"Bitte weiterflüchten" war in den vergangenen Wochen immer wieder auf den Transparenten der Pegida-Wutbürger zu lesen – eine Aufforderung, die an Zynismus kaum zu überbieten ist. Zugleich zeugt sie von einer erschütternden Vergesslichkeit, denn viele, die derzeit von "Überfremdungsängsten" getrieben auf die Straße gehen, verdrängen offenbar, dass ihre eigenen Eltern oder Großeltern nach 1945 als Flüchtlinge ins besetzte Nachkriegsdeutschland kamen.
Leicht hatten es die Zuflucht Suchenden auch damals nicht. Dennoch ist ihre Integration auf lange Sicht gelungen, und über die Jahre haben die Entwurzelten aus dem Osten Deutschland zu einem anderen Land gemacht. Die Bundesrepublik, wie wir sie heute kennen, ist ohne sie nicht zu denken. Daran zu erinnern könnte Ängste und Befürchtungen nehmen, ja Empathie für Menschen wecken, die heute ihre Heimat verlieren. Mehr noch: Angesichts brennender Flüchtlingsheime und der Aufmärsche selbst ernannter Wächter des Abendlandes scheint es 70 Jahre nach Kriegsende geradezu zwingend, den Blick zurückzurichten.
Kürzlich war in London die Ausstellung Germany. Memories of a Nation im British Museum zu sehen. Unter den Objekten, die dort die deutsche Geschichte repräsentierten, war auch ein Handwagen, mit dem eine deutsche Familie 1945 aus Pommern in den Westen floh. In London, scheint es, hat man die Bedeutung des Fluchtgeschehens für die deutsche Gesellschaft besser erkannt als hierzulande.
Bis zu 14 Millionen Deutsche verloren 1945 ihre Heimat. Ihre Vertreibung war die Konsequenz der barbarischen deutschen Besatzungsherrschaft während des Zweiten Weltkriegs. Aus Ostpreußen, Pommern, Schlesien, Böhmen, aus der Zips, aus Reval, aus Siebenbürgen, aus der Dobrudscha machten sie sich auf den Weg nach Westen. Es kamen Deutsche zu Deutschen. Ihre kulturellen und mentalen Prägungen aber waren gänzlich andere als die der Menschen hierzulande. So trafen in den vier Besatzungszonen nach 1945 Bauern aus dem ukrainischen Wolhynien auf urbane Rheinländer, Breslauer Großbürger auf Oberbayern vom Lande. Dialekte, Mentalitäten, Konfessionen und Sozialisationen – die Differenzen konnten kaum größer sein.
Die Vertreibung der Deutschen bildete ein wichtiges Kapitel jener großen europäischen Erzählung von Zwangsmigration, die mit den "ethnischen Säuberungen" nach dem Ersten Weltkrieg begann und 1945 ihren Höhepunkt erreichte – 60 bis 80 Millionen Heimatlose zählte man damals in Europa. Bis heute setzt sich diese Geschichte von Flucht und Vertreibung fort. Abertausende Flüchtlinge wagen den Weg über das Mittelmeer: Vertriebene aus Syrien, aus dem Irak, aus Libyen oder Darfur. Ruchlosen Schleppern ausgeliefert, versuchen sie, auf herrenlosen Booten ihr nacktes Leben zu retten. In Tausenden Fällen gelingt nicht einmal das. Verdurstet oder elendig ertrunken, werden sie an den Küsten der europäischen Urlaubshochburgen an Land gespült, gescheitert vor der Festung Europa. Mehr als 3.000 starben allein 2014.
Aus diesem Anlass erinnerte Günter Grass kürzlich auf einem PEN-Kongress in Hamburg an die Not am Ende des Zweiten Weltkrieges und vor allem an die Zwangseinquartierungen jener Jahre. Was, wenn heute die Deutschen gezwungen würden, Flüchtlingen in ihren behaglichen Eigenheimen Obdach zu geben? Die bloße Vorstellung wirkte wie eine ungeheuerliche Provokation. Doch Grass erinnerte zu Recht an die reale Lebenswelt im Deutschland der Nachkriegszeit, als Heimatlose, zu denen auch der gebürtige Danziger selbst zählte, in dieses Land kamen.
Ihre ersten Erfahrungen in der neuen Heimat waren oft bitter. "Verschwinds, damisches Gesindel", entgegnete man im Chiemgau dem Flüchtlingsjungen Olaf Ihlau aus Ostpreußen, der sich später als Journalist und Autor einen Namen machte. Manchmal ließ man die Hunde von der Kette. "Flüchtlingsschweine" und "Polacken" schimpfte man Vertriebene wie die Ihlaus. Dabei waren sie, allein auf sich gestellt, auf das Mitleid fremder Menschen in einer fremden Umgebung angewiesen. Dass sie als "Zigeuner" oder "Gesindel" bezeichnet wurden, entsetzte und erbitterte viele von ihnen. "Die drei großen Übel, das waren die Wildschweine, die Kartoffelkäfer und die Flüchtlinge", sagte man im Emsland über die Zeit nach dem Krieg. Kein Wunder, dass die Zwangseinquartierung von Vertriebenen mancherorts den sozialen Frieden gefährdete. Besatzungssoldaten mussten die Einheimischen nicht selten mit vorgehaltener Maschinenpistole zwingen, Familien bei sich aufzunehmen.
Viele Flüchtlinge waren regelrecht traumatisiert. Oft hatten sie Angehörige zurücklassen müssen und waren Opfer von Gewalttaten geworden. Christoph Hein, selbst aus Schlesien stammend, hat in seinem Roman Landnahme das Dilemma der Neuankömmlinge treffend beschrieben: "Aus ihrem Land waren sie vertrieben worden, und in unserem wurden sie nicht heimisch. Sie hatten sich bei uns niedergelassen, sie hatten in unserer Stadt ihr Quartier aufgeschlagen, aber eigentlich bewohnten sie ihre verschwundene Heimat. Fortwährend sprachen sie darüber, was sie alles verloren hatten, und davon wollte keiner in der Stadt etwas hören."
Kommentare
Seltsam ...
Bei NS-Verbrechen herrscht bekanntlich ein striktes Relativierungsverbot; dafür gilt bei Verbrechen, die an Deutschen verübt wurden, anscheinend geradezu ein RelativierungsGEbot...
Keine Frage: Das Verhältnis zwischen Kriegsflüchtlingen und Alteingesessenen war nicht einfach, das weiß ich auch aus eigener Familiengeschichte. Aber wie kommt man bloß dazu, Deutsche, die geschlossen aus dem damaligen Deutschland in andere Teile Deutschlands vertrieben wurden, einfach so gleichzusetzen mit jungen Männern, die über tausende Kilometer und durch dutzende Länder hindurch ins ferne Deutschland migrieren?
Sind aus Deutschland vertriebene Deutsche etwa damals nach Syrien oder in den Libanon geflüchtet?
Zu keiner Zeit wurde, zumindest von ernstzunehmenden Zeitgenossen, infrage gestellt, dass es sich bei den Flüchtlingen und Heimatvertriebenen um deutsche Staatsbürger handelte, die in diesem Land die Bürgerrechte innehaben, und dass die Deutschen als Schicksalsgemeinschaft das historische Erbe gemeinsam zu tragen haben.
Warum tut der Autor nicht das Naheliegende und vergleicht die heutigen "Flüchtlinge" mit den europäischen Auswanderern der vergangenen Jahrhunderte nach Übersee?
An diesem Text sieht man sehr schön,
a) zu welchen Realitätsverbiegungen und angestrengten Ausblendungen ein ideologisch motivierter Autor fähig ist, und
b) dass man die Beweggründe mancher Pegida-Leute eben nicht einfach als "diffuse Ängste und Sorgen" abtun kann, sondern dess es um ganz zentrale Grundsatzfragen zum Selbstverständnis dieses Landes geht. Wegen solcher Texte beschert man "Pegida" unnötigen Zulauf.
Die Existenz von - aufgrund gemeinsamer, kollektiver historischer Erfahrungen - gewachsenen Schicksalsgemeinschaften, die Zugehörigkeit von Menschen zu bestimmten ethnisch-religiös definierten Gruppen wird hier schlichtweg ignoriert, weil es sowas in der Welt des Autors anscheinend nicht geben darf. Daraus ergibt sich u.a. der Folgefehler, dass zwischen Menschenrechten und Bürgerrechten nicht unterschieden wird. So etwas wie Bürgerrechte lehnt Kossert anscheinend ab, weil dann ja nicht alle Menschen gleich wären...
Alle Menschen genießen Menschenrechte.
Deutsche genießen auch Menschenrechte, aber zusätzlich - in Deutschland - eben auch noch die Bürgerrechte. Nicht-Deutsche haben in Deutschland keine deutschen Bürgerrechte. Das ist auch nicht weiter schlimm, denn dafür genießen sie in der Regel die Bürgerrechte eines anderen Staates, es sei denn, sie sind staatenlos.
Staatsbürgerschaften anderer Länder können grundsätzlich genau so attraktiv und wertvoll sein wie die deutsche Staatsbürgerschaft. Es kommt halt nur darauf an, was die jeweiligen Bevölkerungen aus ihren Ländern machen.
ff.
Zu den Zitaten:
"Die Siedlungshäuser der frühen Bundesrepublik versinnbildlichen noch heute die tief greifenden Veränderungen, die unser Land durch die Ankunft dieser Heimwehkranken erfahren hat. Alte Dorf- und Stadtkerne wurden aufgebrochen, an der Peripherie entstanden neue Quartiere. Hier wohnten die neuen Deutschen in neuen Häusern [...]"
Wie kommt man bloß darauf, Schlesier und Ostpreußen als "neue Deutsche" zu bezeichnen? Denken Sie doch mal scharf nach, Herr Kossert, warum diese Menschen vertrieben wurden? WEIL sie Deutsche WAREN!
"Auch die religiöse Landkarte Deutschlands veränderte sich durch die Vertriebenen, wie seit den Tagen des Dreißigjährigen Krieges nicht mehr. Wenn Protestanten aus dem Osten auf Katholiken aus dem Westen trafen, konnte es selbst in den fünfziger Jahren noch zu tumultartigen Szenen kommen. Doch mit der Zeit trug das Zusammenleben zu einem neuen, entspannteren Miteinander der Konfessionen bei."
Hier werden mal eben zwei konfessionelle Varianten ein und desselben westlichen Christentums zu "unterschiedlichen Religionen" hochgejazzt, um die erheblichen kulturellen Unterschiede innerhalb unserer heutigen Bevölkerung zu relativieren.
Das Osmanische Reich oder Jugoslawien zeigen, was wirkliche religiöse Unterschiede sind.
Und wie kann es sein, dass ein "entspanntes Miteinander der Konfessionen" auch in Ländern wie Frankreich funktioniert, wo die doch die bereichernde Erfahrung der Vertreibung doch gar nicht hatten?
Und dieser kleine Einwurf durfte natürlich auch nicht fehlen:
Besatzungssoldaten mussten die Einheimischen nicht selten mit vorgehaltener Maschinenpistole zwingen, Familien bei sich aufzunehmen.
Klaro, mal wieder die mythische Überhöhung des alliierten Soldaten zum edlen Helden und selbstlosen Heilsbringer. Es bleiben aber Restzweifel, ob der alliierte Soldat, der noch kurz vor Kriegsende einen am Wegesrand liegenden Bauernhof in Brand schoß, die Mädchen des Dorfes vergewaltigte und die Brüder, Söhne und Väter an die Wand stellte, dabei wirklich "die Befreiung der Deutschen vom NS-Regime" im Sinn hatte...
Nach etwas Beruhigung
Außer Frage steht: Deutschland kann und muss auch seiner Verantwortung "modernen" Flüchtlingen und Asylbewerbern gegenüber nachkommen. Es kann Hilfe leisten, und: Das tut es auch! Deutschland ist sogar führend in der Aufnahme von Flüchtlingen. Das ist ein Grund, stolz zu sein. Deutschland und seine Bevölkerung sind schon lange solidarisch und übernehmen Verantwortung für Menschen mit Herkünften aus vielen verschiedenen Ländern. Da könnten sich manch andere Länder eine Scheibe von abschneiden.
"Geschichtsbeugung" wie diese, mit der Brechstange, ist aber ein "nicht hilfreicher" Debattenbeitrag! Sie wird nur die Positionen derjenigen stärken, die Herr Kossert eigentlich bekämpfen möchte (Pegida).
Natürlich wird es immer unterschiedliche Betrachtungsweisen in der Geschichtsschreibung geben, aber Historiografie ist eine Wissenschaft und sollte nicht für einen "Kampf gegen Rechts" verzweckt und für tagespolitische Agenden zurechtgebogen werden. So edel die Motivation und so wichtig das Anliegen auch sein mag, aber dieser Artikel ist ein Ärgernis.
Ist das so
"Deutschland ist sogar führend in der Aufnahme von Flüchtlingen."
Ist es das? Im Vergleich zu wem? Und vor allem: Relativ zur Einwohnerzahl/zum Reichtum des Landes? Oder nur in absoluten Zahlen?
Deutsch-Sein heißt Migrant-Sein?
Die Kernaussage des Artikels läßt sich folgendermaßen zusammenfassen:
"Wir sind alle Migranten / Flüchtlinge."
Der Widerspruch dieser Forderung ist der folgende:
Einerseits sollen die Deutschen sich also abgewöhnen, einen Unterschied zu machen zwischen Deutschen und Nicht-Deutschen. Sie sollen das Bewußtsein ablegen, einer aufgrund kollektiver Erfahrungen über Jahrhunderte gewachsenen Schicksalsgemeinschaft anzugehören. Sie sollen also ihre Herkunft und Geschichte ausblenden, um sich mit Migranten zu identifizieren.
Andererseits aber wird genau EIN Aspekt, EIN Kapitel dieser kollektiven Erfahrung herausgepickt, um eine "neue deutsche Identität" zu begünden: Nämlich die der Erfahrung von Flucht und Vertreibung. Wir sollen uns also, was NS-Zeit, Zweiter Weltkrieg und Nachkriegszeit angeht, nun plötzlich doch über die Geschichte und Herkunft identifizieren.
Das geht aber nicht. Selektive Erinnerung ist unmöglich. Die Geschichte ist nur als Ganzes zu haben. Man kann sie nicht auf einen Einzelaspekt reduzieren. Man kann nicht die Erinnerung an ein ausgewähltes Kapitel deutscher Geschichte überbetonen, dann aber gleichzeitig unterschwellig verlangen, den "gesamten Rest" der kollektiven Erinnerung aus dem Gedächtnis zu tilgen, damit Migranten nicht-deutscher Herkunft nicht ausgegrenzt werden und Gelegenheit bekommen, Deutsche zu werden.
Entweder gibt es "die Deutschen", oder es gibt sie nicht. Da sollte der Autor eine Entscheidung treffen.
le boche payera tout: Den Hauptwiderspruch herausgearbeitet
"Einerseits sollen die Deutschen sich also abgewöhnen, einen Unterschied zu machen zwischen Deutschen und Nicht-Deutschen. Sie sollen das Bewußtsein ablegen, einer aufgrund kollektiver Erfahrungen über Jahrhunderte gewachsenen Schicksalsgemeinschaft anzugehören. Sie sollen also ihre Herkunft und Geschichte ausblenden, um sich mit Migranten zu identifizieren.
Andererseits aber wird genau EIN Aspekt, EIN Kapitel dieser kollektiven Erfahrung herausgepickt, um eine "neue deutsche Identität" zu begünden: Nämlich die der Erfahrung von Flucht und Vertreibung. Wir sollen uns also, was NS-Zeit, Zweiter Weltkrieg und Nachkriegszeit angeht, nun plötzlich doch über die Geschichte und Herkunft identifizieren."
Hier dürfte wohl der Hauptwiderspruch der gesamten Pro-Asyl-Propaganda liegen: Immer dann, wenn es sich zum Nachteil Deutschland auswirkt bzw. wenn daran konkrete materielle oder politische Forderungen an das Land gestellt werden, gibt es auf einmal eine kollektive deutsche Identität und Kultur, aus der dann die Verantwortung der heute lebenden Generation für die begangenen Verbrechen während der NS-Zeit sowie die Durchsetzung der o.g. Forderungen hergeleitet werden.
Geht es aber um Forderungen von bestimmten Migrantengruppen, die Kultur ihrer Herkunftsländer hier in Deutschland leben zu dürfen bzw. um die Frage nach deren Vereinbarkeit mit der deutschen, gibt es gemäß dieser Argumentation auf einmal keine kollektive deutsche Identität und Kultur. Was stimmt denn nun?