"Bildung gibt es wie Anzüge von der Stange: als Massenware", schrieb der Bildungsvorstand der Bertelsmann Stiftung, Jörg Dräger, im November an dieser Stelle. Studierende an deutschen Universitäten würden mit einem im Prinzip seit Jahrhunderten unveränderten System von Einheitsvorlesungen abgespeist. Das Angebot sei für alle gleich. Online-Unis hingegen böten die freie Wahl aus einem ständig wachsenden Angebot an Massive Open Online Courses, kurz MOOCs. Statt ein paar Hundert Studenten im Hörsaal folgen mittlerweile Hunderttausende den einzelnen Internetseminaren. Für Dräger ist es eine "faszinierende Vorstellung", dass sie so bei den besten und engagiertesten Professoren kostenlos und gemeinsam mit vielen anderen aus aller Welt studieren können. Und wie bei iTunes, wo sich jeder aus dem weltweiten Angebot persönliche Hitlisten zusammenstellen kann, könne man sich bei Online-Unis ein individuell passendes Curriculum zusammenklicken. Das sei das personalisierte Studieren der Zukunft.
Das klingt fantastisch. Doch die Praxis sieht gänzlich anders aus. Konkret werden den Hunderttausenden auf YouTube oder anderen Plattformen lediglich Videos von Vorlesungen vorgesetzt, die ihre Kommilitonen an Präsenzhochschulen besuchen. Statt in Seminaren und Übungen den gelernten Stoff mit Dozenten zu vertiefen, besteht die Betreuung online aus Multiple-Choice-Fragen oder einem Quiz. Jeder schaut für sich allein, begleitet von einer Software, die alle Handlungen aufzeichnet, damit ein Algorithmus die nächsten Lernaufgaben berechnen kann. Individualisiert steht somit für sozial isoliert, denn weder Chats oder Tweets noch Online-Freunde ersetzen reale Sozialkontakte.
Man kann Vorlesungen als Veranstaltungsform infrage stellen, sollte aber nicht Videoaufzeichnungen davon als Alternative preisen. Schließlich sind sie nichts anderes als eine technische Variante des Frontalunterrichts, bei der sogar die möglichen Reaktionen der Nutzer technisch vorgegeben und damit normiert sind. Video to Brain heißt diese Instruktion per Video. Jeder kann sie so oft anschauen, wie er oder sie es will, und sich durch die Aufgaben klicken. Doch das ist trivial: Jede Lektüre eines Lehrbuchs ist mindestens genauso individuell. In einem Buch kann man im eigenen Rhythmus vor- und zurückblättern, lesen, Passagen überspringen ... Immanuel Kant erkannte das Prinzip der individuell empfundenen und genutzten Zeit schon vor über 200 Jahren. Der vorgegebene technische Takt bei einem Video oder Film ist das Gegenteil von einem eigenen Rhythmus. Es gibt nichts Entindividualisierteres als Programme. Der Software ist es egal, wer vor dem Bildschirm sitzt. Alle werden von ihr gleich behandelt.
Entscheidend ist jedoch etwas anderes: Während analoges Lesen nicht protokolliert wird, werden beim Lesen und Lernen mit digitalen Medien sämtliche Aktivitäten gespeichert und daraus Nutzer- und Lernprofile erstellt. Der Zugewinn für die Anbieter von Plattformen wie Coursera oder iversity, auf denen MOOCs zur Verfügung gestellt werden, sind automatisch generierte Lernprofile, die sie verkaufen können. Digital steht damit als Synonym für die zunehmende Transparenz der Nutzer, die durch ihre Daten und Profile selbst zur Ware werden.
Die Automatisierung von Lernprozessen ist bislang gescheitert
Die MOOCs sind vor etwa zwei Jahren in den USA entstanden als eine Reaktion auf die dort explodierenden Studiengebühren. Solche hohen Beiträge gab und gibt es in Deutschland nicht. Wohl gibt es überfüllte Hochschulen und Universitäten, da inzwischen mehr als 50 Prozent eines Jahrgangs studieren. Doch das als Argument für die technische Aufrüstung des Studiums zu nehmen führt in die Irre. Jegliche Versuche der Automatisierung von Lernprozessen sind bislang gescheitert. Stattdessen sollten die Hochschulen besser mit mehr Personal ausgestattet werden.
Propagandisten der Online-Lehre argumentieren weder inhaltlich noch lernpsychologisch oder gar historisch, sondern rein quantitativ. Die Hochschulen seien überfüllt, die Lehrangebote als Präsenzlehre personell aufwendig, teuer und ineffizient. Statt Veranstaltungen an Hochschulen anzubieten, sollte man Online-Kurse produzieren. Lizenziere man Einführungs- und Grundlagen-MOOCs wechselseitig, käme man mit wenigen standardisierten Kursen aus. Die Folgen: Personalkosten ließen sich reduzieren, Dozenten könnten durch Mentoren und mittelfristig sogar durch intelligente Software ersetzt werden, durch Avatare und Spracherkennung.
Und das wäre nur der Anfang. Da Wissenschaftler selten gute Entertainer sind, liefern sie nur den Content für die Kurse. Die Produktion der Lehrmedien übernehmen spezialisierte Dienstleister, mit kameratauglichen Schauspielern. Selbst Prüfungen könnten Externe besser abnehmen, da für Online-Prüfungen ein Identitätsmanagement wie etwa biometrische Gesichtserkennung erforderlich ist. Langfristig könnten so Hochschulen entstehen, die selbst gar keine eigenen Lehrangebote mehr offerieren, sondern nur noch private Angebote zertifizieren. Öffentliche Bildungseinrichtungen würden zu einer Art Bildungs-TÜV degradiert.
Lässt sich wirklich alles maschinell steuern, auch Lernprozesse?
Dazu müssten die rechtlichen Rahmenbedingungen an den technologischen Fortschritt angepasst werden, fordert Jörg Dräger, das sei Aufgabe der Politik. Er verdeutlicht damit einmal mehr, dass neben der Standardisierung von Lehrinhalten und der Privatisierung der Lehrmittelproduktion auch die Curricula privatwirtschaftlich bestimmt werden sollen.
Diesen Ansatz vertreten die Kybernetiker bereits seit den 1960er Jahren. Sie gehen davon aus, dass sich alles maschinell steuern und regeln lässt, auch Lernprozesse. Die Digitalisierung und Automatisierung würde sogar die Qualität des Lernens verbessern. Das passt zu den betriebswirtschaftlichen Thesen des US-Ökonomen Milton Friedman, wonach Prozessoptimierung und Effizienzsteigerungen auch in der Lehre möglich sind. Lehren und Lernen sind nach diesen Prämissen steuer- und regelbare Prozesse. Produziert wird Humankapital, gemessen werden Drop-out (Abbrecher) und Output (Absolventen mit zertifizierten Kompetenzen). Die immer gleiche Frage der Lernmaschinisten lautet, angelehnt an den Medientheoretiker Claus Pias: "Wie bekommt man mit möglichst wenig Ressourcen möglichst viel Stoff möglichst schnell in die Köpfe?"
Der Mensch ist und bleibt des Menschen Lehrer
Fragt man statt der Vertreter der Bildungsindustrie Praktiker, ist die Euphorie längst verflogen. Sebastian Thrun, Professor für Künstliche Intelligenz an der Stanford University, war einer der Ersten, die einen MOOC ins Netz stellten, später gründete er die Online-Plattform Udacity. Seine Erfahrungen sind mittlerweile ernüchternd. Er habe festgestellt, so Thrun, dass mit den MOOCs die Leute nicht so ausgebildet werden, "wie andere sich das wünschen oder wie ich mir das wünsche. Wir haben ein schlechtes Produkt." Das zeigen auch die hohen Abbrecherquoten in den Kursen.
Die Gegenmaßnahme heißt für Thrun aber nicht, aus den MOOCs nun POOCs (Personalized Open Online Courses) zu machen, wie Jörg Dräger es fordert. Thrun schreibt den Teilnehmern seiner Online-Kurse jetzt vielmehr verbindlich drei Stunden "face-time" pro Kurs vor. Das zwar auch im Netz, aber immerhin nicht algorithmisch gesteuert, sondern mit einem echten Menschen vor der Kamera. Für eine solche persönliche Betreuung braucht man Lehrpersonal, deshalb sind Udacity-Kurse mittlerweile kostenpflichtig. Aber im Vergleich zum Studium an einer US-Uni sind sie natürlich immer noch sehr günstig.
MOOCs dienen in den USA bereits als Argument für Budgetkürzungen, Professuren werden nicht neu besetzt, weshalb selbst ursprüngliche Befürworter ihre Mitarbeit an ihrer Selbstabwicklung verweigern. Man möge sich ergänzend an das erinnern, was die Ökonomin Shoshana Zuboff von der Harvard University in ihren drei Gesetzen formuliert hat. Erstens: Was automatisiert werden kann, wird automatisiert. Zweitens: Was in digitalisierte Information verwandelt werden kann, wird in digitalisierte Information verwandelt. Und drittens: Jede Technologie, die für Überwachung und Kontrolle genutzt werden kann, wird, sofern dem keine Einschränkungen und Verbote entgegenstehen, für Überwachung und Kontrolle genutzt, unabhängig von ihrer ursprünglichen Zweckbestimmung. Auf die akademische Bildung bezogen, heißt das: Online-Kurse sind Unterrichtsmaschinen, die zu Kontrollapparaten, zur algorithmisch automatisierten Steuerung von Lernsklaven werden. Die NSA lässt grüßen.
Zumal die bisherigen Erfahrungen mit MOOCs und POOCs das Erwartbare zeigen: Nur die Verbindung von Lehrmedien und Präsenzveranstaltungen, von persönlicher Betreuung und Diskurs führt zu validen Lernergebnissen. Daher trägt selbst das Argument nicht, Online-Kurse dienten der Demokratisierung von Bildungsmöglichkeiten. Typische Abbrecherquoten von über 97 Prozent bei Online-Kursen zeigen: Digitale Medien nutzen allenfalls denjenigen, die sich ein begleitendes Mentoring leisten können, und grenzen die aus, die diese Betreuung nicht bezahlen können. Nur wird so getan, als seien die Abbrecher selbst schuld an ihrem Versagen – und nicht der Professor.
"Der Glaube, dass Bildung durch ein Computerprogramm ersetzt werden kann, ist ein Mythos. Der menschliche Kontakt und das Mentoring machen den entscheidenden Unterschied bei den Lernergebnissen aus", sagt Sebastian Thrun. Recht hat er. Damit schließt er sowohl an pädagogische Traditionen an, die Vertrauen als Basis des Lernens sehen, als auch an die Ergebnisse empirischer Lernforschung. Auch für digitale Technik und neue Medien gilt der didaktische Primat: Der Mensch ist und bleibt des Menschen Lehrer.
Kommentare
Das ist, gelinde gesagt, weit von der Realität entfernt.
"Der Mensch ist und bleibt des Menschen Lehrer."
Dies stimmt einfach nicht, spätestens seit Bologna ist dies nicht mehr der Fall. Ich studiere mittlerweile im 5ten Semester Psychologie und komme seit dem ersten Semester nur noch sporadisch zu Vorlesungen. Warum?
Weil ich mir einen Dozenten sparen kann, der mir vorliest was auf PowerPoint-Folien steht. Er hilft weder dabei den Stoff zu verstehen, noch sorgt er dafür, dass mir unklare Zusammenhänge klarer werden. Er hat weder Zeit Fragen zu beantworten, noch hat er die Lust dies zu tun. Auf Mailantworten wartete ich manchmal Wochen, als Antwort erhielt ich verweise auf Literatur.
Dies geht nicht nur mir so, sondern vielen Studenten. Was meinen Sie denn, warum die sich so vehement dafür einsetzen, dass es keine Anwesenheitspflicht gibt? Weil die Anwesenheit völlig unnötig ist.
Im klassischen Studium arbeitet man sich also nur durch die Folien und die Literatur, in den Onlinekursen hat man zumindest noch den Vorteil, dass diese das Wissen so aufbereiten, dass man halbwegs vernünftig zu Hause lernen kann.
Die Studenten, die für ihr Abbrechen die Art des Onlineunterrichtes verantwortlich machen, haben offenbar keine Vorstellung über die katastrophalen Zustände des Offlineunterrichtes im Bolognasystem.
Verstehen.
Sie illustrieren, weshalb der Satz ja eigentlich stimmt,
denn Ihre Erfahrung und ihr Urteil beschreiben doch nur, das man (erfolgreich) versucht hat, den Lehrenden zum Automaten zu machen. Den Dozenten, der robotische Lehre bietet, den kann man sich in der Tat sparen. Aber genau so soll Lehre ja gar nicht sein. Deshalb wäre es so dringend nötig, die Universitäten personell, didaktisch, usw., (wieder) so aufzustellen, das Menschen miteinander interagierend lernen können. Und das heisst gerade eben nicht: Auswendiglernen für vereinheitlichte multiple-choice tests und algorithmisierte Performance..... Daneben, sei gesagt, es ist und bleibt richtig, was Foucault und Deleuze als Disziplinar-, bzw. Kontrollgesellschaft diagnostiziert haben. Wenn sich Studenten heute also über Anwesenheitspflicht aufregen oder Dozenten-automata lieber als Web-clip zuhause präsentiert bekämen, dann schlagen sie Scheingefechte. Ihre Energie sollten Sie auf Durchsetzung der Forderung verwenden, eine als Lehre erntszunehmende Lehre wieder möglich zu machen. Die Scheingefechte die Sie schlagen, führen nur zur weiteren Verschlimbesserung des Trends (der Kontrollgesellschaft).
Lernen oder nichtlernen entscheidet sich beim Lernenden
Ich halte die Ansätze des Artikels für fragwürdig. Die Lernform als solche spielt eigentlich eine sehr untergeordnete Rolle. Fast jeder, der schonmal Student war, kennt doch folgende Situation: Es gibt die Leute, die kaum eine Vorlesung besuchen, aber trotzdem das Studium mit links meistern.
Meine These: Diese Personen haben das erkannt, was den Studenten übrigens auch viele Profs am Anfang einer Vorlesung sagen: "Sie werden hier nur 5% von dem, was Sie hören, mitnehmen".
Die Präsenzveranstaltung als solche sollte nicht glorifiziert werden. Aus meiner eigenen Erfahrung (und viele ehemalige Studenten werden mir wohl zustimmen) weiß ich, dass das richtige Lernen vor allem in kleinen Lerngruppen mit anderen Studenten stattfand. Manche schaffen es auch ganz ohne andere Leute, zuhause mit Büchern oder anderen Informationsquellen.
Dass die Abbrecherquoten überhaupt kein Indiz für Qualität oder Nicht-Qualität der Online-Lehre sind, habe ich hier schon dargelegt: http://www.zeit.de/studiu... . Die ganze Diskussion um "Output" ist meiner Meinung nach irrelevant.
Meine Hypothese: Wer lernen will, wird seinen eigenen Weg finden, optimal zu lernen, und wer es nicht will, dem wird kein noch so tolles Präsenzangebot dabei helfen. Ein Angebot ist in letzter Konsequenz nur das: Eine Einladung, etwas bestimmtes zu tun - tun muss man es selbst, und wer WIRKLICH Interesse hat, lernt sogar ganz ohne "Einladung"...
Es kommt darauf an, wie...
denn wenn eine Vorlesung wirklich nur Vorlesung ist, wie ich das meist so erlebt habe, macht es eigentlich keinen großen Unterschied, ob man im Hörsaal sitzt oder vor dem Rechner. Vor dem Rechner zu sitzen bringt sogar wirklich die auch angesprochenen Vorteile (eigenes Tempo, zeitliche Flexibilität). - Natürlich geht der Schuss nach hinten los, wenn das ganze zum Stellensparen genutzt wird! Sinnvoll wäre es, wenn die Dozenten die Zeit, die sie einsparen, weil sie ihre Vorlesungen nicht mehr so oft neu aufnehmen, sondern nur noch aktualisieren müssen, tatsächlich für mehr Interaktion mit den Studenten nutzen würden, also dementsprechende Veranstaltungen anbieten würden, ob nun persönlich oder per Internet!
Meine Erfahrung ist, dass Lehrende derzeit (wegen Forschungsanträge etc. pp. nehmen viel Zeit) so überbeschäftigt sind, dass sie für Interaktion ohnehin fast gar keine Zeit haben, nicht einmal da, wo es absolut entscheidend wäre, nämlich bei Abschlusskandidaten und Doktoranden.
Da kann ein bisschen Mut zum Internet und zu neuen Lehrformen die Sache eigentlich nur besser machen - wenn nicht das ganze System noch mehr zusammengespart wird!
Wie jetzt?
... "Onlinekurse produzieren Lernsklaven und höchste Abbrecherquoten" in einem Satz zu verwenden. Was denn nun? Ein Sklave wird wohl kaum freiwillig abbrechen können, oder? Und was ist dann die Schule bitte? Da kann ich mir nicht aussuchen, was ich lernen möchte und abbrechen geht auch nicht wg. Schulpflicht. Sind unsere Schüler dann nicht viel eher "Lernsklaven"? Oder unsere Studenten, die lernen müssen um später in Broterwerb zu kommen? Sind das nicht viel eher "Lernsklaven" als jemand der sich aus Interesse für einen MOOC anmeldet? Ich wüsste nicht, welchen Unterschied hinsichtlich "Bildungspflicht" eine MOOC herbeiführen soll.
Der ganze Artikel ist voll von normativen Aussagen, dem ich so nicht folgen kann.
Der Abbrecher eines MOOC IST selbst schuld. Ich brauche z. B. kein Mentoring um einen Kurs zu Ende zu bringen. Die Frage ist, ob man sich für etwas wirklich interessiert und es verstehen will oder ob man den Kurs nur besucht um sich selbst zu optimieren. Es gibt genug Möglichkeiten sich selbst zu bilden. MOOCs sind nur eine davon.