Thomas Fischer ist Bundesrichter in Karlsruhe und schreibt für ZEIT und ZEIT ONLINE über Rechtsfragen. Weitere Artikel seiner Kolumne Fischer im Recht finden Sie hier – und auf seiner Website.
Liebe Leserinnen und Leser,
ich hoffe, Sie sind wohlauf und haben das Wochenende bei Kerzenschein überstanden, trotz des völlig unvorhersehbaren Winterwütens, wie es in Deutschland nur selten vorkommt und an dessen Vorgänger sich daher nur die Ältesten unter uns erinnern. Welch düsteres Omen!
Was so anfängt, kann nicht gut weitergehen. Das neue Jahr beginnt wieder mit einer Serie von Ereignissen, auf die Deutschland erwartungsgemäß nicht vorbereitet ist. Ich nenne nur die wichtigsten:
1. Anfangsverdacht
Die deutsche Qualitätspresse – ja, das ganze Nachrichtenwesen – hat einen der schwersten Nackenschläge der Nachkriegszeit erlitten. Wer anderes als das Hamburger Nachrichtenmagazin hätte, kaum dass es seinen runden Geburtstag mit einer etwas holprigen Geburtstagsausgabe zu feiern suchte, die Wahrheit ans gleißende Licht des Tages bringen können:
Kai Diekmann – Monolith des Qualitätsjournalismus, Märtyrer der Anständigkeit, Prophet des präintellektuellen Schröderismus, Versöhner von Befehl und Gehorsam, Spürnase an der Wetterfront komatösen Geschehens, Pate der Verachtung, an dessen Sprache das Volk vierzehn Jahre lang zu dem reifen durfte, worauf es heute stolz ist – kurz: dieser Kai D. (52) hat sich in einer Pressemitteilung verheddert.
D. muss sich nämlich gegen einen Verdacht wehren, der einem das Blut in den Adern gefrieren lässt. Der Tatvorwurf wurde behauptet von einer Mitarbeiterin seines eigenen Verlags. Tatort soll ein Badesee gewesen sein. Um was geht es? Kai D. soll die Frau "belästigt" haben. Strafrechts-Spezialisten finden allerdings einfach keine Vorschrift, nach der "Belästigung" bestraft werden könnte. Ob sich da eine Strafbarkeitslücke auftut, ist noch unklar; manche Medien erwähnen den Paragrafen 177 StGB. Ob der Bund deutscher Kriminalbeamter schon gefordert hat, endlich alle Badeseen mit Videotechnik auszustatten, weiß ich nicht. Auf der CES in Las Vegas wurden soeben hochinteressante Unterwasserdrohnen vorgestellt. Eine schöne Erfindung. Richtig eingesetzt sorgen ein paar Dutzend solcher Geräte an jedem Badesee dafür, dass es vorbei ist mit Grabschereien unter Seerosenblättern!
Die freie Presse ist geschockt, bleibt aber gefasst: Wo vor Kurzem eine halbe Seite 1 schon wegen der Größe der Buchstaben keinesfalls ausgereicht hätte, den vagen Verdacht eines derartigen Frevels angemessen bekannt zu geben, druckt man verschämt auf Seite 2 eine dürre dpa-Meldung. Allenthalben erheben sich mahnende Stimmen, die das Hamburger Nachrichtenmagazin auf die Persönlichkeitsrechte hinweisen. Meedia etwa mahnt den Spiegel:
"Dass es sich bei dem 'Verdächtigen' um den langjährigen Chef, der im Umgang mit Persönlichkeitsrechten nicht zimperlichen Bild-Zeitung handelt, darf für ein Leitmedium wie den Spiegel kein Freibrief sein."
Kommentare
Das Problem ist doch, dass in jeder Runde die extremsten Stimmen den Ton angeben. Die besonnenen, moderaten Perspektiven kommen im Getose des Presse-, Blog- und Vlog-Malmstroms ueberhaupt nicht mehr zur Geltung. Wer heute Klicks oder Einschaltquoten haben will, braucht Sensationen. Und es ist eben immer sensationeller, wenn man irgendwelchen haarstraeubenden Theorien zu irgendwelchem Geschehen liefern kann, als zur Ruhe zu mahnen. Zum Vertrauen in Richter und Gericht, oder in den Rechtsstaat ueberhaupt.
Schockierend fuer mich immer wieder, wie sehr Menschen bereit sind, rechtstaatliche Grundsaetze aus dem Fenster zu werfen, wenn es ins eigene Weltbild passt. Hier auf ZON wurde vor kurzem ueber die Behandlung des Pakistaners, der nach dem Anschlag in Berlin festgenommen wurde, diskutiert, der im Guardian Interview angegeben hatte, von der Polizei eher etwas rustikal behandelt worden zu sein. Das war auf einmal voellig OK, weil er ja eines schrecklichen Verbrechens verdaechtigt wurde. Dass dies aber erstmal ueberhaupt kein Grund ist, jemandem die Augen zu verbinden, oder jemanden dazu zu zwingen, sich auszuziehen, wie im Guardian berichtet, wurde von vielen nicht mal in Frage gestellt.
Kachelmann's Aeusserung am Ende des Artikels zeigt sein Format. Trotz all der Schmaehungen hat er das Vertrauen in das System nicht verloren. Das kann man von vielen seiner Gegner nicht sagen...
"Im Bundesland Niedersachsen haben, so wird berichtet, Asylbewerber unter verschiedenen Identitäten durch Täuschung mehrfach Leistungen aus Sozialkassen (etwa nach dem Asylbewerberleistungsgesetz) bezogen."
Das zugrundeliegende Problem ist meiner Ansicht nach, dass die deutschen Behörden (mit Asylbewerbern und anderen Migranten befasste Beamte und die Polizei) trotz seit mehreren Jahren in ganz Europa und innerhalb Deutschlands bereits existierenden technischen Möglichkeiten zur digitalen Finderabdruck- und Personalienerfassung mit diesen Computer- und Scannersystemen immer noch nicht umfassend ausgestattet, vertraut und untereinander vernetzt sind.
Sonst könnte die Person A, die bei der Behörde X unter dem Namen Max Mustermann vorstellig wird, nicht bei der Behörde Y unter dem Namen Schmittchen Schleicher vorstellig werden und bei der Behörde Z angeben, sie hieße Hans Müller (alle Namen frei erfunden). Jeweils zum Zwecke der Beantragung von Sozialleistungen.
Weil - wenn für unsere Behörden und die Polizei - Computersysteme, Software, Datenbanken, Scanner, etc., nicht "Neuland" wären, jedesmal das Computerprogramm Alarm schlagen würde: unser Sozialbetrüger heißt weder so noch anders, sondern eigentlich XXXXX XXXXXX (Name aud Datenschützgründen geschwärzt).
Die Unschuldsvermutung gilt - Gott sei Dank - im Recht, aber leider nicht im realen Leben.
Beispiel: der berühmte Satz: "Opa war kein Nazi".
Oder die Beteuerungen der älteren, jetzt bald ausgestorbenen Generation, von der industriellen Judenvernichtung erst nach Kriegsende erfahren zu haben (so z.B. auch beteuert von Helmut Schmidt, Richard von Weizsäcker und Theodor Heuss).
Dem schenkt man doch heute keinen Glauben mehr, oder?
Es gilt hier erst einmal die pauschale Schuldvermutung:
(Fast) alle waren Nazis. Außer vielleicht den aktiven Widerständlern.
Und jeder hat es gewußt (Auschwitz).
Helmut Schmidt, Richard von Weizsäcker und Theodor Heuss lügen.
Nicht die Verstrickung in NS-Verbrechen muß belegt werden. Sondern es muß - quasi ein Ding der Unmöglichkeit - der Nachweis erbracht werden, daß Opa kein Nazi war und keine Kriegsverbrechen begangen hat.
Sonst wird dem kein Glauben geschenkt.
Selbst wenn Opa SPD-Anhänger war: Das kann ja schließlich jeder behaupten!
...in welche Kategorie fällt denn die Anschuldigung seitens einiger Foristen hier auf ZON, die gebetsmühlenartig schreiben: ...Bundeskanzlerin Merkel ist schuld am Terror in Deutschland...?
Natürlich eine völlig unbewiesene Behauptung, also keine Tatsache. Berifft das den Bereich einer Falschanschuldigung?...