Auf der Tür eines alten Berliner Cafés stand vor ein paar Jahren noch in abblätternder Druckschrift geschrieben: "Gelegentliche Tanzveranstaltungen". Das Café gibt es nicht mehr. Die Tür ist jetzt eine Glastür, die automatisch auf- und zugeht. Alles verschwindet. Aber die einst dort annoncierte Gelegentlichkeit wird noch Karriere machen, als das nächste große Ding für alle, die mit den Zumutungen der Gegenwart zurechtkommen wollen.
Ich komme darauf, weil mir eine Freundin gelegentlich berichtet, wie sie sich gelegentlich mit ihrem Lover trifft. Immer im selben Hotel. Aber ohne feste Termine. "Manchmal schlafen wir ein paar Wochen lang nicht miteinander", sagt sie. "Wir hören in der ganzen Zeit nicht mal was vom anderen." Dann ergibt es sich aber doch irgendwie. Nicht ganz per Zufall. Aber auch nicht richtig geplant. Alles läuft eben gelegentlich. "Und deshalb", sagt sie, "ist das Gelegentliche immer toll."
Man sollte sich diese Freundin als glücklichen Menschen vorstellen. Und ihren Liebhaber wahrscheinlich auch. So glücklich, wie es jene Gäste wohl waren, die in dem alten Berliner Café tanzen durften, ohne fest damit gerechnet zu haben. Vielleicht dachte man damals, die lassen sich treiben. Heute weiß man: Das waren Artisten der Gelegentlichkeit, die den Zumutungen der Gegenwartskultur ein Schnippchen schlagen, indem sie dem Zwang zur Präsenz, dem Muss des Dabeiseins entwischen.
Von ihnen kann man lernen. Dank technischer Hilfen plaudert, arbeitet, lebt man heute ja auf vielen Ebenen zugleich. Und je vernetzter das Medium, umso stärker nährt es das eigenartige Gefühl, man könnte etwas versäumen. Wer bei Twitter oder Facebook präsent sein will, stellt sich schnell darauf ein, dass selbst die Beiträge, die erst ein paar Sekunden alt sind, auf der Timeline nach unten verschwinden. Oben erscheinen in schneller Folge die nächsten. Allein in ihrem Tempo liegt das Versprechen, dass bald etwas Besseres kommt und die Aufmerksamkeit lohnt. Bleiben Sie dran, gleich geht es weiter! Die Gemütsverfassung des Gegenwartsmenschen ist permanente Erwartung.
Die Artisten des Gelegentlichen machen da nicht richtig mit. Sie entkommen dem Stress, der mit dem Zwang zum Nächsten verbunden ist. Allerdings ohne auf das Nächste zu verzichten. Wahrscheinlich gibt es ziemlich viele von ihnen. Wir wissen es nur nicht so richtig. Weil wir sie ja nur gelegentlich sehen.
Mein Hausmeister zum Beispiel gehört mit großer Wahrscheinlichkeit dazu. Er beherrscht die Kunst des unberechenbaren Erscheinens perfekt. Wenn es was zu reparieren gibt, beginnt man am besten selbst damit. Wahrscheinlich stößt er dazu, ehe man fertig ist. Oder die Kellnerin aus meinem Lieblingscafé, die nur ab und zu Bestellungen aufnimmt, einem aber gerne im Vorbeigehen etwas auf den Tisch stellt, das man nicht wollte, aber wohl bestellt hätte, wenn man von ihr beraten worden wäre. Oder wie eine meiner Studentinnen, deren Gesicht ich immer wieder vergesse, weil sie so selten kommt. Und wenn, dann kommt sie nur, um sich in die Anwesenheitsliste einzutragen und dann eine brillante Zusammenfassung der letzten Sitzungen, bei denen sie nicht da war, zu geben – mit kritischem Ausblick auf die nächsten Wochen, in denen sie wohl nicht kommen wird. Angeblich ist die Studentin mit einem Künstler zusammen, der aufgehört hat, Kunst zu machen, aber doch noch irgendwie Kunst macht, allerdings nur ab und zu. Er findet, zur wahren und echten Kunst macht sie erst, dass sie nicht erwartbar ist.
Die Artisten der Gelegentlichkeit nehmen zur Kenntnis, dass die Leute um sie herum in immer kürzerer Zeit immer mehr Leute treffen, um immer mehr Sachen zu erledigen. Sie sehen auch, wie sich der eigene Kalender mit derart vielen Terminen füllt, dass sie überlappen und eigenartige Muster ergeben. Das bedrängt sie aber gar nicht; eher finden sie es amüsant. Lädt man sie ein, dann sagen sie zu, kommen aber nicht. Oder nur kurz. Oder nur zwischendurch. Oder sie treten auf und scheinen im selben Moment schon wieder zu verschwinden.
Kommentare
Lang ist es her, da hörte ich einen Witz. Ein Beamter machte einen Erlebnisurlaub und war dran Kartiffeln zu schälen Er sollte nur große Kartoffeln wählen. Nach mehreren Stunden war nicht eine Kartoffel geschält. Er konnte sich nicht entscheiden welche Kartoffel groß oder klein war.
Der gesellschaftliche Wert der Personen der Gelegentlichkeit dürfte gegen Null tendieren. Alles wird unplanbar. Die einzige unterstellbare Konstante dürfte sein.: Die Person sintzt am Handy und sichtet Whats App Nachrichten um sich dann irgendwann zu entscheiden weiter zur arbeiten. Solche Leute stellt man leicht mal versehentlich ein.
Da habe ich mal eine Frage an Sie: Welchen gesellschaftlichen Wert schätzen Sie sich zu?
Ansonsten: Den Artikel haben Sie wohl offensichtlich nicht verstanden.
Gelegentlich erscheinen interessante Artikeln auf ZON. Witzig aber wahr!
Ganz prima geschrieben! Das wahre Glück - und das glaub ich auch - gehört den Gelegentlichen. Kosten, dippen, vielleicht, vielleicht auch nicht...
Ja, es gibt ihn, diesen Menschenschlag, der sich selbst die Freiheit gönnt, sich möglichst nie auf irgendetwas festzulegen, sich bis zuletzt sämtliche Optionen offen zu halten und durchs Leben "zu schweben", wie der Autor beschreibt.
Kann bei Konsumverhalten und ähnlich privatem noch OK sein. Dem ist dann, wie beim Autor geschehen, sogar etwas löbliches abzugewinnen. So aus diesem momentan so furchtbar angesagten nonkonformistischen, StressKonsumGesellschaft-verweigerndem Blickwinkel.
Wer allerdings das zweifelhafte Vergnügen hat, solche "wenn man sie einlädt, sagen sie zu - kommen aber nicht [...]" Knalltüten in seinem Freundeskreis zu haben, stellt nach kurzer Zeit genervt fest: diese Zelebrierung des Gelegentlichen und Sprunghaften kann nur auf dem Rücken von Mitmenschen funktionieren, die, wenn spontane Entschlüsse zu diesem oder jenem fallen, dieses auch ermöglichen.
Etwa indem sie dem Kellner irgendwie doch noch einen zusätzlichen Platz in der vor Tagen reservierten überfüllten Bar aus den Rippen leiern, einen bereits in Marsch befindlichen Konvoi aus drei PKW jetzt doch über XYZ umleiten, um unsere ab-und-zu-Lebenskünstler aufzugabeln, während alle anderen pünktlich per ÖPNV am vereinbarten Treffpunkt waren usw. usf.
Man kann das Lebenskunst nennen. Oder einfach die Arroganz, anderen Personen die Folgen des eigenen Treiben-Lassens aufladen zu wollen. Ein toller Tag am Bergsee mit Freunden, Hütte und kühlem Bier muss von irgendwem organisiert werden.
Genau meine Gedanken, nur besser formuliert. Danke.