drei erwachsene Kinder, unsere beiden Töchter leben in der Schweiz, unser Sohn in Thailand. Den Haag hat ihnen nicht so gut gefallen, aber seit wir in Berlin wohnen, kommen sie regelmäßig zu Besuch.
"In Deutschland ist die arabische Literatur nicht allzu bekannt, da besteht Nachholbedarf"
Ich wollte schon lange an einer deutschen Universität lehren, um meine Erfahrungen einzubringen und von den Erfahrungen deutscher Kollegen zu profitieren: wie sie Lehrveranstaltungen organisieren, wie die Prüfungsordnung aussieht. Ich sehe mir alles an und überlege, was ich auch in Syrien einsetzen könnte. Ich bin Syrer, aber ich habe in Frankfurt am Main Germanistik studiert und dort als DAAD-Student in Komparatistik promoviert. Meine Arbeit behandelte die Aneignung des deutschen Romans im arabischen Orient. 2006 habe ich an der Universität Damaskus das bisher einzige Institut für Germanistik in Syrien initiiert und mehrere Jahre geleitet. Das Institut hat inzwischen 186 Studenten. Aber ich wollte noch einmal nach Deutschland kommen: als ausländischer Dozent von Muttersprachlern umgeben zu sein ist für mich eine unersetzliche Erfahrung.
Von meinen deutschen Kollegen wurde ich bestens aufgenommen. Die Arbeit an der Universität Münster gefällt mir in jeder Hinsicht. Hier bin ich nicht nur ein Lehrender, sondern auch ein Lernender. Ich sehe mich als Vermittler zwischen der arabisch-islamischen und der deutsch-europäischen Kultur – durch das Medium der Literatur. Mein Interesse für die deutsche Literatur wurde früh durch die Lektüre arabischer Übersetzungen von Goethe, Schiller und Brecht geweckt. Vor allem Goethes Faust fand ich imponierend. In Deutschland ist die arabische Literatur nicht allzu bekannt. Da besteht ein Nachholbedarf.
Durch diesen schrecklichen Bürgerkrieg hat sich mein Antritt der vom DAAD geförderten Gastdozentur um ein Jahr verzögert. Natürlich bin ich froh, jetzt in Deutschland fern vom Krieg zu sein. Meine größte Hoffnung ist, dass er bald aufhört. Meine Kollegen und alle Bekannten sprechen oft mit mir über den syrischen Bürgerkrieg. Sie sind sehr besorgt über das Schicksal der Zivilisten und vor allem der Kinder. Von dieser menschlichen Solidarität bin ich tief beeindruckt.
Kommentare
Die Karrierehyperbel
Wissenschaft ist etwas Internationales um nicht zu sagen Universelles.
Was man aber nicht unter den Tisch fallen lassen sollte ist, dass sich unserer Universitäten sehr gerne mit ausländischen Koryphäen schmücken, in deren Lebensläufen klangvolle Namen wie Yale, Harvard oder Oxford auftauchen. Vielen Stellenausschreibungen ist schon direkt anzumerken, was man sich für einen Kandidaten wünscht.
Dabei wird kaschiert, dass die Entwicklung von Wissenschaftlern im eigenen Land immer mehr gehemmt wird durch massive Mittelkürzungen, Ausrottung des Mittelbaus, brutalem Konkurrenzkampf und nach wie vor einem mittelalterlichem Hierarchiesystem, bei dem jeder unterhalb des Professors den menschlichen und Führungsqualitäten des letzteren nahezu schutzlos ausgeliefert ist.
Eine Menge Wissenschaftskarrieren scheitert nicht an der mangelnden Eignung oder Faulheit des Aspiranten, sondern an den Rahmenbedingungen, einschließlich der nicht immer gegeben Bereitschaft neben der Anwendung wissenschaftlicher Talente auch noch solche in "selektiv sozialer Stromlinienform", a.k.a. Sykophantentum, zu entwickeln.
Die Handvoll die den Olymp internationaler Reputation erklommen haben, die "suchen" allerdings nicht mehr, die "gehen" einfach, wohin es ihnen gefällt. Um sie zu locken werden auch immer genug Berufungsgelder zusammengekratzt...
Eine gewisse Abflachung in der Karrierehyperbel von beruflichen, sozialen und finanziellen Chancen würde der Wissenschaft gut tun...
Wie ernst die Deutschen die Wissenschaft nehmen...
... lässt sich schön hier nachlesen:
http://www.deutschlandfun...
Verglichen mit manch anderen Ländern,
...ist die Zahl der ausländischen Dozenten in Deutschland ein Witz, der gegen Null tendiert. Besonders wenn es um Festanstellungen geht.
Entfernt. Bitte belegen Sie Ihre Behauptungen mit seriösen Quellen und verzichten Sie auf Pauschalisierungen, die andere beleidigen können. Die Redaktion/ds
Wissenschaft ist abgemeldet
... zu mindestens in NRW, wo der Hochschulrat einen „Schulterschluss der Hochschulen mit Industrie und Wirtschaft“ fordert. Damit folgen dann natürlich eine Ausrichtung der Forschung auf "Andwendbarkeit", d.h. Produktentwicklung und das bedeutet Legitimationszwang und Minderung von Forscherfreiheit.
Mehr dazu auf http://www.nachdenkseiten...