Leo Varadkar, Sohn eines eingewanderten Hindus, ist mit nur 38 Jahren zum Regierungschef Irlands gewählt worden. Der Premierminister Estlands, Jüri Ratas, ist 39 Jahre alt und gilt als Vorreiter in Sachen Digitalisierung. Kanadas Regierungschef Justin Trudeau, 46, hat sich mit progressiver Identitätspolitik und liberaler Einwanderungspolitik einen Namen in der Welt gemacht. Gleichzeitig beansprucht der französische Staatspräsident Emmanuel Macron, 40, Frankreichs Führungsrolle in einer neu gedachten Europäischen Union. Und in Neuseeland regiert die frisch gewählte Premierministerin Jacinda Ardern, 37 Jahre alt, über das öffentliche Rumoren hinweg, eine Frau könne doch nicht regieren und gleichzeitig schwanger sein. Kann sie nämlich doch.
In Deutschland fabulierten unterdessen die 63-jährige Angela Merkel, der 68-jährige Horst Seehofer und der 62-jährige Martin Schulz mit müden Gesichtern von "Aufbruch" und "Erneuerung". Zusammen sind die drei fast 200 Jahre alt. Merkels letztes Kabinett hatte ein Durchschnittsalter von 59 Jahren und war damit rund 15 Jahre älter als die Bevölkerung, die es vertrat. Im neu gewählten Bundestag sind nur zwölf der 709 Abgeordneten jünger als 30 Jahre. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey fühlen sich mehr als 80 Prozent der 18- bis 29-Jährigen in der Politik nicht ausreichend repräsentiert.
Kein Wunder: Die Themen der künftigen großen Koalition sind gestrig und folkloristisch. Statt die Klimakatastrophe zu bekämpfen, setzt man erst mal eine Kommission ein. Statt eine generationengerechte Rentenreform durchzusetzen, schreibt man ein veraltetes Modell weiter fest. Statt die Digitalisierung zu gestalten, vertagt man lieber alles auf das Jahr 2025. Über Fragen zu Maut, Mütterrente und Milchpreisen ist die deutsche Politik zum Debattenfriedhof verkommen. Sie verwaltet die Vergangenheit, statt die Zukunft zu gestalten.
Wir, fünf junge Parteimitglieder aus CDU, SPD, FDP, Grünen und Linkspartei, mögen immense Differenzen haben, was unsere jeweilige politische Überzeugung betrifft. Was uns aber eint, ist die Lust auf Politik, die Lust auf Zukunft. Wir sehnen uns nach mehr politischer Partizipation in der Gesellschaft. Wir wollen raus aus den alten Schützengräben. Was wir brauchen, sind wechselnde politischen Allianzen. Unser politisches Mindset kennt mehr Kategorien als nur rechts und links – und die sind auch nötig, um in einer globalisierten Welt fantasievoll und demokratisch über unser künftiges Zusammenleben streiten zu können. Diesen Streit wollen wir führen.
Die Jüngste von uns ist 25, der Älteste 32 Jahre alt. Wir alle kennen die Parteien von innen. Als Diana zum ersten Mal zum CDU-Ortsverein kam, waren nur alte Männer da, die kein Wort mit ihr sprachen. Als sie zum dritten Mal dort auftauchte, wollten die Herren bei ihr Bier bestellen, weil sie dachten, sie sei die Kellnerin. Eine junge Frau mit Migrationshintergrund bei der CDU in Wuppertal – das war für viele Mitglieder offensichtlich unvorstellbar. Beim ersten SPD-Parteitag, auf dem Yannick sprach, brachte er einen Antrag zum Thema Digitalisierung ein. Als er mit seiner Rede fertig war, das Adrenalin langsam aus seinem Körper wich und er sich wieder hinsetzte, betrat ein älterer Mann das Rednerpult und sagte süffisant: "Dieser Antrag ist von Freaks für Freaks." Terry wurde zu Beginn ihrer Zeit im Europaparlament in Ausschusssitzungen immer wieder auf die Mitarbeiterplätze verwiesen. Sie sei "doch bestimmt die Praktikantin". Als Ria 2017 für den Bundestag kandidierte, kam nach einer Podiumsdiskussion im Wahlkreis ein anderer Kandidat, selbst Abgeordneter, auf sie zu und flüsterte ihr gönnerhaft ins Ohr: "Das haben Sie ja ganz gut gemacht, junge Frau."
Digitale Parteiarbeit
Wir alle mussten die Erfahrung machen, dass unser Alter, unser Geschlecht und unsere Herkunft mit darüber entscheiden, ob man uns in den Parteien zuhört und ernst nimmt. Diese undemokratische Praxis wollen wir nicht länger hinnehmen. Parteien sollten in der Lage sein, auch unterrepräsentierte Gruppen einzubinden – und ja, zahlenmäßig gehören auch wir als junge Menschen dazu. Es brauchte spezielle Mitgliederbeauftragte als Ansprechpartner für Neueinsteiger. Die Antragsrechte in den Parteien müssten deutlich ausgeweitet werden, damit auch Menschen ohne Parteiamt zu Wort kommen. Wir wollen weg von überkommenen Stammtischtraditionen im Politikalltag. Es muss möglich sein, dass ein Student, der gerade ein Auslandssemester in Amsterdam verbringt, trotzdem per Skype an der Sitzung seines Ortsvereins teilnimmt. Für neue Formen der digitalen Parteiarbeit wären sicher auch der Fließbandarbeiter im Schichtbetrieb und die alleinerziehende Mutter von drei Kindern dankbar.
Ministerien auf Zeit
Während in anderen Teilen der Welt Zukunfts-, Digitalisierungs- und Toleranzminister die Geschicke ihres Landes bestimmen, verschlafen unsere statischen Ministerien sämtliche Herausforderungen der Zukunft. "Wir sind nicht zuständig" ist der Hit bei jedem Buzzword-Bingo im Kontakt mit politischen Institutionen. Das komplexe Thema Flüchtlingspolitik etwa muss vom bisherigen Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) zwischen Bundesinnenministerium, dem Bundesamt für Flüchtlinge und Migration sowie den Länderbehörden koordiniert werden. Derweil ist die Staatssekretärin für Migration, Flüchtlinge und Integration, Aydan Özoğuz (SPD), in der öffentlichen Debatte kaum wahrnehmbar. Diese institutionalisierte Unbeweglichkeit und Ineffizienz muss ein Ende haben.
Wir fordern die Einsetzung von Ministerien auf Zeit. Nur so können Themen wie Demografie und Digitalisierung, Integration und Toleranz effektiv behandelt werden. Länder wie Dänemark und die Niederlande machen längst vor, wie das geht: Sie verfügen über Innovationslabore, in denen Politiker und Beamte verschiedener Ministerien ihre Aufgaben gemeinsam bearbeiten – und zwar mit Methoden des 21. Jahrhunderts, in interdisziplinären Teams.
Europäisch wählen
Wir sind in einem geeinten, friedlichen Europa aufgewachsen. Mit offenen Grenzen, einer gemeinsamen Währung und dem Erasmus-Programm ist Europa für uns sowohl Heimat als auch Sehnsuchtsort. Wir möchten, dass Europa noch weiter geht. Wir wollen als Europäer wählen. Dafür brauchte bei Europawahlen jeder Wähler zwei Stimmen: eine für den Kandidaten aus der eigenen Region und eine, um für eine transnationale Liste zu stimmen, auf der sich Politiker mehrerer Länder versammeln, Konservative, Sozialdemokraten, Grüne. Auf diese Weise wären erstmals europäische Politiker im Parlament, die europäische Interessen vertreten und nicht vorrangig nationale. Wir wollen ein partizipativeres, beweglicheres Europa.
Kommentare
Vorweg: ich gehöre zu den geburtenstarken Jahrgängen. Ein Vorteil, der schon in der Jugend dazu geführt hat, wegen der schieren Masse nicht übersehen werden zu können. Dies ist gleichzeitig Nachteil der heutigen Jugend, denn in ein paar Jahren sind die Rentner die Mehrheitsbeschaffer und wählen dann diejenigen, die die schönsten Versprechen für die Senioren machen - eine Horrorvorstellung.
Auch wenn ich nicht in allem übereinstimme (Twitterverbot im Bundestag: find ich gut!), bin nicht nur ich, sondern ein Großteil meines Freundeskreises der Meinung, dass es so eben nicht weiter geht. Im Zeitraffer betrachtet ist die Politik immer noch langsamer als eine Schnecke und man stellt sich - nur rhetorisch - die Frage, wieso so elementare Dinge wie sozialverträglicher Wohnungsbau, Umwelt, Sicherheit, Pflege usw. so wenig vom Fleck kommen.
Schaut man genauer hin, erkennt man, dass es das Produkt so vielfältiger Einflüsse wie Neoliberalismus, Egoismus und allen voran Lobbyismus ist. So wird es z.B. nicht lange dauern, bis die Autolobby die Idee des hoch subventionierten ÖPNV zerredet hat. Lobbyismus gehört eigentlich verboten, aber regiert alles. Und zwar ausschließlich im Hinterzimmer.
Darum drücke ich allen Autoren, sich gegen die Alten durchzusetzen und frischen Wind zu bringen. Die Götterdämmerung hat bereits eingesetzt, wenn man sich die Politikgrufties anschaut. Allerdings fällt bekanntlich nichts so schwer wie der Abschied von der Macht.
Schon bei der letzten Bundestagswahl hat die Gruppe der +60-jährigen die Mehrheit gestellt.
Diesen Zustand kann man auch in aktuellen Debatten und Debattenbeiträgen betrachten. Da fordert Herr Dobrindt eine konservative Revolution und vergisst dabei die historischen Wurzeln eben dieser. Anstelle die digitale Revolution weiterzudenken, wird der Breitbandausbau auf 2025 vertagt. Anstelle in einer Verkehrswende neue Mobilitätskonzepte zu konzipieren, wird über eine Abfrackprämie für Dieselfahrzeuge gesprochen, um damit dann "neue" Dieselfahrzeuge zu kaufen. Es wird lieber über ein Heimatministerium gesprochen, als die EU weiterzuentwicklen oder ein Erasmus-Programm auch in Deutschland flächendeckend einzuführen...
Diese Aufzählung lässt sich beliebig lange weiterführen.
SEHR Gut!,
Statt Parteiengezänk steht hier die gemeinsamen Ziele und Grundlagen im Vordergrund!
Ein Grundeinkommen+ einem freien Bildungsbudget für JEDEN ist menschenwürdig und gewährt auch eine gewisse Chancengleichheit.
Wer für Freiheit, Solidarität, Frieden und Gerechtigkeit ist, kann diesem Modell/ Ideen doch zustimmen.
Die Spaltungen der Gesellschaft wird ein Stück weit wieder überwunden.
Überparteikeit mit REspekt für den Nächsten als auch mit einer ordentlichen Portion "Selbstliebe".. , das "Paatscht!".
ZON hat jedoch wieder die AfD bewusst übergangen. Sehr schlechter Stil
Tolle Sache!
Auch wenn es letztlich nicht für den Bundestag gereicht hat, ich bin mit meiner Erststimme für Frau Schröder sehr zufrieden. Die Vertreter und Vertreterinnen aus den anderen Parteien wirken offen, gesprächsbereit und ideenreich auf mich. Gerne mehr davon, so lässt sich konstruktive Politik machen.
Ist an den Aufruf auch ein konkretes Projekt gebunden, dass man irgendwie unterstützen kann?
"Gerne mehr davon..."
Hier haben Sie schon einmal mehr von Frau Reintke aus dem Artikel - es ist die im grünen T-Shirt.
https://youtu.be/XPynZgJgMt4
"...so lässt sich konstruktive Politik machen."
Diesbezüglich lasse ich mich gerne positiv überraschen.
Sicher wird man die AfD und Ihre Ideen wirkungsvoll bekämpfen, indem man sie als neue Fraktion im Bundestag ignoriert. Das wird nicht zu einer Bestätigung der medienpolitischen Thesen der AfD führen. Da bin ich mir sehr sicher.
Neue Fraktionen immer gerne, aber solche mit vor-vorgestrigen Inhalten dienen nun mal nicht zu einem dringend benötigten Innovationsschub des politischen Betriebs, der den Interessen und der Lebenswelt einer pluralistisch-demokratischen Gesellschaft auf seriöse Weise gerecht werden kann.
Umso mehr Respekt für die jungen Politiker. Bleibt ihnen zu wünschen, dass sie ihren Weg konstruktiv und erfolgreich fortschreiten.