Der amerikanische Journalismusprofessor und Autor Jeff Jarvis hat eine Grundrechtecharta für das Internet vorgeschlagen. Das sei, schreibt er in seinem Blog, keine Unabhängigkeitserklärung, wie sie einst der Gratefull-Dead-Texter John Perry Barlow postuliert habe, und auch keine Verfassung. Immerhin bräuchten wir im Internet "keine Regierung; Wir brauchen Freiheit."
Jarvis' Bill of Rights hat neun Paragrafen und will "fundamentale Freiheiten" festschreiben, die geschützt werden müssten. Und zwar gegen Angriffe von "Regierungen, Unternehmen, Organisationen, Kriminellen, Subversiven oder Mobs".
Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Beobachtung, dass Google im Ringen mit China gegenüber der "alten Welt" als ein "Botschafter des Internets" agiere, wie er in einem Text für den britischen Guardian schreibt. Und dass es daher eine gute Idee wäre, bestimmte Prinzipien zu etablieren, damit solche Botschafter auch eine Botschaft haben.
Dem Text ist anzumerken, dass Jarvis nicht nur als Netzbürger argumentiert, sondern immer auch als Amerikaner. Seine Grundrechte sind klar angelehnt an die zehn amerikanischen Verfassungszusätze und das ist zumindest diskussionswürdig, immerhin legen andere Demokratien ihre Schwerpunkte auf andere Rechte. Doch Diskussion ist es, was Jarvis sich ausdrücklich wünscht.
Hier also eine Übersetzung der neun Artikel:
I. Wir haben das Recht auf Vernetzung. Das ist die Präambel und die Voraussetzung für das wichtigste amerikanische Grundrecht, das auf freie Rede: Bevor wir frei sprechen können, müssen wir in der Lage sein, uns zu vernetzen. Hillary Clinton hat die Freiheit auf Vernetzung definiert als "die Idee, dass Regierungen Menschen den Zugang zum Internet und zueinander nicht verweigern dürfen". Und es ist dieses Prinzip, das die gesamte Debatte um Netzneutralität beeinflusst.
II. Wir haben das Recht zu reden. Niemand hat das Recht, die Redefreiheit einzuschränken. Wir anerkennen die notwendigen Beschränkungen dieses Rechts, doch müssen sie so eng wie nur irgend möglich definiert werden, dürfen wir doch nicht nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner handeln. Die Freiheit ist unser Standard, nicht die Einschränkung.
III. Wir haben das Recht auf unsere eigene Sprache. Die Dominanz des Englischen im Internet wird geringer, je mehr Sprachen und Schriften hinzukommen, und wir begrüßen das. Ethan Zuckerman warnt, dass in einem polyglotten Netz der Wunsch entstehen könnte, Brücken zu bauen, die jenseits der Sprachen funktionieren. Wir aber wollen unsere eigenen Sprachen sprechen, dabei aber immer auch miteinander reden.
IV. Wir haben das Recht, uns zu versammeln. In der der Bill of Rights der USA, den zehn Verfassungszusätzen, ist das Versammlungsrecht unabhängig von der Redefreiheit formuliert. Das Netz macht es möglich, sich ohne Hilfe von Organisationen zu organisieren und zusammenzuarbeiten – ein Fakt, der repressiven Regimen genauso Angst macht wie die Möglichkeit der freien Rede.
V. Wir haben das Recht zu handeln. Diese ersten vier Artikel sind Bestandteil eines Gedankens: Wir vernetzen uns, um zu kommunizieren, und wir reden, um uns zu versammeln, und wir versammeln uns, um etwas zu tun. Das ist der Weg, wie wir die Welt ändern können und werden, nicht nur indem wir Missstände bekannt machen, sondern indem wir Möglichkeiten finden, um sie abzustellen. Das muss jeder Institution klar sein, die versucht, uns zu stoppen.
VI. Wir haben das Recht auf Kontrolle über unsere Daten. Jeder sollte Zugang zu seinen persönlichen Informationen haben. Und was dir gehört, gehört dir. Wir wollen, dass das Internet auf dem Prinzip der Übertragbarkeit beruht, sodass Informationen und Werke nicht von einer Regierung oder einem Dienst eingesperrt werden können. Und der Urheber Kontrolle über sie bewahren kann. Doch darf nicht vergessen werden, dass Kontrolle, die dem einen gegeben wird, der andere hergeben muss; in diesem Detail lauern Tücken. Dieses Prinzip meint Urheberrechte und die dazugehörenden Gesetze, die die Regeln und Grenzen für Kontrolle bestimmen. Und dieses Prinzip wirft Fragen auf, ob die Weisheit der Masse auch der Masse gehört.
VII. Wir haben das Recht auf unsere eigene Identität. Das ist nicht so einfach wie bisher, wo unser Name unsere Identität ist. Denn unsere Netzidentität besteht aus Namen, Adressen, Kommentaren, Ideen, Handlungen, Verbindungen. Außerdem ist es in repressiven Regimen eine Notwendigkeit, seine Identität zu verbergen und anonym zu bleiben; daher muss auch die Anonymität im Netz geschützt werden, mit all den damit verbundenen Macken und Hürden und Trollen – um den Dissidenten und den Whistleblower zu schützen. Diese beiden Absätze über Kontrolle und Identität formen das Recht auf Privatsphäre, das vor allem eine Frage der Kontrolle ist.
VIII. Was öffentlich ist, ist ein öffentliches Gut. Das Netz ist öffentlich; es ist ein tatsächlich öffentlicher Raum (viel mehr als ein Trägermedium). In dem Drang, die Privatsphäre zu schützen, müssen wir uns der Gefahr bewusst sein, die Definition der Öffentlichkeit nicht zu beschränken. Was öffentlich ist, gehört auch der Öffentlichkeit. Der Versuch, solche Dinge als privat oder geheim zu deklarieren, unterstützt Korruption und Tyrannei.
IX. Das Internet sollte offen sein. Das Internet muss weiterhin mithilfe von offenen Standards errichtet und kontrolliert werden. Es darf nicht von irgendeiner Regierung oder irgendeinem Unternehmen übernommen werden. Es darf nicht besteuert werden. Es ist die Offenheit des Netzes, die seine Freiheit garantiert. Es ist diese Freiheit, die das Netz definiert.
Kommentare
Digital Rights Bill Ergaenzung
Ich glaube, es heisst korrekt digital economy bill. Mit digital rights bill (s. Bildkommentar) kam ich beim googeln nicht weit.
Die Briten planen im Prinzip auf Verlangen von Urheberrechteinhabern jeden vom Internet abzutrennen, der Urheberechte verletzt. Dazu gehoeren Haushalte wie auch Websites. Internet-Provider sollen verpflichtet werden, solche Massnahmen auf Verlangen von Rechteinhabern durchzufuehren.
D.h. in Zukunft duerfte z.B. eine Site wie youtube in GB es schwer haben. Unter Umstaenden wird sie von Providern gesperrt werden.
Weiterfuehrende ausfuehrliche Quelle (engl.):
http://www.guardian.co.uk...
Außer Kontrolle! #1
Wir hatten schon mal Freiheit im richtigen Leben. Ganz am Anfang. Dann kamen Menschen und haben sie ausgenutzt. Anschließend gab man uns 10 Gebote. Die sind im Großen und Ganzen auch anerkannt. Trotzdem halten sich nicht alle dran. Weil das (leider) so ist, wurden unter dem Einfluss von Erfahrungswerten, Religionen oder anderen Einschüchterungsorganisationen Sanktionen erdacht, die helfen sollten, die verbliebene Freiheit zu reglementieren. Die ließ sich aber nicht klein kriegen und wanderte ab. Es fand sich ein Plätzchen im WWW. Neue Geschäftsmodelle wurden mit ihrer "Hilfe" geboren. Nie gekannte Kommunikationsmöglichkeiten geschaffen. Sie hat die Menschen näher zueinander gebracht. Dann haben einige dies ausgenutzt und Dinge verabredet, die Superböse sind. Seitdem geht der Trend dahin, daß Freiheit verdächtig ist und komplett überwacht werden soll. Man könnte den Eindruck gewinnen, daß das gerne genommen wird. Initiiert von Machtinteressen, durchgesetzt von Parlamentariern, denen wir das Vertrauen gaben, unsere Freiheit zu bewahren. Und anstatt dem Missbrauch unserer Freiheit entgegen zu treten, schränken sie diese ein.
Fortsetzung in "Außer Kontrolle! #2"
Außer Kontrolle! #2
Das gefällt nicht allen, denn diese "virtuelle" Unfreiheit wirkt sich vehement auf die "reale" Freiheit aus. So ist denn diese "Internet Charta" leider auch nur ein schöner Versuch, etwas zu behalten, was nur noch eingeschränkt, wenn überhaupt, zu retten ist, bzw. gerettet werden soll. Es steht zu befürchten, daß der gut gemeinte Vorschlag eher als Anlass zum Gegenteil genommen wird. Denn noch bevor darüber nachgedacht wurde, wie dieses höchste Gut vor bösem Zugriff zu bewahren ist, wurde beschlossen, wie es kontrolliert wird. Die Geister die man rief, fliegen leider nicht in die gewollte Richtung. Inhalte von "Sozial Communities" werden von geneigter Seite zur Auslese genutzt, jedoch nicht zum Vorteil der darin Vernetzten. Das Recht auf Anschluss unterliegt kapitalistischen Interessen, dadurch geschaffene Möglichkeiten wecken selbige in der Obrigkeit. Hilferufe wie dieser verhallen, das ungebetene Echo heißt ELENA und INDECT.
Wenige sind der Auslöser, bezahlen müssen alle. Haben wir das nicht gerade in einem anderen Zusammenhang auch?
Dem kann ich nur zustimmen.
Die erste Regel im Internet sollte doch lauten, die Regeln erstellt die Community. Kontrolle von außen ist immer eine Interessenvertretung von Wenigen und damit eine Einschränkung der Freiheit von Vielen.
Legitimation der digital Bill of Rights?
Allgemeingültige Regeln fürs Internet sind eine gute Idee. Diese hier sind tatsächlich sehr amerikanisch - und sollten vielleicht etwas universeller gehalten werden. Wie dem auch sei.
WIE genau soll das Netz denn jetzt zu diesen Regeln kommen?
Gibt sich eine demokratische Nation eine Verfassung sollte es im Idealfall so aussehen, dass eine verfassungsgebende Versammlung gewählt wird und hinterher auch die Verfassung selbst durch Wahl bestätigt wird.
Nur, wie sollen solche Netzregeln "legitimiert" werden?
Würden sie einfach verordnet, widersprächen sie sich selbst.
Wie sollen aber alle Internetnutzer dieser Welt informiert werden / mitdiskutieren können / abstimmen?