An der Wand neben meinem Schreibtisch hängt eine Fotografie meines Sohnes. Während ich diese Zeilen schreibe, spüre ich seinen Blick auf mir ruhen. Jeder unbefangene Betrachter der Fotografie wird denken: ein glückliches, ein unbeschwertes anderthalbjähriges Kind im Spiel auf einer Wiese. Es lacht offen und erwartungsvoll, sein Blick weist es als geliebtes Kind aus.
Jeder befangene Betrachter, jeder Betrachter, der weiß, dass dieses Foto meines Sohnes etwa einen Monat vor der Diagnose des Hirntumors aufgenommen wurde, wird die Fotografie nach der Spur seines schon im Moment der Aufnahme unvermeidlichen Todes befragen. Mein Sohn war noch am Leben und trug doch, wenn auch unsichtbar, das Urteil seines nahen Sterbens in sich. Jede Fotografie ist eine Katastrophe, schreibt der Philosoph Roland Barthes, wir sehen darin immer auch den Schrecken einer in der Vergangenheit liegenden Zukunft. Eine Wirklichkeit, die nicht länger existiert, die, im Moment der Aufnahme, da war, nun aber unerreichbar weit weg ist. Deswegen berührt uns die Fotografie eines verlorenen Objekts wie das verspätete Strahlen eines längst erloschenen Sterns.
Die Fotografie meines Sohnes lässt mich wieder und wieder seinen noch bevorstehenden Tod durchleben. Dieses katastrophische und doch so nötige (weil sich der verlorenen Wirklichkeit trotzig vergewissernde) Foto neben meinem Schreibtisch führt mich wieder und wieder in jene Zeit zurück, in der Emil, von gelegentlichem Erbrechen abgesehen, scheinbar gesund und doch bereits verloren war; in die Zeit, als ich meine neue Partnerin N. gefunden hatte und mit Emil aus Kolumbien nach Berlin heimkehrte. Mit Emil war ich zu Besuch in N.s Heimat gewesen, und zu dritt wollten wir bald schon in Deutschland leben.
Doch das Foto sagt: Emil ist tot, und er wird sterben.
Während des kurzen Fußwegs vom Auto zum Krankenhaus trug ich Emil, in eine Decke gewickelt, eng auf meinem Arm, wie so häufig in jener Zeit, als es ihm schlecht und schlechter ging. Im Licht der Leuchtstoffröhren, die sich auf dem Boden der Krankenhausgänge spiegelten, folgte ich den Ausschilderungen zur Notaufnahme, Emil auf meiner einen Schulter und auf der anderen ein Rucksack, gepackt mit dem Nötigsten für ein, zwei Nächte. Ich war sicher: Die deutschen Ärzte würden, anders als ihre kolumbianischen Kollegen, endlich dem Erbrechen und der Apathie meines Kindes auf den Grund kommen. Nach kurzer Wartezeit die Anamnese: Spontangeburt in der 39. Schwangerschaftswoche, alle Impfungen, bislang keine besonderen Erkrankungen, unregelmäßiges, meist abendliches Erbrechen mit Episoden der Besserung und Verschlechterung, kein Fieber, kein Durchfall.
"Woran ist Emils Mutter gestorben?" – "An einem Hirntumor."
Der junge Kinderarzt verschluckte sich an seiner Frage, ob Emil in den 18 Monaten seines Lebens "sonst etwas Schlimmes passiert" sei, brachte meine Schilderung der Symptome zu Papier, nahm Emil Blut ab, und Emil erbrach, durch den Eingriff unruhig geworden, Teile seines morgendlichen Milchfläschchens auf den Untersuchungstisch. Routiniert wischte ich das Erbrochene mit einem Papierhandtuch auf und wusch mir die Hände. Auf meiner Jacke und auf dem Sofa im Wohnzimmer finden sich heute noch weiße Flecken erbrochener Milch.
Kommentare
Mein Gott!
Zitat: "Was haben Sie getan, dass Gott Sie so bestraft?" Zitatende
Ein Arzt, der eine solche Frage stellt, der ist für diesen Beruf definitiv ungeeignet.
Was für ein unglaubliches *Netiquette*!
Wie kann man einem Angehörigen eine solche Frage stellen und damit riskieren, dem Angehörigen Schuldgefühle einzureden? Dieser Arzt sollte auf Metzger umschulen!
@Autor: Es tut mir furchtbar leid, was Sie mitmachen mussten. Ich werde morgen nach der Messe eine Kerze für Sie, Ihre Frau und Ihr Kind anzünden und für Sie um Gottes Beistand beten. Ich kann mir nicht erklären, warum Gott so etwas zulässt, aber vielleicht ist mein Menschenhirn dafür einfach zu eingeschränkt.
Machen Sie es besser...
und beurteilen sie Ärzte die sie nicht kennen nicht.
Zum Fall:
Respekt und Anerkennung an dieser Situation nicht einfach zu zerbrechen.
Eine Tragödie
Es hat sehr geschmerzt, diesen Artikel zu lesen und mir fallen keine angemessenen Worte der Anteilnahme ein.Es gibt keine.
Ich hoffe, dass der Autor in N eine Stütze findet.
Ich habe...
...den Bericht nicht ganz zu Ende lesen können. Ich habe das nicht bis zum Ende ausgehalten.
Meine Gedanken sind bei Ihnen. Mehr kann ich nicht sagen.
Es fällt schwer, ...
... den Artikel zu lesen. Insbesondere, wenn man selbst Kinder hat! Der Schmerz, die Trauer, die Wut müssen unvorstellbar sein. Ich denke an Sie, Herr Krauth, und wünsche Ihnen, irgendwann wieder nach vorne blicken zu können! Ihre Schilderungen werden mich für eine ganze Weile nicht mehr loslassen.
Ich habe den Artikel gelesen, während ich meinen Sohn (der ebenfalls Emil heißt) in den Schlaf gestreichelt habe ... So viel Dankbarkeit für mein gesundes Kind angesichts der oft doch etwas lästigen Prozedur des Zum-Einschlafen-Bringens habe ich lange nicht mehr empfunden ...