Bei der schriftlichen Abschlussprüfung ist er völlig dicht, gleichzeitig auf Schlaftabletten und Speed. Die Nerven flattern, die Hände zittern, seine Kritzeleien bleiben vage. Trotzdem lassen ihn die Dozenten zur mündlichen Prüfung zu. Da versagt er. Jacques Derrida, der später als akademischer Rockstar gelten wird, weil er 2.000 Jahre Philosophiegeschichte für falsch erklärt, fällt an der École Normale Supérieure im ersten Anlauf durch. Als Student habe er sich gefühlt, als läge sein Kopf unter einer Guillotine, schreibt er später. "Höllenjahre" nennt er die Zeit. Selbst als er schon längst zu den einflussreichsten Philosophen des 20. Jahrhunderts zählt, wird er sich an Unis nicht wohlfühlen.
Jacques Derrida wird 1930 als Sohn eines jüdischen Weinhändlers in Algerien geboren, das damals noch eine französischen Kolonie ist. Seit der sechsten Klasse liest Jackie, so nennen ihn alle, die Bücher von Rousseau und Nietzsche. Er ist Abiturient, als er aus dem knisternden Programm von Radio Algier erfährt, dass die Pariser Grandes Écoles auch Philosophen ausbilden. Damit ist sein Berufswunsch klar. Seine Eltern haben nicht viel Geld, doch Jackie schlägt sich durch, bis nach Paris – erst mit einem Schiff nach Marseille und von dort aus weiter. Die Aufnahmeprüfungen an den Grandes Écoles sind so schwer, dass alle die Vorbereitungskurse eines Internats besuchen. Also schreibt sich Jackie im Internat Louis-le-Grand ein. Fortan ist er Nummer 424, muss wie alle Schüler graue Kittel tragen. Es herrscht Kälte und Drill, er fühlt sich wie ein Häftling. Nicht brillante Ideen sind gefragt, sondern gewissenhafte Schulaufsätze. Auch sozial findet er keinen Anschluss. Während seiner Schulzeit in Algier wird Jackie vom normalen Unterricht ausgeschlossen, weil er Jude ist. Seitdem hasst er das, was er "Herdenidentifizierung" nennt.
Weil Jackie ständig melancholisch und von der Schule erschöpft ist, verschreibt ihm ein Arzt ein Aufputschmittel, das auch Jean-Paul Sartre schluckt. Doch die Dosierung erweist sich als Problem. Abends ist die Wirkung oft noch so stark, dass er zusätzlich Schlaftabletten nimmt. Er kann sich nur schwer konzentrieren, mal droht er bei Klausuren einzuschlafen, mal gibt er nur ein weißes Blatt ab. Zweimal fällt er bei der Aufnahmeprüfung der École Normale Supérieure durch, beim dritten Mal schafft er es und wird aufgenommen.
Die erste Zeit an der Elite-Uni ist für Jackie erholsam: Er bewohnt eine Wohnung mit seinem Freund Coco, sie teilen sich einen zerbeulten Citroën C4 und ein Abonnement der Tageszeitung Le Monde. Michel Foucault, ein junger Dozent, nimmt seine Studenten mit in die Klinik – um Wahnsinnige anzugucken. Über die Studenten der weniger elitären Universität Sorbonne lachen Jackie und seine Kommilitonen. Doch es herrscht harte Konkurrenz zwischen ihnen. Die Abschlussprüfungen heißen "Concours", also Wettbewerbe, und so fühlen sie sich auch an.
Der Druck setzt Jackie zu. Er wird hypochondrisch und depressiv. Seinen Professoren fällt zwar sein philosophisches Talent auf, doch immer öfter muss er am Rande seiner freigeistigen Aufsätze ungeduldige Anmerkungen lesen wie: "Ich habe große Mühe zu folgen" oder "Akzeptieren Sie die Regeln". Nachdem er im ersten "Concours" durchfällt, flüchtet er vor dem zweiten Versuch auf die Alte Kelterei, ein Schlösschen bei Honfleur. Reiche Philanthropen stellen es "erschöpften Intellektuellen" zur Verfügung, damit sie sich erholen können. Im zweiten Anlauf besteht Jackie mit mittelmäßigen Noten.
Jacques Derridas Verhältnis zum Uni-Betrieb bleibt zeitlebens angespannt. Sein Denken spiegelt das wider: Die bisherige Philosophie mit ihrer Vorliebe für Wahrheit, Gott und Sinn erklärt Derrida für überholt. Statt Sinn zu suchen, will er Sinn zerstören. Die Texte der großen Philosophen, etwa Platon, Hegel und Heidegger, interpretiert er völlig neu und nennt das Dekonstruktion, die Vernichtung des herkömmlichen Denkens. Radikalität wird seine Marke.
Drei Veröffentlichungen im Jahr 1967 machen Derrida mit einem Knall bekannt. Avantgardisten lieben ihn für seinen zum Teil unklaren, fast poetischen Stil. Die Dekonstruktion wird zur Mode einer neuen Generation von Philosophen. Nun wird Derrida überall eingeladen, hält Vorträge und verblüfft sein Publikum mit waghalsigen Thesen. Professor ist er noch nicht. Das wird ihn noch einmal, am 2. Juni 1980, in eine der verhassten Prüfungssituationen bringen: Als einer der einflussreichsten Philosophen seiner Zeit muss er auf einem harten Stuhl vor einer Jury sitzen. 50 Jahre ist er alt, das Publikum drängelt sich im Saal. Derrida zieht sein blaues Sakko aus, langsam, bevor er zu sprechen beginnt. Er verteidigt seine Habilitationsschrift. Auch wenn Konservative aus der Kommission ihn am liebsten grillen würden, hat er nichts mehr zu befürchten. Derridas Nerven flattern nicht mehr, seine Hände sind endlich ruhig.
Kommentare
Kein Vorbild
Und er ist darum kein Vorbild,(wenn ich nur die ersten Zeilen lese)wie alle poststrukturalistischen und dekonsktruktivistischen Philosophen.
"Dekonstruieren" hat immer irgendetwas desktruktives und nihilistisches.
Wo bleibt die Suche nach dem Wahren, Guten und schönen? (Platon)
Wo bleibt die Suche...
nun wenn man das , was gemeinhin für das Wahre, Schöne, Gute gehalten wird, ein wenig auseinander nimmt, kommt man ihm vielleicht einen Schritt näher. Derrida hat durchaus seine Verdienste, aber es war wohl weniger eine Methode als ein Personalstil. Derrida hat vor großem Publikum öfters das philosophische Kasperle gespielt und in kleinen feinen Seminaren dann tiefschürfend philosophiert, etwa über jüdische Philosophie. Was seine Adepten und Epigonen aus seinem Ansatz gemacht haben, derrida selbst sah die Dekonstruktion nicht als methode, die man vermitteln könnte, ist ziemlich kläglich, der Betrieb hat ihn absorbiert. eine faire, doch grundlegende Kritik findet sich in George Steiner, Von realer Gegenwart, München 1990. Im übrigen hat Derrida genau das befördert, was er dekonstruieren wollte- den Logozentrismus, Ironie der Philosophiegeschichte.
Bravo
Toll das das hier steht. Nur durch Ihn konnte ich so manches verstehen. Wer nichts auseinadernimmt kann es auch nicht zusammesetzen und dabei merken ob es ueberhaupt stimmt. Denn nur er ermoeglichte im steinernen Betrieb auch querzudenken. Fin
"Eleganter Unsinn" nannten Sokal und Bricmont ihr Buch
Noch peinlicher als der Hochstapler Derrida sind die Weglassungen dieses Artikels über den Herrn. Wie wäre es mit Aufklärung tout court, also sans ommisions, die der politischen Korrektheit geschuldet sind?
Derrida hat buchstäblich NICHTS produziert, was das Erkennen der Welt bereichert hat. Er hatte nicht umsonst bangige Angst vor Prüfungen durch unabhängigen Sachverstand (Wissen & Intelligenz).
Sokal...
Die Kiritk Sokals verfehlt Derridas Werk total. Derrida hat das, was sie Erkennen der Welt nennen dahingehend bereichert, dass er viele vermeintliche Selbstverständlichkeiten aufgebrochen hat. Das sie in diesem Zusammenhang von Wissen sprechen, sagt schon einiges...
"Das" und/oder "dass"
Mir, als Nicht-Philosoph, fällt auf, dass Philosophen offensichtlich "das" und "dass" nicht auseinanderhalten können.
Wie sollen uns diese Leute dann die Welt erklären?
Ist mir
selbst gerade aufgefallen. Und vor "Welterklärungen" kann ich nur ausdrücklich warnen. Womit wir wieder bei Derrida und der Dekonstruktion wären.