Eine Gartenbeiz im Kreis 5 in Zürich. Es ist ein lauer Juniabend. Fußballweltmeisterschaften. Public Viewing. Auf Großbildschirmen sehen ein paar Hundert, wie im fernen Salvador eine eidgenössische Multikulti-Truppe eine Kanterniederlage gegen die französischen Nachbarn kassiert. An der Grillbar brutzeln Merguez, Burger und quietschender Halloumi. Die Bierauswahl reicht von "Paul", gebraut ums Eck, bis "Antarctica", ein süßlicher Schluck brasilianische Exotik.
So sieht sie aus, die fortschreitende Mediterranisierung der Schweiz. Alles wunderbar – doch etwas stört.
Zuerst stechen die vielen Schweizer-Kreuz-T-Shirts ins Auge. Nicht nur kleine Buben und Mädchen wuseln ganz in Rot durch die Leibermasse. Erwachsene Menschen tragen ihr Kreuz auf der Brust oder auf der Wange. Und auf dem Rücken prangt der Schweizer Psalm: "Trittst im Morgenrot daher …" Dann dieses kollektive Wir. Dieser Stolz. Nicht nur als Gefühl, sondern als Befehl, den man zu befolgen hat. Wir, die Schweizer, gegen sie, die Franzosen. Im ehemaligen Industriequartier, im urbanen Herzen der Schweiz, feiert der Hurrapatriotismus Urständ.
Und man merkt: Irgendetwas ist passiert, irgendetwas hat sich in den letzten Jahren in diesem Land verändert. Und dies nicht zum Guten.
Die spielerische Swissness verknöchert zu einem dumpfen Nationalgefühl
Jahrelang hat man uns beruhigt: Swissness, das ist kein Nationalismus. Swissness, das ist ein ironisches Spiel mit Symbolen und Zeichen. Swissness, das ist Kapitalismus. Und zwar in seiner fortgeschrittensten Form. Ein Image, umsetzbar in Geld. Ein Brand, der unserer Wirtschaft hilft, ihre Werkzeugmaschinen, Kaffeekapseln oder Lindor-Kugeln rund um den Globus zu verkaufen. Zuverlässigkeit, Natürlichkeit, Genauigkeit, Sauberkeit. Und all dies wohlgeformt. Swissness, das sei die Leichtigkeit des Schweizerseins, sagten auch linksliberale Erklärer: Ein Zeichen der Öffnung und der Entkrampfung. Aber was an der Oberfläche als Scheinanglizismus so unbeschwert daherkommt, verknöchert im Kern nach und nach zu einem überwunden geglaubten, dumpfen Nationalgefühl.
Es ist das Gefühl vom Sonderfall. Alt-Diplomaten huldigen ihm in ihren Büchern. Rechtskonservative Politiker beschwören ihn in ihren Reden. Selbst zur Linken hält man die eigene Heimat für ein ganz spezielles Stückchen Erde.
Und so bemerkt man erst im Rückblick: Die Swissness-Welle bereitete den Boden für eine Remystifizierung des Schweizerischen. Eines Schweizerischen, das genau zu wissen vorgibt, was zu ihm gehört. Und was nicht. Eines Schweizerischen, das sich nicht mehr hinterfragen will. Sondern nur noch ist. Eines Schweizerischen im Geiste des St. Galler Völkerrechtlers Carl Hilty, der Ende des 19. Jahrhundert schrieb: "Meiner Meinung nach ist die Schweizerische Eidgenossenschaft eine Form von Regierung, die von Gott persönlich geplant und gut ausgestattet ist für eine spezielle Mission, ein außergewöhnliches Volk Gottes."
Eine Woche nach dem WM-Finale. Durch den Juliregen fährt die Rhätische Bahn ins Unterengadin. Dort, im kleinen Dörfchen Sent, lebt der emeritierte Wirtschaftshistoriker Hansjörg Siegenthaler. In seiner bescheidenen, spartanisch eingerichteten Wohnung empfängt er zum Interview. Trocken sagt er: "Hat man mehr Platz, muss man nur mehr putzen". In den nächsten zwei Stunden seziert Siegenthaler das Verhältnis der Schweiz zu Europa. Was bringt eine Annäherung an Brüssel? Was kostet die Idee vom Freistaat Schweiz? Wer profitiert von einer totalen Globalisierung, wie sie SVP-nahe Kreise wollen? Wer leidet darunter? Und wo fühlen wir uns eigentlich zu Hause? In Europa, den USA, China oder Singapur? Für den 81-Jährigen ist schließlich klar: "Wir sollten der EU beitreten".
Nun kann man die Meinung des Historikers teilen – oder nicht. Beides aus guten Gründen.
Aber es ist erschreckend, mit welchem Hass Siegenthalers Beitrittsforderung kommentiert wird, als das Interview einige Tage später erscheint. "Dieser Mann gehört bei der offenkundigen Senilität wohl dringendst ins Altersheim!", liest man in den Facebook-Kommentaren. "Dem huere pisser gahts nur ums Geld! Dä Schmarotzer söll is Altersheim go stärbe!" – "Irrenhaus, Altersheim ist zu harmlos." Eine meinte: "Lieber würde ich mich erschiessen." Ein anderer schreibt: "Headshot! Problem gelöst."
Immer noch gilt: Das Volk hat das letzte Wort
Alles Verwirrte, Einsame oder geistig Umnachtete, möchte man meinen, ja, man hofft es insgeheim. So würde sich alles erklären. Aber die Kommentatoren stehen allesamt mit vollem Namen und Porträtbild zu ihren Ausfälligkeiten: Da ist der Immobilienverwalter von der Goldküste, der Lichtinstallateur aus dem Zürcher Oberland oder der Jungschütze aus dem Emmental. Die einen posieren mit ihren Kindern, andere mit ihrem Schätzeli oder in der Fankurve des Eishockeyklubs. Es sind Menschen aus der Mitte des Volks.
Und sie, die immerfort jaulen: "Das darf man doch noch sagen", sie, die Vorkämpfer gegen die politische Korrektheit, sind die giftigsten Gallespucker gegen ihren politischen Gegner. Sie verhöhnen ihn, sie verbieten ihm den Mund, sie wünschen ihm den Tod.
Der Andersdenkende wird zum Feind, nur noch eine Meinung zählt – die eigene.
Ein neuer Denkmief legt sich übers Land. Gerade in der Europafrage. Das viele neue Geld der vergangenen Boomjahre verkalkt nach und nach die Hirnwindungen. Der Mief erinnert unangenehm an Zeiten, als die tonangebenden Bürgerlichen alles, was auch nur ein Jota links der Mitte politisierte, am liebsten in den roten Osten geschickt hätten: "Moskau einfach."
"Brüssel dient in angeblicher Nachfolge des habsburgischen Wien, napoleonischen Paris, nazistischen Berlin und kommunistischen Moskau als Negativfolie eines imperialen Goliaths, dem man einen neutralen David entgegenstellt", meint der Historiker Thomas Maissen. Und EDA-Staatssekretär Yves Rossier frotzelt im Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung: "Was ist die nächste Schlagzeile? Dass die EU heimlich von Außerirdischen regiert wird?" Das mag spaßig klingen. Doch wer sich immer stärker an weltlichen Glaubenssätzen statt harten Fakten orientiert, wer nicht mehr diskutiert, sondern nur noch nachbetet, der verpasst den Anschluss: an eine Welt, an ein Europa im Wandel.
Ignoranz und Borniertheit herrschen aber nicht nur im Bodensatz der öffentlichen Meinungsbildung. Auch in den Zeitungsredaktionen, wo das Denken über allem stehen sollte, verdrängt das laute Kesseln die Reflexion.
Geheimgruppe des Bundes will Volksrechte abbauen, titelte die Sonntagszeitung Ende Juni auf ihrer Frontseite. Das klingt dramatisch und verkauft sich gut. Tatsächlich kann man sich darüber streiten, ob es klug ist, dass die Bundeskanzlei eine Arbeitsgruppe im Geheimen über die Zukunft der Demokratie beraten lässt. Aber ebenso gilt: Denken braucht Ruhe, und die findet man nun einmal nicht in der öffentlichen Debatte, sondern im stillen Kämmerlein. So oder so: Wo bleibt das Vertrauen in die Macht der eigenen Stimme, wenn man sich bereits vor dem Einfluss einer Arbeitsgruppe derart fürchtet? Denn noch immer gilt in der Schweiz: Nur das Volk kann seine eigenen Rechte beschneiden. Es hat das letzte Wort.
Wie bei der Frage nach der Rolle der Schweiz in Europa gilt aber auch für die direkte Demokratie: Ist so, weil ist so. Ist so, weil gut so. Bleibt so, weil war immer so. Hintersinnen ist verpönt, denken suspekt.
Dabei würde zum Beispiel, wer nachrechnete, schnell merken: Die Rede vom schleichenden Abbau der Volksrechte ist Mumpitz. Die Volksrechte werden seit Einführung des Initiativrechts klammheimlich ausgebaut. 1891 musste ein Unzufriedener 7,6 Prozent der Stimmberechtigten von seinem Anliegen überzeugen; eine Initiative erforderte damals 50.000 Unterschriften. Heute wären das 394.000. Also fast viermal mehr als die tatsächlich notwendigen 100.000. Die da oben in Bern können immer weniger machen, was sie wollen.
Nun kippen die politischen Debatten bereits ins Okkulte
Doch der zeitgeistige Hurrapatriot will nicht wissen, er will glauben. Auch an die politische Struktur der Schweiz. Also an jene Aufteilung ihres Territoriums, deren Grundzüge ihr ein Fremder aus Paris in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgezwungen hat. Eine Aufteilung, die alles andere als gottgegeben ist. Sondern das Ergebnis einer uralten Machtmaxime: Teile und herrsche.
Zwar werden diesen Herbst die Kantone Basel-Stadt und Basel-Land über die Schaffung eines Verfassungsrats befinden können, der eine Fusion der beiden Stände vorspuren soll. Doch schon jetzt ist klar: Das Ansinnen wird abschiffen. Bleibt so, weil war so. Ob gut so? Egal. Selbst Linke und Liberale lassen lieber die Finger von einer echten Föderalismusdebatte. Einer, die nicht nur das Glasperlenspiel von Hochschulbesoldeten bleibt, sondern die Bevölkerung einbezieht. Statt das Land nach den Realitäten des 21. Jahrhunderts zu ordnen, lebt man lieber weiter in den politischen Grenzen aus dem Pferdekutschenzeitalter.
Wundert es da, dass der politische Diskurs nach und nach ins Okkulte kippt? Dieser Tage befragte ein Wochenblatt für seine Sommerausgabe Schweizer Prominente nach ihren Kraftorten: der Rheinfall, das Löwendenkmal in Luzern, der Tenniscourt neben Roger Federer. Einst hieß es, protestantische Arbeitsethik, bäuerliche Zähheit und Demut hätten den Schweizer Wohlstand geschaffen.
Bald lassen unsere 1.-August-Redner die Energie des Rosenquarzes hochleben!
Kommentare
Was soll Denkmief sein? Sorgt nicht Denken, für frischen Wind?
Dass "die Schweiz sich gerne ihrer Zeit voraus sieht", wäre mir nie aufgefallen, vielleicht liegt es an der Vielfalt (je)der Gesellschaft.
Die Szene aus der Gartenbeiz ist stimmig und durchaus kritiktauglich, aber dann wird’s gar salopp: „Und sie, die immerfort jaulen (…). Der Andersdenkende wird zum Feind, nur noch eine Meinung zählt – die eigene.“
Ja wer sind denn „sie, die“? Wer trägt dann mehr zur Meinungsbildung bei, als die Medien? Und sind diese immer frei von Reflexen? Die „Liberalen“, ob linke oder rechte, welche Swissness voll easy feiern, sind das nicht gerade Medienleute?
Ob Ignoranz und Borniertheit bei EU-Skeptikern besser aufgehoben ist, oder bei Bürokratiefreunden, deren bestes Argument lautet, dass sie „den Anschluss: an eine Welt, an ein Europa im Wandel nicht verpassen“ möchten, wird sich weisen. (Es liessen sich auch weniger dumpfe Attribute finden.)
Dem Autor ist scheinbar zu wenig bewusst, dass Geschichte nicht gradlinig verläuft. Das Dumpfe, Kleinliche und Selbstgerechte nimmt ab und zu, seit je. Wer in den 70er- oder 80er-Jahren Kind war, nimmt man das halt anders war, als wer es in den 50er- oder 60ern war. Der freisinnige Mief der 70er bis 90er war nicht sympathischer und auch nicht harmloser als der volkstümelnde von heute.
Zum Schlusskalauer: Okkultismus wird wie alles Clickgenerierende zunehmend von den Mainstreammedien bewirtschaftet, auf dem Boulevard spielt die Musik. Es müffelt halt nicht nur in den Köpfen mancher Leser.
Mief ist nur was für Neue!
Praktische Idee: Man miefe mal sein Zimmer richtig voll, so mit allen Flati aus den Innereien, Bier-Resten, Angegammeltem aus dem Papierkorb und dazu natürlich die mittlerweile antiken Socken, die auch schon ohne Füsse stehen können. Dann eine Nacht darin schlafen, sicher nicht lüften und am Morgen die bessere Hälfte herein bitten. Gut, die fliegt rückwärts raus oder plädiert für sofortige Trennung, aber erst, wenn man das Fenster selber öffnet, merkt man den Unterschied zwischen inzwischen heimelig gewordener Luft und Frischluft.
Kurz, Mief stellt sich nach kurzer Zeit fast überall ein, besonders, wenn nur mangelhaft durchgelüftet wird. Das ist manchmal der Vorwurf, aber manchmal gehört der Mief zum Fondue oder zum Weihnachtsbaum einfach dazu. Wer dann lüftet, verdirbt die ganze Atmosphäre.
Wenn man selber frische Luft braucht, gibt es die einfache Lösung, einfach mal hinaus zu gehen, notfalls auch weiter weg. Wenn man es gar nicht mehr erträgt, wie den Holzgeruch einer Täfer-Stube, ist sogar Ausziehen nötig. Dann ist vielleicht Bauhaus-Stil eher angebracht.
Man will ja schliesslich glücklich werden und nicht den Rest seines Lebens im Mief verstinken. (Und wenn schon, dann wenigstens im eigenen!) Dann gibt es auch Orte, wo man einfach nicht hingehört. Eine moderne Frau wird ihr Glück im strengen Afghanistan wohl eher nicht finden und jemand der mehr liest, wird selten verstehen, wieso der neue DiY-Baumarkt nebenan so einen grossen Zulauf hat.
Die Welt ist halt verschieden.
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"Es ist das Gefühl vom Sonderfall. Alt-Diplomaten huldigen ihm in ihren Büchern. Rechtskonservative Politiker beschwören ihn in ihren Reden. Selbst zur Linken hält man die eigene Heimat für ein ganz spezielles Stückchen Erde."
Heimatverbundenheit und Nationalstolz sind also heute nicht mehr Grundlage für Demokratie sondern nur mehr dem Volksverrat im Wege....
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"Denn noch immer gilt in der Schweiz: Nur das Volk kann seine eigenen Rechte beschneiden. Es hat das letzte Wort."
Das ist eben nur unzureichender Schutz denn wie man am Beispiel Österreich sah wird eine einmalige Zustimmung unter bestimmter Voraussetzung (Neutralität, Währungsbeibehalt usw.) zu einem Blankoscheck umgemünzt alles abzusegnen.