Evolutionslehre – wozu?
von Miray Caliskan
Türkei. Am 13. Januar 2017 stellte das türkische "Ministerium für Nationale Erziehung" (MEB) einen neuen Lehrplan vor, der das Land verändern wird. Er gilt für Grundschulen wie für Gymnasien, mehr als 17 Millionen Schüler sind davon betroffen. Das überarbeitete Curriculum wird kommende Generationen ganz im Sinne des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan prägen – es löst bei vielen Eltern Unbehagen aus, auch Wissenschaftler und Oppositionspolitiker äußern heftige Kritik.
Der größte Kritikpunkt: Die neuen Lehrpläne ebnen dem Islam den Weg in die Klassenzimmer und degradieren den Säkularismus zur Nebensache. In den Religionsbüchern werden nun etwa Atheismus und Agnostizismus als "problematische Überzeugungen" oder "Krankheiten" bezeichnet. Größter Einschnitt: Die Evolutionslehre ist gestrichen. Darwins wissenschaftliche Erkenntnisse seien alt und verdorben, so Numan Kurtulmuş, stellvertretender Ministerpräsident der Regierungspartei AKP. Der Bildungsminister Ismet Yılmaz begründete die Verschlankung der Lehrpläne damit, dass die Türkei bei den Pisa-Studien schlecht abschneide und überflüssige Themen deshalb gestrichen werden müssten.
Das kommt für viele nicht überraschend: "In diesem Land wird man schon bei der Erwähnung von Darwins Namen als Ungläubiger beschimpft", klagt eine Lehrerin der Istanbuler Istek-Schule. "Kein Wunder, dass die Regierung beschlossen hat, ihn gänzlich aus dem Lehrplan zu entfernen."
Nicht nur Darwin, auch Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk wurde Opfer des neuen Curriculums. So sollen Grundschüler nur noch das Allernötigste über ihn erfahren.
Mehr Raum gibt es dagegen für die Religion: Schon in einer Rede im Jahr 2012 hatte Erdoğan verkündet, eine "fromme Generation" heranziehen zu wollen. Dafür legt er sich ins Zeug: Nicht nur mehr religiöse Inhalte sollen in die Klassenzimmer Einzug halten. Mit seiner AKP treibt er auch den Ausbau von sogenannten Imam-Hatip-Schulen voran – Berufsschulen für angehende Imame und Prediger, die aber jedem Schüler und jeder Schülerin offenstehen. Im Jahr 2002 besuchten diese Einrichtungen 65.000 Schüler, 2016 waren es schon 1,5 Millionen. Auch Erdoğan ging auf eine Imam-Hatip-Schule, Lehrer und Mitschüler nannten ihn wegen seiner Frömmigkeit "Koran-Nachtigall". In den kommenden drei Jahren sieht die Regierung 441 Millionen Euro für diese Schulen vor, die Kritiker als islamische Kaderschmieden bezeichnen. Für die technisch-naturwissenschaftlichen Schulen gibt es vom MEB nur 27 Millionen Euro.
Künftig bekommt natürlich auch der Putschversuch von 15. Juli 2016 viel Platz zugewiesen. Schüler sollen unter anderem etwa in Aufsätzen "die Rechtsstaatlichkeit und das Demokratieverständnis angesichts des antidemokratischen Putschversuches" erläutern.
Das Stichwort Rechtsstaatlichkeit wirkt dabei recht deplatziert: Seit dem gescheiterten Putsch wurden etwa 128.000 Staatsbedienstete suspendiert und rund 47.000 festgenommen – ihnen wird unterstellt, eine Verbindung zu einer "bewaffneten terroristischen Vereinigung zum Sturz der Regierung" zu haben. Gemeint ist die Bewegung des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen. Erdoğan beschuldigt ihn, Drahtzieher des Putschversuchs zu sein.
Die Lücke, die aufgrund dieser "Säuberung" in den Klassenzimmern entstanden ist, wurde
bereits größtenteils aufgefüllt – mit Personal aus den Reihen der AKP-Anhänger.
Miray Caliskan
Kommentare
Damit ist dann das alte Privileg der maxistisch-leninistischen Revolution - die Formung des "Neuen Menschen" durch Ausbildung und Indoktrination - auch bei den Autokraten, Populisten und religiösen Extremisten hoffähig geworden.
Es wird wohl so gehen wie 1989: Die wirklich intelligenten Leute ziehen einfach um dahin, wo es besser ist - und der Rest kann sich dann mit der Regierung vergnügen, die sie unbedingt haben wollten.
Von mir aus! Haben sie dann verdient!
An den Beispielen wird deutlich, dass autoritäre Nationalisten bereit sind, zugunsten ihres bornierten Weltbildes ganze Schülergenerationen verblöden zu lassen. Naturwissenschaftliche Fächer werden reduziert, den freigewordenen Platz nimmt das Fach durchideologisierte Geschichte - umwunden mit religiösen Arabesken - ein. Eine selektiv wahrgenommene Geschichte wird zur Geschichtsmythologie umgeformt und in den Dienst aktueller Gegenwartsbedürfnisse gestellt. Dazu gehören Feindbilder, der Hass auf angebliche äußere und innere Feinde der Nation. Darum befinden sich Nationalisten unentwegt auf der Suche nach „fünften Kolonnen“ im Land.
Vorgemacht hat es der Autokrat Putin. Mit der Hilfe ganzer Stäbe von Spindoktoren und Ideologiedesignern lässt er eine neue, hypernationalistische Staatserzählung ohne die Verbrechen des Stalinismus erarbeiten. Die von nationalistischen Geschichtsblockwarten erfundenen Legenden sollen ein Vakuum füllen und reale Probleme verschleiern.
Im Grunde hat diese aggressive Ersatzreligion des 19. Jahrhunderts namens Nationalismus, die nun z. B. in Polen und Ungarn exhumiert wird, das, was sie vorgab zu achten – die Nation -, stets zerstört. Bezeichnend auch, dass antisemitische Autoren gerade in Ungarn nun wieder in Schulbüchern auftauchen. Der Antisemitismus war stets ein besonders widerwärtiger Bestandteil des völkischen Nationalismus. Kaum zu glauben, dass so etwas innerhalb der EU geschieht.
Was hat denn Frankreich in dieser Aufzählung zu suchen? Weil man beim Front National nichts fieses im Bildungsprogramm gefunden hat, muss man nun bemüht Banalitäten hochstilisieren?
Die Stärkung der Autorität des Lehrers und mehr landessprachlicher Unterricht ist eine uralte Forderung die es bei allen konservativen Parteien gibt, damit bekäme man auf einem CDU-Parteitag nur noch gelangweilten Höflichkeitsapplaus.
Und Schuluniformen gibt es z.B. auch in England oder Japan, die Idee dahinter ist eine sehr linke, nämlich Standesunterschiede optisch zu reduzieren, um die Schüler aus ärmeren Schichten zu stärken.
Türkei , Ungarn, Polen - klar, da sind Hämmer drin. Aber Frankreich? Da war wohl der Drang der Autoren das Land in die Liste zu packen deutlich stärker als die Substanz des Vorwurfs.