Manchmal blättert Christian Szczepanski durch seine Krankenakte. Die Liste seiner Krankenkasse umfasst vier Seiten, Schriftgröße neun Punkt, vielleicht auch bloß acht. Die Kategorien lauten Arbeitsunfähigkeitsfälle und Krankenhausfälle. "Das ist schon Wahnsinn", sagt er, "so was von extrem."
5. April 2012: Depressive Episode. 24. Februar 2012 bis 4. April 2012: Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome. So was steht dort.
Ich bin ein Kämpfer, sagt er. Als Betriebsrat eines Industriekonzerns kämpft Szczepanski beinahe täglich für andere. Er kämpft aber auch gegen einen Gegner in seinem Innern. Für sich selber zu kämpfen, sagt er, sei schwerer.
22. November 2011 bis 9. Dezember 2011: Krankheit der Haarfollikel. Hautabszess. Akute Bronchitis. "Der Körper reagiert ja auch auf den Kopf", sagt er. 14. Juni 2011 bis 19. Juni 2011: Schmerzen in den Extremitäten.
Christian Szczepanski ist 52 Jahre alt, in Oberhausen geboren. Sein voller Name soll gedruckt werden, dazu hat er sich entschlossen: Er will nicht einer von Hunderttausenden Arbeitnehmern bleiben, die leiden und schweigen. Er sagt: "Ich will kämpfen. Wer soll es sonst tun?"
Es gibt öffentliche Debatten, wenn sich Prominente zu seelischen Leiden bekennen, Leute wie Bruce Springsteen oder Sven Hannawald. Politiker wie Andrea Nahles mahnen, psychische Belastungen dürften nicht anders betrachtet werden als physische. Initiativen klären Arbeitgeber auf. Studien belegen, dass Depression in die Berufsunfähigkeit führt.
Es gibt aber auch Untersuchungen, die zeigen, dass viele Menschen ihr Leiden verheimlichen: Jeder Dritte ignoriert seine seelische Erkrankung, geht aus Angst zur Arbeit. In manchen Kliniken kann man sich unter einem falschen Namen behandeln lassen.
Und es gibt Christian Szczepanski, der sagt: Aus einem kleineren, mittelständischen Unternehmen wäre er längst raus, betriebsbedingt gekündigt. Sein Finger auf der Krankenkassenliste fährt weiter. "2010 bin ich 161 Tage ausgefallen, da ging es richtig zur Sache, ich war in der Akutklinik und in der Reha", sagt er. 2009 waren es 108 Fehltage: 74, 17, 12, 4, 1.
Szczepanskis Biografie lässt sich auf zwei Arten erzählen.
Erstens: Mit 15 Jahren machte Szczepanski eine Ausbildung zum Chemiefacharbeiter. Er arbeitete im Schichtdienst und bildete sich zum Techniker fort, immer im selben Unternehmen, einem weltweit tätigen Industriekonzern, dessen Name anders als sein eigener aber geheim bleiben soll. 2002 wurde Szczepanski dort zum Betriebsrat gewählt und seit 2003 für diese Arbeit freigestellt.
Zweitens: Szczepanski versuche trotz heraufziehender Depressivität seine Pflichten zu erfüllen, steht in einem nervenärztlichen Gutachten über ihn. Sieben Mal war er schon in psychosomatischen Kliniken. Morgens nimmt er zwei Tabletten, abends eine, um ohne Horrorträume schlafen zu können.
Kommentare
Kaum Zugang zu Hilfe
Arbeiten gehen zu müssen, aber nicht mehr zu können, sich auch noch in Selbstvorwürfe reinzusteigern, warum man nicht mehr normal funktioniert und damit alles noch schlimmer macht, gehört für mich immer zu den fordernden Aspekten einer Depression.
Seit einem schweren Zusammenbruch vor vielen Jahren musste ich mir eingestehen, nicht nur zu viel zu arbeiten, sondern ernsthaft an Depressionen erkrankt zu sein. Die Krankschreibungen waren immer eher von kurzer Dauer, wenige Wochen, nach einem halben Jahr konnte ich eine Psychotherapie machen, die mir tatsächlich mehr gebracht hat als die Medikation, die im ersten Moment zwar das Gröbste abgefedert hat, aber irgendwie persönlichkeitsabschneidend auf mich gewirkt hat.
Es kommen immer mal wieder Phasen, wo ich es selbst nicht merke, erst wenn es zu spät ist. Und dann fehlt ein Ansprechpartner. Der Hausarzt schreibt kurz krank, aber ansonsten betragen die Wartezeiten für Fachärzte in meiner Stadt über ein Jahr. Wer weiß schon, was dann ist.
An meinem Arbeitsplatz reagieren die unmittelbaren Kollegen erstaunlich verständnisvoll und ich kommunziere das Thema offen. Das war früher anders. Allerdings sind meine Chancen auf Anschlussverträge enorm gesunken. Ich hätte mir gewünscht, dass ich vom Arbeitgeber in einer Schwächephase auch mal unterstützt werde so wie ich immer am Wochenende oder nachts ausgeholfen habe, wenn es im Unternehmen mal knapp war.
Die Kraft der Gedanken
Es gibt sie im negativen Sinn ebenso wie im positiven und das bemerkt man erst, wenn man beginnt aus dem schwarzen Gedanken bewusst auszusteigen und sich umzuprogrammieren.
Für mich ist das viel effektiver als jede Dauermedikation, denn der umkippende Schalter sitzt ja auch im Kopf. Mir ist durch Yoga die gesunde und positive Kraft in mir bewusst geworden, ich wurde sensibilisiert für die Blockaden und wenn sich der Fokus beginnt zu verengen.
Dann kann ich die Bremse ziehen und schicke mir zu jedem wuchtigen negativen Impuls einen positiven Gegenspieler. Wenn ich zu denken beginne, dass ich das nicht schaffe, schwach bin oder alles sinnlos, dann sage ich "Stopp" und suche mir die Gegenprogrammierung.
Das erfordert am Anfang viel Selbstbeobachtung und -erkenntnis, aber der Teufel sitzt tatsächlich in einem und ebenso der Erlösung von dieser elenden Spirale.
Es gibt zu jedem Negativsatz ein positives Gegengift, das erfolgreich neutralisiert und Kraft spendet.
Alles Gute! Es ist gut, der Krankheit ihr Stigma zu nehmen
Kraft der Gedanken?
Hallo,
mag sein, daß Ihnen das hilft - bei einer schweren Depression aber braucht es 1) unbedingt professionelle Hilfe und 2) Psychopharmaka!
Die Laberei über die bösen Psychopharmaka hat schon zu viele Menschen das Leben gekostet!
Depressionen sind - im weitesten Sinne - eine Stoffwechselerkrankung des Gehirnes. Niemand käme auf den Gedanken, eine Zuckerkrankheit mit Psychotherapie "heilen" zu wollen. Die Psychotherapie ist sinnvoll v.a. um sich selbst für die Anzeichen einer beginnenden Depression zu sensibilisieren, aber sie ersetzt keine medikamentöse Therapie!
Dauernde Überforderung
In meinem Umfeld sind es vor allem die leistungswilligen, zupackenden und auf Ziele hinarbeitenden Menschen, die in die Falle der Depression laufen. Trennungen, Schichtarbeit und ähnliche Stressfaktoren begünstigen sicher den Krankheitsverlauf -- aber die gab es auch schon früher. Da wurde dann halt zur Flasche gegriffen und das Problem weggesoffen. Soweit muss es heute zum Glück nicht mehr kommen. Dafür bleibt das Stigma der Krankheit.
Dabei liegt das Hauptproblem in meinen Augen ganz woanders: Es gibt einen Menschenschlag, der immer nur fordert und so tut, als ob er selbst wahnsinnig viel arbeitet. In Wirklichkeit sind diese Menschen nur darauf getrimmt, ihre Mitmenschen zu überwachen, ihnen das Leben madig zu machen und dann die Früchte der anderen zu ernten und als ihre eigenen zu verkaufen. Durch die heutige Verdichtung und Digitalisierung der Arbeitswelt ist dieser Typus allgegenwärtig und verfügt über eine zu früheren Zeiten unbekannte Machtfülle (früher konnte man einen Mitarbeiter im Urlaub schlicht nicht anrufen, heute hat jeder ein Handy).
Man findet diese Menschen häufig in Führungspositionen und in der Politik. Sie kriegen selbst so gut wie nie Depressionen. Aber sie machen die anderen krank. Sie benutzen gerne Worte wie "alternativlos" und "Leistungsgesellschaft". Damit meinen sie wohl, es sei alternativlos, dass die anderen in der Gesellschaft endlich mal was leisten.
Büropsychopaten tragen mächtig zu Depressionen von anderen Kollegen bei. Jemenden zu Tode hetzten das ist doch ein belibtes Bürospiel von manchen Kollegen im Büro.
aufhören mit dem was krank macht
Christian Szczepanski sollte sich vielleicht überlegen, ob er sich nicht ganz von der Idee verabschiedet, sich immer wieder in der gleichen Form an ein System anpassen zu müssen, in dem der Untergang, die Katastrophe schon längst zur Methode und zu einem Instrument der Kontrolle geworden ist.
https://www.freitag.de/au...
Vielleicht wäre es ja ganz hilfreich, sich zu vergegenwärtigen, dass der Kampf, den er natürlich weiter führen sollte auch ein Kampf gegen verinnerlichte Normen ist. Und gegen eine Wahrnehmung Welt ist, die von vielen Menschen als Normalzustand in einer Form akzeptiert wird in der er sie selber gar nicht mehr akzeptieren kann. Und das er vielleicht gar nicht so krank ist, wie seine soziale Umwelt, die es gelernt hat, diese Zustände achselzuckend hinzunehmen. Er sollte sich natürlich nicht wegdrängen lassen. Aber er sollte vielleicht versuchen das, was ihn krank macht, oder sein Krankheit zumindest fördert und aufrecht erhält nicht mehr länger für normal und gesund zu halten.
Welt ist ein Fridhof
die Welt ist ein Friedhof, wenn man realisiert, dass man auf einem Friedhof lebt, dann hat man sofort eine Depression