Kürzlich sorgte der "Fall Henri" bundesweit für Streit. Der Junge aus Baden-Württemberg kam mit Downsyndrom zur Welt. Trotzdem wollte er nach der Grundschule aufs Gymnasium gehen – weil seine Freunde dorthin wechselten. Das Gymnasium aber lehnte ihn ab.
Wir haben uns daraufhin auf die Suche nach höheren Schulen gemacht, die Kindern mit Behinderung (auch mit geistiger Behinderung) offenstehen. Dass wir dabei fündig wurden, zeigen die Beispiele auf dieser Seite.
Die sogenannte Inklusion, also der gemeinsame Unterricht für Schüler mit und ohne Behinderung, ist derzeit die schwierigste Aufgabe unserer Schulen. Sie steht auf der Tagesordnung, seitdem Deutschland im Jahr 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet hat. Daraus leitet sich für behinderte Kinder prinzipiell das Recht ab, eine allgemeine Schule – etwa eine Realschule oder ein Gymnasium – statt einer Förderschule zu besuchen.
Mehr oder weniger überstürzt versuchen die Bundesländer seitdem, der UN-Konvention gerecht zu werden. Die Inklusion trifft dabei auf Schulen, die nicht auf sie vorbereitet sind, auf Lehrer, die dafür nicht ausgebildet sind, und auf Eltern, die Sorge haben, dass die Kinder ohne Behinderung darunter leiden. Vielerorts fehlt es an Fachkräften und ganz simpel an Geld. Hinzu kommt der Streit unter Experten und Eltern, ob Kinder mit Behinderung auf einer Förderschule nicht doch besser aufgehoben sind. Auch wenn mehrere Studien zeigen, dass behinderte Kinder auf allgemeinen Schulen mehr lernen und Kinder ohne Behinderung dabei keinen Schaden nehmen, bleiben viele Praktiker skeptisch.
Die Gymnasien sind bei der Inklusion sehr zurückhaltend. Klar, möchte man sagen, sie vereinen ja die leistungsstarken Schüler. Doch um Leistung geht es bei der Inklusion nicht, sondern um das Recht der Behinderten auf Teilhabe am "normalen" Leben – das gilt an einer Hauptschule ebenso wie an einem Gymnasium. Vielleicht gelingt das am Gymnasium sogar besonders gut, weil in den Klassen keine anderen lernschwachen und verhaltensauffälligen Schüler sitzen.
Von den Schülern auf dieser Seite besucht keiner die höhere Schule mit dem Ziel, das Abitur zu machen. Die Inklusionsschüler werden "zieldifferent" unterrichtet, sie lernen nach einem individuellen Förderplan, unterstützt von zusätzlichen Förderschullehrern.
Viel Geld, Geduld, guter Wille und gegenseitiges Verständnis aller Beteiligten sind nötig, um die Inklusion zu einem Erfolg zu machen. Wo diese Voraussetzungen fehlen, wird sie scheitern. Sind sie vorhanden, könnte sie gelingen. Auch am Gymnasium.
Thomas Kerstan, Jeanette Otto
Kommentare
Danke für diesen Themenschwerpunkt
Es ist sehr schön, dass sich hier etwas bewegt. Leider Symptomatisch: die positiven Beispiele sind hauptsächlich aus Niedersachsen, wo es schon seit vielen Jahren vergleichsweise pragmatisch funktioniert. Ich warte immer noch auf die inklusiven Gymnasien in Bayern und BW.
Die Eltern scheinen so ganz langsam zu begreifen, dass ihre Kinder in der Schule mehr lernen als Lesen und Schreiben und dass ein Kind mit Behinderung in der Klasse sehr wertvoll für die Entwicklung von Toleranz und Sozialkompetenz ist.
Und in der Politik ist es so langsam angekommen, dass man Menschen nicht ihr Recht vorenthalten sollte, ob sie nun eine Behinderung haben oder nicht.
Jetzt muss diese Erkenntnis nur noch zu den Schulbehörden durchsickern, zusammen mit ein paar Euro mehr für die Begleitung. Hoffentlich werden diese paar Euro jetzt nicht wieder breit als Argument gegen Inklusion ausgetreten, als ob sich D nicht ein paar Begleiter leisten könnte.
Die "Begleitung" reicht nicht - die kriegt auch nicht jede/r
Mit dieser Verharmlosung der "Inklusions"-Probleme tun Sie dem Thema keinen Gefallen. Sie fordern weder kleinere Klassen, noch eine Beschulung der nicht schulfähigen Kinder ( sonst brauchen Sie keine "Inklusion") durch Fachlehrkräfte - ergo Sonderpädagog/innen.
"Begleiter"/innen haben keine Qualifikationsanforderung - sie sind einfach billig.
Aber selbst darum müssen viele Eltern kämpfen.
Sie können von einer Regelschullehrkraft mit 25-32 Kinder in der Klasse NICHTS zusätzlich erwarten. Die sind voll eingespannt.
Eine speziell auf das nicht schulfähige Kind angepasste Didaktik ist ja wohl das mindeste, damit der Schulbesuch auch was bringt.
Und die Sonderpädagogik darf auch nicht - wie weit verbreitet - auf 2-4 Wochenstunden beschränkt sein. Wer soll sich denn die andere Zeit um diese Kinder kümmern?
Nicht schulfähige Kinder brauchen mehr Betreuung und eine eigene Didaktik. Sonst gehen die einfach unter. Oder sie belasten den Unterricht der anderen. Und dann gibt es Stress mit den Eltern der anderen. Die habne auch ein Recht auf Unterricht.
Was derzeit abläuft, ist eine Sparmaßnahme.
Eltern, die das kapieren, werden solche Schulen weiträumig umgehen.
Das "Inklusions"-Schulsystem sieht dann so aus:
Privatschulen (kirchlich, Waldorf, usw), Öff. GY, alles andere mit "Inklusion", restliche Sonderschulen (werden abgewickelt).
Man muss einklagbare Qualitätsstandards haben für "Inklusion".
Sonst geht das schief.
Aber die wird kein Land zahlen.
Was ist das Ziel dieses Artikels?
Es ist alles noch viel schlimmer, als ich es mir bisher vorgestellt habe! Kinder auf dem Gymnasium, die im Zahlenraum bis 20 (!) unterwegs sind und deren Ziel NICHT das Abitur ist!
KÖRPERLICH Behinderte - kein Problem, gerne! - aber in unserem Schulsystem geht es vorrangig (und das ist auch gut so, schliesslich sollen meine Kinder auf die Arbeitswelt vorbereitet werden!) um GEISTIGE Leistung! Also: werden geistig Behinderte speziell gefördert - und nicht auf dem Gymnasium im Zahlenraum bis 20!
Danke für diesen Artikel - ich hoffe, er öffnet vielen Träumern die Augen...
Zahlenräume stecken nicht an
Worum geht es Ihnen denn?
1) um die eigenen Kinder? Also weshalb stört Sie, dass ein Mitschüler einen Zahlenraum bis 20 hat? Ansteckend? Nein. Lernt man sobei noch was dran, dass nicht alle so sind wie man selbst.
2) Um die Kinder mit geistiger Behinderung? Deren Eltern können besser entscheiden als Sie, ob das Gymnasium für sie Sinn macht. Es geht um Freunde, Mitschüler, Lernumfeld - das kann das Gymnasium sehr gut bieten.
3) Um irgendwelche Ressentiments bzw. ein "das gehört sich nicht"? Dann kann ich Ihnen auch nicht helfen.
Wunschdenken
Leider kann ich mich der Begeisterung nicht anschließen. Das Gymnasium ist nun einmal eine vergleichsweise anspruchsvolle Schulform, die auf das Abitur vorbereitet. Wenn man nicht behinderten aber nur mittelmäßig begabten Schülerinnen und Schülern vom Besuch des Gymnasiums abrät bzw. sie auf eine andere Schulform zurückverweist, wenn sie den Ansprüchen nicht gewachsen sind, wie kann man dann Schülerinnen und Schüler mit einer geistigen Behinderung akzeptieren und "mitziehen", auch wenn sie das Klassenziel nicht erreichen, was wohl die Regel sein dürfte.
Ich fürchte auch, dass geistig Behinderte an einem Gymnasium eher ausgegrenzt werden als auf einer Förderschule. Spätestens mit Beginn der Pubertät orientieren sich Jugendliche an den Leistungsträgern. Oder sie suchen sich Freundinnen und Freunde, mit denen sie ins Kino und in die Disco gehen und mit denen sie auf Augenhöhe reden können. Der geistig behinderte Mitschüler wird dafür einfach nicht in Frage kommen.
Und Hand aufs Herz: Ich möchte den Inklusionsbefürworter erleben, der sich aufrichtig freut, wenn Sohn oder Tochter (natürlich Gymnasium) ihnen eine/n geistig beinderte/n Mitschüler/in als neuen Freund / neue Freundin vorstellt.
Außerdem denke ich, dass geistig Behinderte (z.B. Menschen mit Down Syndrom) wenig vom Periodensystem, von Latein und Differenzialrechnung profitieren. Sie haben doch einen ganz anderen Lernbedarf.
Hand aufs Herz
Ich würde mich sehr darüber freuen, wenn meine Kinder auch geistig behinderte Mitschüler zu ihren Freunden zählten. Übrigens denken sehr viele Eltern so wie ich.
Ist für Sie Down-Syndrom eine ansteckende Krankheit? Wieviele Erwachsene benötigen nach dem Abitur das Periodensystem oder Differentialgleichungen oder Gedichtanalyse? Wie vielen würde dagegen Toleranz und Sozialkompetenz gut stehen? Für mich ist zu lernen wie unterschiedlich Menschen sind und wie individuell sie betrachtet werden müssen deutlich wichtiger als das Auswendiglernen aller Zellorganellen. Aber die Kinder werden ja gar nicht vom Lernen der anderen Dinge abgehalten - zumindest nicht mehr als sie es nicht onehin schon tun.
Liebe Else und werter Webman,
nehmen Sie es nicht so persönlich, denn so war es nicht gemeint. Ein Kommentar muss verkürzen. Der Begriff des Bulimielernens stammt von Schülern selbst. Ich fand ihn passend. Und die Lernfabrik geht auf Sir Ken Robinson zurück, der die klassischen Lernformen dem Industriezeitalter zuordnet, sehr treffend, wie ich finde. Was sie so nett Bullshit-Bingo nennen ist seit langem untersucht und dokumentiert. U. a. von Prof. Ulf Preuss-Lausitz. Es gibt tatsächlich eine sehr effektive Lernwelt jenseits des Gymnasiums.
Dann bleiben Sie doch "jenseits"
"Es gibt tatsächlich eine sehr effektive Lernwelt jenseits des Gymnasiums."
Dann lassen Sie doch die GYs in Ruhe.
Freie Elternwahl der Schulform - für geeignete Kinder.
Die GYs sind jetzt schon überfordert.
Entweder konkret unterstützen - mehr Lehrkräfte, kleinere Klassen, mehr Unterricht - oder bitte bitte in Ruhe lassen.
Wo sollen leistungsorientierte Eltern ihre Kinder denn sonst hintun?
Viele Eltern haben gelernt, dass die Reformitis immer "Sparen" und "weniger lernen" bedeutet.
Reformieren Sie doch dann bitte die anderen Schulformen.
Respektieren Sie doch bitte den Elternwillen.