In Gustavs erstem Kindergartenjahr hatte Claudia Karbe manchmal das Gefühl, nicht Mutter, sondern Krankenpflegerin geworden zu sein. Schnupfen, Husten, Hand-Fuß-Mund-Krankheit – schon während der Eingewöhnungszeit in der Krippe begann ein Staffellauf der Infekte. Er wollte kein Ende nehmen und beutelte die ganze Familie. Claudia Karbe machte Wadenwickel gegen das Fieber, Zwiebelsaft gegen den Husten und schnäuzte die ständig laufende Nase. Ihrem Sohn und sich selbst.
"Gustav hat nur ein bisschen gehustet, ich hatte dann gleich eine Bronchitis", sagt die 35-Jährige. Sie reichte die Infekte an ihren Freund Hannes weiter. War der auf dem Weg der Besserung, lief Gustav schon wieder die Nase. 37 Gustav-Krankentage zählte Claudia Karbe im ersten Kindergartenjahr, jeden Monat gab es eine kleine Familien-Epidemie. Die Tage, an denen sie selbst krank war, notierte sie erst gar nicht. Zur Arbeit ging sie meistens trotzdem.
Die ersten Jahre mit dem Nachwuchs scheinen zuweilen nur aus Rotz, glasigen Kinderaugen und Magen-Darm-Infekten zu bestehen. Ist das erste Kind aus dem Gröbsten raus, kommt das zweite in die Krippe, und das Spiel beginnt von Neuem. Vor allem vor den Wintermonaten graust es vielen Eltern, dann beginnt die Hochsaison der Familienseuchen. Schon ab September registrieren Mediziner eine allmähliche Zunahme von Atemwegsinfekten, die von Woche zu Woche mehr Menschen schniefen und husten lassen. Kurz nach Neujahr rollt dann mit Macht die Grippewelle durchs Land, und der Krankenstand erreicht seinen Höhepunkt. Wird es im Frühling wärmer, lässt das Hust- und Schnupfgeschehen nach. Dafür kommen die Durchfallerreger. In der Infektsaison sehen Eltern ihren Kinderarzt manchmal häufiger als die besten Freunde.
"Kleine Kinder haben den Erregern wenig entgegenzusetzen", sagt der Pädiater Ulrich Neumann. "Ihr Immunsystem muss erst noch üben, Keime wie Bakterien und Viren abzuwehren." Der 70-jährige Hamburger ist ein erfahrener Kinderarzt. In seiner Praxis hat er über Jahrzehnte hinweg erlebt, was der Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte bestätigt: Bis zu zwölf Infekte pro Jahr sind bei Kleinkindern völlig normal. Und obwohl die Erreger aus der Kita manchmal die ganze Familie in den Ausnahmezustand versetzen, sind sie unverzichtbar. Denn das Immunsystem des Kindes muss trainieren.
In den ersten Monaten nach der Geburt profitieren Säuglinge noch vom Nestschutz der Mutter, die während der Schwangerschaft eine Art Leihimmunität an ihr Kind weitergibt. Die Antikörper der Mutter schützen das Kind zwar nicht vor allen Erregern, aber immerhin vor Masern, Röteln und vielen anderen Viruserkrankungen. "Nach etwa einem halben Jahr sind die mütterlichen Antikörper verbraucht", sagt Neumann. "Dann müssen sich die Kinder selbst mit ihrer Umwelt auseinandersetzen."
Es ist ein wenig, als müsste man die F-Jugend für die Fußball-WM trainieren. Am Anfang sieht es nach einem aussichtslosen Unterfangen aus, im Team herrscht Chaos, und jeder gegnerische Angriff endet mit einem Tor. Aber die Mannschaft wird besser, Spiel für Spiel, Infekt für Infekt. Am Ende steht ein erfolgreiches Immun-Team mit Sturm, Mittelfeld und Abwehr, das nicht jede Begegnung für sich entscheidet, aber die meisten.
Das Kadertraining beginnt so richtig, wenn der Nachwuchs in die Kita kommt und dort mit einer geballten Menge von Erregern aus anderen Rotznasen konfrontiert wird. Der klassische Verlauf, sagt der Hamburger Kinderarzt Neumann. Die Eltern gewöhnen das Kind mit einem Jahr in die Krippe ein, Mutter und Vater fangen wieder an zu arbeiten – "und dann kommen die Infekte". Wäre es da nicht besser, die Kleinen länger zu Hause zu behalten? Trugschluss, sagen Experten. So zeigte eine kanadische Studie, dass das kindliche Immunsystem profitiert, wenn es möglichst früh mit vielen Erregern trainiert. Kinder, die schon vor dem Alter von zweieinhalb Jahren eine Krippe oder einen Kindergarten besucht haben, sind demnach in der Grundschulzeit gesünder und fehlen seltener im Unterricht.
Wer früh übt, wappnet sein Immunsystem zudem nicht nur gegen Schnupfen und Dreitagefieber. Das fanden Forscher von der Berliner Charité und der Uni-Klinik München heraus, die in den neunziger Jahren mehr als 1.300 Kinder von der Geburt bis zum 7. Lebensjahr begleiteten und ihre Infekte dokumentierten. Das Ergebnis: Kinder, die schon vor dem ersten Geburtstag mindestens zwei Virus-Infektionen durchgemacht hatten, litten später nur halb so häufig an Asthma wie Kinder, die in dieser Zeit infektfrei waren. Diese Ergebnisse gelten allerdings nur für harmlose Erkrankungen, die nach einigen Tagen überstanden sind. Von Infektionskrankheiten wie Masern oder Röteln können Kinder bleibende Schäden davontragen. Nicht umsonst gibt es dafür Impfempfehlungen.
Kommentare
Bitte liebe Eltern, gebt den Kindern Zeit gesund zu werden!
Und vor allem auch sich selbst!!
''Tage, an denen sie selbst krank war, notierte sie erst gar nicht. Zur Arbeit ging sie meistens trotzdem.''
Wenn der Chef das mitkriegt gehört sie gefeuert. Die steckt nachher die halbe Belegschaft mit dem Virus an und die Firma ist nicht mehr handlungsfähig. Es sollte gesetzlich verboten werden bei Krankheit auf Arbeit zu erscheinen.
Man schadet damit dem Unternehmen lediglich.
Einfach schön zu Hause Tee trinken ist für alle das Beste.
"Schon nach dem dritten Geburtstag geht es steil bergauf."
Und nicht nur deshalb ist es auch besser die Kinder bis zum dritten Lebensjahr zuhause zu lassen. Aber das passt ja nicht in die neoliberale Weltordnung.
Und wo bekommen sie bis dahin die ganzen Bakterien und Viren her, um ihr Immunsystem aufzubauen? Damit verschiebt sich doch alles nur nach hinten.
"Und nicht nur deshalb ist es auch besser die Kinder bis zum dritten Lebensjahr zuhause zu lassen. Aber das passt ja nicht in die neoliberale Weltordnung."
Haben Sie den Artikel gelesen - da steht das Gegenteil von dem, was Sie geschrieben haben.
"Der klassische Verlauf, sagt der Hamburger Kinderarzt Neumann. Die Eltern gewöhnen das Kind mit einem Jahr in die Krippe ein, Mutter und Vater fangen wieder an zu arbeiten – "und dann kommen die Infekte". Wäre es da nicht besser, die Kleinen länger zu Hause zu behalten? Trugschluss, sagen Experten. So zeigte eine kanadische Studie, dass das kindliche Immunsystem profitiert, wenn es möglichst früh mit vielen Erregern trainiert. Kinder, die schon vor dem Alter von zweieinhalb Jahren eine Krippe oder einen Kindergarten besucht haben, sind demnach in der Grundschulzeit gesünder und fehlen seltener im Unterricht. "
Da steht das Gegenteil, aber vielleicht auch nur, weil es gerade Mode und opportun ist. Sollten Sie länger als ein bis zwei Jahrzehnte schon bewusst auch medizinische Berichte gelesen haben, dann könnten Sie wissen, dass es manchmal "erstaunliche Trends" gibt. Eine "medizinische Erkenntnis" von heute, kann vielleicht in 20 Jahren nur noch Kopfschütteln verursachen.
"Kinder, die schon vor dem Alter von zweieinhalb Jahren eine Krippe oder einen Kindergarten besucht haben, sind demnach in der Grundschulzeit gesünder und fehlen seltener im Unterricht."
Wenn (!) die Daten stimmen, dann belegen sie (so) erst mal nur eine Korrelation, keine Kausalität. Selbst ein Rückschluss von "weniger in der Schule fehlen" auf "gesünder sein" ist durchaus riskant, wenn auch naheliegend.
Ich bin mir sicher, dass es früher (ohne Krippe, Kindergarten maximal ein Jahr, wenn überhaupt) noch weniger Fehltage im Unterricht gab. Ein einfacher Rückschluss "früher waren die Kinder gesünder" wäre deshalb naheliegend, aber nicht zwingend richtig. Umgekehrt gilt dies genauso.
Die Idee, dass es für ein Kind und sein Immunsystem ideal wäre, wenn es möglichst früh mit möglichst viel "Angreifern" ausgesetzt würde, halte ich für schon abenteuerlich, ähnlich intelligent, wie das Kind in einer aseptischen, abgekapselten "Sagrotanumgebung"aufzuziehen. Ein Training durch totale Überforderung statt durch stetige und wachsende Forderung klingt weder vernünftig noch wirklich ein besseres Endergebnis zu bringen.
Einfach herrlich. Von Kindergartenkeimen zur Verschwörungstheorie in zwei kurzen Sätzen.
...das ging natürlich an km732