Ali Zohar, 30, schiebt den Stoff von Ärmel und Hose hoch und zeigt die Narben an rechtem Arm und Bein. Seine Peiniger, erzählt er, hätten ihn wie einen Sack über die Straße geschleift. Er konnte sich befreien und weglaufen, er versteckte sich im Dschungel, elf Tage lang. Soldaten hätten nach ihm gesucht und auf ihn geschossen. Schließlich gelang dem Rikschafahrer nach mehreren Tagen Fußmarsch die Flucht aus seinem Dorf im Westen seines Heimatlands Myanmar und über die Grenze ins benachbarte Bangladesch.
Ali Zohar ist ein Rohingya: Er gehört zu einer muslimischen Minderheit im mehrheitlich buddhistischen Myanmar, die dort schikaniert und verfolgt wird. Von Soldaten, aber auch von ihren buddhistischen Landsleuten. Von Nachbarn, an deren Seite sie seit vielen Jahren leben, die sich wie sie als Bauern, Fischer oder kleine Händler verdingen. Ali ist vor zwei Wochen mit seiner Frau, zwei Töchtern und einem Sohn nach Bangladesch gekommen. Er sitzt in der Fremde vor seinem neuen Haus, das noch nicht fertig ist: Der Putz reicht nur halb die Mauer hinauf, durch das ungedeckte Dach, das im Augenblick bloß ein Gitter von Bambusrohren ist, kann man den Himmel sehen.
Um uns herum erstreckt sich das Flüchtlingslager Kutupalong wie eine Stadt, durchzogen von staubigen, holperigen Straßen, gegliedert in Blöcke, die hier die Adressen abgeben: D7 oder C2 oder B6. Die Landschaft ist hügelig; wenn man auf eine Anhöhe steigt, sieht man in allen Himmelsrichtungen die Lehmhäuser endlos wie Treibgut auf den erstarrten Wellen eines Sand- und Erdmeers liegen. Hier und da beherbergen einstöckige Barackenbauten eine Schule oder eine Erste-Hilfe-Station, betrieben von internationalen Hilfsorganisationen. Die genaue Zahl der Rohingya in Bangladesch ist unbekannt, 32.000 haben anerkannten Flüchtlingsstatus und werden von den Vereinten Nationen versorgt, die allermeisten sind jedoch illegal im Land. Insgesamt werden sie auf mehrere Hunderttausende geschätzt.
Die Welt hat die Not der Rohingya zuerst 2015 wirklich bemerkt, als Tausende sich auf wackligen Booten nach Malaysia, Thailand oder Indonesien durchzuschlagen versuchten: lebensgefährliche Fahrten, bei denen die Flüchtlinge manchmal von Schlepperbanden, denen sie für ihr Entkommen ein kleines Vermögen gezahlt hatten, mitten auf See im Stich gelassen wurden. Die Rohingya sind ein Volk, das niemand haben will, Menschen, die kein Land als seine Bürger anerkennt. Myanmar behauptet, sie seien erst unter der britischen Kolonialherrschaft, die bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs dauerte, eingewandert und stammten in Wahrheit aus Bangladesch. Bangladesch hingegen besteht darauf, dass sie nach Myanmar gehören. Die Rohingya selbst sagen, dass sie seit Jahrhunderten in Myanmar siedeln.
In Myanmar, einem Vielvölkerstaat, in dem es auch sonst nicht an ethnischen Spannungen fehlt, blicken viele mit einer fast rassistischen Verachtung auf die Rohingya hinab, als eine Paria-Minderheit, die nicht nur anders glaubt und betet als die buddhistische Mehrheit, sondern auch anders aussieht (eher indisch). Radikale buddhistische Mönche, die aus ihrem Glauben eine aggressive Nationalideologie gemacht haben, tun sich beim Hass auf die Rohingya besonders hervor. Das verstört viele im Westen, wo der Buddhismus fast schon automatisch als Weltanschauung des Friedens und der Toleranz gilt, als sanfte Dalai-Lama-Religion.
Zugleich ist das Rohingya-Drama die Geschichte einer enttäuschten Hoffnung und einer erschütterten moralischen Autorität. Seit dem vergangenen Jahr wird Myanmar von der Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi regiert, die jahrzehntelang als Bürgerrechtlerin gegen das finstere Militärregime in ihrem Land gekämpft hat. Eine Ikone des Freiheitswillens wie Nelson Mandela oder Václav Havel. Man hatte gehofft, dass "die Lady", wie ihre Anhänger sie ehrfürchtig nennen, der Entrechtung und Misshandlung der Rohingya ein Ende setzen würde. Stattdessen hat das Militär im Spätherbst 2016, als Vergeltung für vereinzelte Überfälle militanter Rohingya auf Polizeiposten, offenbar eine regelrechte Orgie der Gewalt entfesselt. Das Hochkommissariat der Vereinten Nationen für Menschenrechte sagt, "sehr wahrscheinlich" seien Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen worden. Aung San Suu Kyi jedoch hat das Problem wiederholt heruntergespielt. Es sei übertrieben, erklärte sie zuletzt in einem BBC-Interview, im Zusammenhang mit den Rohingya von "ethnischer Säuberung" zu sprechen. Ist sie unfähig, diesen Menschen zu helfen? Machtlos, weil das Militär in Myanmar immer noch ein Staat im Staat ist und sich ziviler Kontrolle entzieht? Oder fehlt es "der Lady", wie so vielen ihrer Landsleute, schlicht an Mitgefühl für das Leiden der Rohingya? Ist die Welt einer falschen Heldin aufgesessen?
Im Lager Kutupalong erzählt die 23-jährige Janalida ihre Geschichte mit schwer fassbarer Ruhe und Selbstbeherrschung: mit einer Genauigkeit, als würde sie innerlich von einem Protokoll ablesen, das ihr einen rettenden Abstand von ihren eigenen Erinnerungen erlaubt. Wir sitzen in einer leeren Halle, irgendeinem Mehrzweckgebäude, das eine der Hilfsorganisationen im Lager erreichtet hat, auf einer Decke, die Janalida mitgebracht hat. Ab und zu sehen neugierige Kinder durch die Fenster hinein und müssen verscheucht werden. Am 11. November vorigen Jahres, einem windigen, regnerischen Tag, so Janalida, seien Soldaten in ihr Dorf in der Provinz Rakhine im Westen Myanmars gekommen. Sie hätten geschossen, ihr Mann sei weggelaufen, im Rücken getroffen worden und auf der Stelle tot gewesen. "Die Kugel", sagt sie noch, "ist vorn, an der Brust, wieder herausgekommen." Fünfzehn Leute hätten die Soldaten in ihrem Dorf umgebracht.
Janalida schildert exakt, wie das Militär in den folgenden Tagen immer wieder einmarschierte und abzog, Häuser plünderte und abfackelte. Am 17. November hätten die Soldaten zwischen fünf und sechs Uhr morgens alle 200 Frauen des Dorfs zusammengetrieben. Was dann folgte, glich einem makabren Abzählreim. Die Soldaten hätten dreißig ausgesucht und zu einer Schule gebracht. Von ihnen seien wiederum vier ausgewählt worden. Drei davon hätten sieben Soldaten in den Dschungel abgeführt. Mit ihr, der vierten und letzten aus der Gruppe, seien drei Soldaten zu einem Platz in der Nähe der Schule gegangen und hätten sie nacheinander vergewaltigt. "Nach der zweiten Vergewaltigung", sagt Janalida, "bin ich ohnmächtig geworden. Als ich wieder meine Augen öffnete, haben sie mich auf das Auge geschlagen." Blutend ließen die Soldaten Janalida liegen. Einen Monat lang hätten Nachbarn sie gesundgepflegt. Sie war so mutig, das Verbrechen einem Regierungsbeamten zu berichten, der im Dezember das Dorf besuchte. Aber irgendeiner aus der Entourage des Amtsträgers stellte aus Gedankenlosigkeit oder bösem Willen Janalidas Foto online. Jetzt wussten die Soldaten, dass sie geredet hatte – und hatten Grund, sie zum Schweigen zu bringen. Wenig später ist Janalida mit ihrem Sohn und ihren Eltern über die Grenze nach Bangladesch geflohen.
Kommentare
Die beschriebenen Exzesse sind indiskutabel und sollten auch international thematisiert und geächtet werden.
Die Ursache des Konflikts wird aus dem Artikel allerdings nicht ganz klar.
Wenn er in dem begründet ist, was der Wikipedia-Eintrag zu den Rohingya andeutet, ist das eine fatale Situation, die auch andernorts zu Konflikten führt/e.
"Myanmar hat 135 Volksgruppen und die Zugehörigkeit zu einer solchen Gruppe ist ein Garant für politischen Einfluss. Anders als in anderen Staaten reicht die Zugehörigkeit zu einer Religion in Myanmar dazu nicht aus.
Die Vertreter der Muslime forderten ein eigenes Gebiet in der ehemaligen Arakanregion, und wollten nicht unter einer buddhistischen Regierung in einem Arkanstaat leben. Die Buddhisten wollten auf der anderen Seite keinen Teil ihres Landes verlieren."
https://de.wikipedia.org/...
Dass "die Lady" hier in Erklärungsnot kommt wundert nicht.
Wenn Sie den Artikel weitergelesen hätten, wüssten Sie, dass das nicht die Ursache, sondern die Folge jahrzehntelanger Unterdrückung und Gewalt ist.
Aus dem Artikel:
"Seit der Unabhängigkeit Birmas am 4. Januar 1948 führte die Regierung gegen die Rohingya 19 groß angelegte Militäroperationen. Folge der massiven Militäroperationen war der Tod vieler Rohingya, die Verwüstung ihrer Siedlungsgebiete und Heiligtümer sowie die systematische Zerstörung ihrer Infrastrukturen.
[...]
Die Rohingya werden in Myanmar offiziell nicht als eigenständige Bevölkerungsgruppe anerkannt. Von den Vereinten Nationen werden sie als die „am stärksten verfolgte Minderheit der Welt“ eingestuft. Als Staatenlose verfügen sie über keinerlei Rechte. Sie dürfen nicht wählen, haben keinen Zugang zu höherer Bildung und eine offizielle Ausreise wird ihnen nicht gestattet. Auch innerhalb des Landes sind sie Reisebeschränkungen unterworfen. Ein Gesetz von 1982 verweigert den Rohingya die Staatsbürgerschaft und entsprechende Dokumente. Grundbesitz von Rohingyas wird beschlagnahmt und Privatbesitz zerstört oder gestohlen. Laut Rohingya-Aktivisten sei beschlagnahmtes Rohingyaland von der Regierung an Arakanesen innerhalb und außerhalb des Rakhaing-Staats zur Besiedlung verteilt worden. Mehr als ein Viertel des gesamten Ackerlandes überließ man nach diesen Berichten dem Dschungel."
Er gehört zu einer muslimischen Minderheit im mehrheitlich buddhistischen Myanmar, die dort schikaniert und verfolgt wird.
...
Das verstört viele im Westen, wo der Buddhismus fast schon automatisch als Weltanschauung des Friedens und der Toleranz gilt, als sanfte Dalai-Lama-Religion.
Das liegt vielleicht auch daran, dass man die "Dalai-Lama-Religion" selbst nur aus der Diaspora her kennt und nicht so, wie man ihn im Tibet lebte.
https://www.youtube.com/w...
https://www.youtube.com/w...
https://www.youtube.com/w...
Leider schon irgendwie wahr, die (positiven) Vorurteile bzgl. einer diesem System ausschließlich praktizierte Gewaltlosigkeit, wird auch der jahrhundertelange Geschichte des Kampf einzelner Klöster um die Vorherrschaft im Himalya nicht gerecht.
Darüber hinaus tut es Religion, wie bereits richtig erkannt, wahrscheinlich wirklich gut in der Diaspora zu leben, da man dort oft die ihr innewohnenden zerstörische Geschichte nicht kennt, Fundamentalisten einen öffentlichen Maulkorb verpasst kriegen /wahlweise richtig austoben können (was dem Gott ebenso gefällt) und alle, bis auf Vertreter des einen Vertreter , sogar lernen religöse Anforderungen an sich und ihre Umwelt insgesamt herab zu schrauben.
Aber: In all den Problemstellungen auf der Welt in den muslimische Minderheit vorkommen, ist die Problemlösung selten "die Anderen". Dieser Artikel arbeitet daran zwar genauso wie 9 aus 10 generell aber lassen Sie sich bitte nicht täuschen. Nur weil man hier glaubt gegen "Gottes"krieger nicht zu Feld ziehen muss, müssen asiatische Staaten diese Desillusion nicht teilen. Indien, China und Russland werden die Herren langsam wieder einnorden. "Der" Westen hingegen, als gleichzeitig erklärtes Hauptziel, ist eigentlich der letzte Verbündete von 1,4 Milliarden Opfern islamischen Glaubens, welche bei Vollmond eben dummerweise zu Tätern werden ;). Das ist das Problem. Nicht die Rechnung welche sie anderen Teilen der Welt eben auch mal begleichen müssen.
Im Artikel wird erwähnt, dass erst 2015 die internationale Gemeinschaft auf diese Brutalitäten aufmerksam wurde. Das möchte ich nicht so stehen lassen. Bereits 2012 machte die Türkei auf die Massaker in Arakan aufmerksam. Die Türkei ist ein Nato-Partner und nicht irgendein Staat. Dennoch hatten vorallem westliche Medien anscheinend kein Interesse, auch hier nach, Sensibilitäten zu schaffen. Es gibt viel Leid auf Erden, keine Frage, aber was den Rohingya dort angetan wird, ist nicht weniger schlimmer, als was der IS anrichtet. Um
Ehrlich zu sein, es ist sogar viel schlimmer...als ich damals einige Videos zu sehen bekam, schämte ich mich von Menschenrechten zu reden. So eine Brutaliät hatte ich bis dahin noch nie gesehen. Die Weltgemeinschaft weis ganz genau was dort geschiet und deswegen ist die Stille der westlichen "Zivilisation" umso schmerzvoller, als es bereits schon ist. Immerhin berichtet hier wenigstens ein Journalist mit Gewissen.
Entfernt. Auf Wunsch des Lesers entfernt. Danke, die Redaktion/tw
Ein Volk, das niemand haben will: Die Rohingya sind eine muslimische Minderheit, die in ihrer Heimat Myanmar verfolgt wird und anderswo unerwünscht ist.
Ich dachte die Heimat der Rohingya ist Bangladesch und die wären nach Burma eingewandert. Aber auch wenn die Rohingya in Burma beheimatet sind, Gewalt geht immer von beiden Seiten aus.
"Gewalt geht immer von beiden Seiten aus" - auch von den Juden damals? Oder war das keine Gewalt, was unsere Vorfahren ihnen schon seit hunderten von Jahren angetan haben? Und nicht nur ihnen.
Nebenbei: Was ist eigentlich die Heimat der Roma? Ungarn? Bulgarien? Rumänien? Slowakei? Indien? Kleinasien?
Reicht das als Beispiel, um zu verdeutlichen, wie nebensächlich diese Frage nach der "Herkunft" ist?
Und selbst wenn das relevant wäre, wollen Sie sagen, dass Migration staatlich organisierte Vergewaltigung und Mord legitimiert, oder warum reiten Sie so auf der von Ihnen vermuteten Einwanderung herum, als ob das akzeptable Maßnahmen für den Umgang mit Menschen wären?