Ja
Den Familiennachzug zu erlauben ist keine Frage der Großzügigkeit. Sondern rechtlich geboten
Von Martin Klingst
Der Streit um den Familiennachzug ist derart emotional aufgeladen, dass der Blick für die nüchternen Fakten verloren geht. Meist kreist die Diskussion um die Frage, ob es nun der Integration hilft, wenn Flüchtlinge ihre Familien nach Deutschland holen können. Wir wissen zu wenig, um sie abschließend beantworten zu können. Aber sie kann getrost offenbleiben. Denn schon das, was wir wissen, zeigt klar: Die Aufhebung des Nachzugsstopps ist nicht nur rechtlich und humanitär geboten. Vor den Folgen muss sich auch niemand fürchten.
Fünf gute Gründe gibt es dafür.
Erstens: Internationale Organisationen schätzen, dass es noch viele Jahre dauern wird, bis etwa Syrer ungefährdet in ihre Heimat zurückkehren können. Anders als für Flüchtlinge, die politisches Asyl oder den regulären Flüchtlingsschutz genießen, gilt für jene, denen nur "subsidiärer Schutz" zuerkannt wurde, ein Nachzugsstopp für Familienangehörige. Diese Schlechterbehandlung, eine Finte der deutschen Flüchtlingspolitik, ist kaum zu rechtfertigen, beruht sie doch auf einem Lotteriespiel: Zu oft entscheidet allein der Zufall, welchen Status ein Bürgerkriegsflüchtling erhält. Menschenrechtsverbände haben zahlreiche Fälle dokumentiert, bei denen trotz identischer Fluchtgeschichten manchen Syrern oder Irakern der volle, anderen hingegen bloß der subsidiäre Schutz zuteilwurde. Dahinter steht politische Opportunität: Der subsidiäre Schutz wurde eingeführt, weil er es erlaubt, gewisse Rechtsansprüche wie den Familiennachzug einzuschränken. Darum erhalten auch immer mehr Flüchtlinge nur diesen Status. Für den deutschen Staat ist das bequemer. Es bedeutet aber auch: Vor dem Gesetz sind damit nicht alle gleich.
Zweitens: Nachgeholt werden können nur die Kernfamilien. Das heißt, einem erwachsenen Flüchtling dürfen dessen Ehepartner und die gemeinsamen minderjährigen Kinder nach Deutschland folgen – und einem sogenannten unbegleiteten minderjährigen Flüchtling dessen Eltern, nicht aber die Geschwister. So kann zum Beispiel eine Mutter vor die absurde und unmenschliche Entscheidung gestellt werden, ob sie zu ihrem vereinsamten 15-jährigen Sohn nach Deutschland zieht oder bei ihrer zwölfjährigen Tochter im kriegsgeplagten Syrien ausharrt. Daher dürfte sich manche Familie entscheiden, zu bleiben, wo sie ist.
Drittens: Niemand kann voraussagen, wie viele Familien sich tatsächlich auf den Weg machen würden, wenn sie dürften. Aller Voraussicht nach aber nicht Hunderttausende Menschen, wie etwa die CSU behauptet, sondern eher zwischen 60.000 und 120.000. Dafür sprechen jedenfalls die bisherigen Erkenntnisse: Laut Auswärtigem Amt lagen bis Ende vergangenen Jahres aus Syrien und dem Irak lediglich 54.000 Anfragen für Nachzugsvisa vor. Das Institut für Arbeits- und Berufsforschung schätzt die Zahl möglicher Nachzügler auf 60.000. Selbst wenn es mehr würden, müssten nicht alle auf einmal kommen. Die Aufnahme könnte zeitlich gestreckt und nach Dringlichkeit sortiert werden. Die Aufhebung des Nachzugsstopps bedeutete keinen Kontrollverlust, sondern ein geordnetes Verfahren.
Viertens: Die Befürworter des Stopps argumentieren, dass es auch für Angehörige von subsidiär Geschützten längst eine Möglichkeit gibt, nach Deutschland zu kommen, wenn sie akut in Not sind, nämlich die Härtefallregelung im Aufenthaltsgesetz. Doch diese Einzelfallprüfung, rügen die Gerichte, erfordert bürokratische Vorarbeit, die kaum ein Betroffener im kriegsgebeutelten Herkunftsland erfüllen kann. Seit April 2016 wurden gerade einmal 66 Anträge bewilligt. Die Härtefallregelung ersetzt den regulären Familiennachzug nicht.
Fünftens: Der Artikel 6 des Grundgesetzes stellt Ehe und Familie unter besonderen Schutz. Was das für den Familiennachzug heißt, lässt sich in internationalen Vereinbarungen nachlesen, die auch für Deutschland verbindlich sind. So räumt die UN-Kinderrechtskonvention dem Kindeswohl Vorrang ein und verlangt, die von einem Kind oder seinen Eltern gestellten Anträge auf Familiennachzug "wohlwollend, human und beschleunigt" zu bearbeiten. Es wäre keine Geste der Großzügigkeit, würde die künftige Bundesregierung den Familiennachzug wieder ermöglichen, es ist ihre Pflicht.
Kommentare
Entfernt. Bitte formulieren Sie Kritik sachlich und differenziert. Danke, die Redaktion/sq
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Klingst:
"Drittens: Niemand kann voraussagen, wie viele Familien sich tatsächlich auf den Weg machen würden, wenn sie dürften."
Um dann schon im nächsten Satz selbst solche Prognosen zu formulieren:
"Aller Voraussicht nach aber nicht Hunderttausende Menschen, wie etwa die CSU behauptet, sondern eher zwischen 60.000 und 120.000. Dafür sprechen jedenfalls die bisherigen Erkenntnisse: Laut Auswärtigem Amt lagen bis Ende vergangenen Jahres aus Syrien und dem Irak lediglich 54.000 Anfragen für Nachzugsvisa vor. Das Institut für Arbeits- und Berufsforschung schätzt die Zahl möglicher Nachzügler auf 60.000. Selbst wenn es mehr würden, müssten nicht alle auf einmal kommen."
Was heisst hier "aller Voraussicht nach?"
Und jetzt soll eine politische Entscheidung für etwas gefällt werden, das in Umfang und Kosten nicht abzuschätzen ist?
Noch mal Klingst: "Niemand kann voraussagen...."
Politische Vernunft und verantwortliches politisches Handeln gehen anders...
"Aller Voraussicht nach aber nicht Hunderttausende Menschen, wie etwa die CSU behauptet, sondern eher zwischen 60.000 und 120.000."
Was heisst hier "aller Voraussicht nach?"
Wahrscheinlich eine Vorraussicht DER Qualität, die 2015 bei den Migranten "mehr als die Hälfte Fachkräfte und Akademiker" sah [Zeit].
Klingst: "So räumt die UN-Kinderrechtskonvention dem Kindeswohl Vorrang ein und verlangt, die von einem Kind oder seinen Eltern gestellten Anträge auf Familiennachzug "wohlwollend, human und beschleunigt" zu bearbeiten."
Richtig.
Klingst: "Es wäre keine Geste der Großzügigkeit, würde die künftige Bundesregierung den Familiennachzug wieder ermöglichen, es ist ihre Pflicht."
Wo Herr Klingst da die "Pflicht zum Ermöglichen des Nachzugs" sieht, bleibt sein Geheimnis.
Wikipedia dazu:
Artikel 10, Absatz 1 zur Familienzusammenführung in der Kinderrechtskonvention der UNO vom 20. November 1989 lautet:
Entsprechend der Verpflichtung der Vertragsstaaten nach Artikel 9 Absatz 1 werden von einem Kind oder seinen Eltern zwecks Familienzusammenführung gestellte Anträge auf Einreise in einen Vertragsstaat oder Ausreise aus einem Vertragsstaat von den Vertragsstaaten wohlwollend, human und beschleunigt bearbeitet. Die Vertragsstaaten stellen ferner sicher, dass die Stellung eines solchen Antrags keine nachteiligen Folgen für die Antragsteller und deren Familienangehörige hat.[1]
Diese Regelung soll einerseits dem Kindeswohl dienen, indem Anträge "aufgeschlossen, human und beschleunigt" zu bearbeiten sind, und andererseits den Vertragsstaaten den Spielraum ermöglichen, den Zuzug von Ausländern selbst regeln zu können.[2]
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Faktische Gesetzeslage: jeder Staat kann das selbst regeln. Also auch beschliessen, Familiennachzug auszusetzen. Wie fast alle europäischen Staaten.
"Faktische Gesetzeslage: jeder Staat kann das selbst regeln."
Naja, so einfach ist das nun auch nicht. Die Staaten koennen natuerlich die Einzelheiten regeln, sind aber an das generelle Konzept gebunden, Familiennachzug zu ermoeglichen. Ist ja jetzt auch nicht schwarz und weiss, sondern es gibt durchaus nuancierte Loesungen. Man koennte zum Beispiel den Nachzug von Eltern Minderjaehriger Kinder erlauben, sowie den Nachzug minderjaehriger Kinder, so dass Kernfamilien mit Kindern zusammengefuehrt werden koennen. Den Nachzug von Geschwistern zu erlauben waeren auch durchaus sinnvoll. Oma & Opa, Cousins, Neffen und Nichten, etc. macht dann halt irgendwann ein Riesen-Fass auf. Das sollte daher begrenzt werden. Haertefallregelungen kann man natuerlich immer haben, um z.B. den Nachzug von Oma & Opa eines Minderjaehrigen zu ermoeglichen, dessen Eltern tot oder verschollen sind.
Man kann das sicher mit relativ geringem finanziellen Aufwand regeln, um die groessten Traumata abzuwenden, und ohne einer allzu grossen Zahl von Menschen ein Schlupfloch zu oeffnen.
Entfernt. Bitte verzichten Sie auf überzogene Polemik. Danke, die Redaktion/rc
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