Was lange Zeit nur ein Verdacht war und ein Vorwurf, kann seit Ende 2011 niemand mehr leugnen: Den Sicherheitsbehörden fällt es schwer, Gewalt von rechts als solche zu erkennen. Damals flog der rechtsterroristische Nationalsozialistische Untergrund (NSU) auf, und das Bild, das sich danach entfaltete, war ungeheuerlich: 13 Jahre lang konnten Rechtsextreme mordend durch Deutschland ziehen, ohne dass der weit verzweigte Apparat von Polizei und Geheimdiensten auch nur den Schimmer einer Ahnung hatte.
Doch die zehn Opfer des NSU waren nicht die einzigen, die der Staat übersah. Die offiziellen Statistiken von Menschen, die seit der Wiedervereinigung durch rechts motivierte Gewalt zu Tode kamen, verzeichnen momentan (und inklusive der NSU-Fälle) lediglich 63 Personen. Recherchen von ZEIT ONLINE, ZEIT und Tagesspiegel aber zeigen: Die Zahl müsste viel höher liegen, wie die Sichtung Hunderter Lokalzeitungsartikel und Gerichtsurteile sowie Interviews mit Opferberatern, Anwälten und Strafverfolgern ergaben. Tatsächlich starben zwischen 1990 und 2012 deutschlandweit mindestens 152 Menschen durch Gewalt von Rechtsaußen, bei 18 weiteren Fällen liegt der Verdacht nahe. Mindestens 89 Tote also tauchen in den staatlichen Statistiken nicht auf.
In den offiziellen Zahlenwerken fehlt etwa der Rentner Helmut Sackers, der im Jahr 2000 in Halberstadt (Sachsen-Anhalt) von einem Nachbarn erstochen wurde, nachdem er sich über dessen rechtsextreme Musik beschwert hatte. Dasselbe gilt für drei Polizisten, die 2000 in Dortmund und Waltrop (Nordrhein-Westfalen) von dem bekennenden Rechtsextremen Michael Berger erschossen wurden. Oder der 27-jährige Spätaussiedler Oleg Valger, den 2004 vier junge Rechtsextremisten in Gera (Thüringen) töteten. Oder Karl-Heinz Teichmann; der Obdachlose wurde 2008 von einem Rechtsextremisten in Leipzig zu Tode geprügelt, selbst dessen Verteidiger sprach hinterher von einer rechten Motivation – die Behörden tun es bis heute nicht. Der jüngste Fall auf der Liste ist der des 59-jährigen arbeitslosen Alkoholikers Klaus-Peter Kühn, den drei junge Männer im Juni 2012 im thüringischen Suhl zu Tode quälten.
Noch immer schauen Polizei und Justiz nicht genau genug hin
Die riesige Diskrepanz zwischen offiziellen Statistiken und unabhängigen Zählungen ist seit mehr als zehn Jahren Thema. Zuständig für die Erfassung der Fälle sind dem Föderalismus folgend die Polizeien der Länder, beim Bundeskriminalamt und dem Bundesinnenministerium werden die Zahlen lediglich gesammelt. Nach breiter Kritik reformierten die Landesinnenminister im Jahr 2001 ihre Zählweise – seitdem sollen nicht mehr nur "extremistische" Taten von rechts erfasst werden, also solche, die sich direkt gegen den Staat richten, sondern alle Angriffe, die auf typisch rechten Vorurteilen gegen Menschen basieren, also auf Rassismus, Schwulenhass, Obdachlosenfeindlichkeit oder ähnlichem. Doch das Grundproblem besteht weiter: Vielerorts gibt es noch Polizei- und Justizbeamte, die einschlägige Taten nicht erkennen oder sich nicht mit den Motiven befassen mögen.
Bis vor anderthalb Jahren wiegelten die Behörden in der Regel ab. Im Herbst 2010, aus Anlass des 20. Jahrestages der Wiedervereinigung, hatten ZEIT ONLINE, ZEIT und Tagesspiegel schon einmal eine Liste vergessener Opfer veröffentlicht – mit 137 Namen, die damals 47 offiziell genannten gegenüberstanden. Daraufhin passierte: nichts. Lediglich die Linkspartei im Bundestag griff das Thema auf, und die Antwort der Regierung vom September 2011 ist ein peinliches Dokument: Das Bild der Sicherheitsbehörden von Straftaten "im Phänomenbereich 'Politisch motivierte Kriminalität – rechts'" sei "realistisch und umfassend", hieß es da knapp zwei Monate vor Auffliegen des NSU. Es gebe keinen Grund zur Annahme, dass der Staat Todesopfer rechtsextremer Gewalt übersehe. Eine Zeitungsrecherche vermöge die Arbeit der Sicherheitsbehörden "nicht in Zweifel zu ziehen".
Kommentare
Definitionssache
Die Zahlenunterschiede scheinen auf unterschiedlichen Ansichten zu beruhen. Für die einen hat eine Tat einen rechtsextremen Hntergrund, wenn die politische Überzeugung des Täters die Handlung ursächlich beeinflusste, für die anderen reicht es aus, dass dem Täter eine rechtsextreme Haltung bescheinigt werden konnte - unabhängig davon, ob diese die Tat begründete oder nicht. Alles eine Definitionssache.
Ja, genau, Definitionssache!
Lieber ego-ideal,
danke für die Nachfrage, so stelle ich gern nochmal klar: Die Diskrepanz der offiziellen Zahl mit der unseren basiert *nicht* auf einer unterschiedlichen Definition - in der Print-Ausgabe der ZEIT von dieser Woche erkläre ich das noch ausführlicher in einem weiteren Text.
Wir halten uns bei der Einstufung von Fällen streng an den offiziellen Kriterienkatalog für "politisch-motivierte Kriminalität - rechts". Diese 2001 von der Innenministerkonferenz (IMK) beschlossene Definition lautet:
Gewertet werden Straftaten, „wenn in Würdigung der Umstände der Tat und/oder der Einstellung des Täters Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie gegen eine Person gerichtet sind wegen ihrer politischen Einstellung, Nationalität, Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe, Religion, Weltanschauung, Herkunft oder aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes, ihrer Behinderung, ihrer sexuellen Orientierung oder ihres gesellschaftlichen Status".
Es reicht also *nicht*, dass der oder die Täter bloß eine irgendwie rechte Haltung hat/haben, damit ein Tötungsdelikt auf die Liste von ZEIT ONLINE, ZEIT und Tagesspiegel kommt! Wenn dem so wäre und z.B. jede fahrlässige Tötung oder Körperverletzung mit Todesfolge eines Rechtsextremen gezählt würde, hätten wir sicherliche mehrere Hundert Fälle.
Also, *die Definition ist bei unserer und der staatlichen Liste dieselbe*. Unsere Erklärung für die riesige Diskrepanz lautet: Offenbar schauen wir genauer hin als viele Ermittler...
Lieber Herr Toralf...
...Sie schreiben:
"Obwohl sie laut Paragraph 46 des Strafgesetzbuches in ihren Urteilen stets auch "die Gesinnung, die aus der Tat spricht", berücksichtigen sollen, sparen sie sich das häufig. "
Obwohl mein zweites juristisches Staatsexamen schon eine Weile her ist, und kein Fall rechtsextremer Gewalt unter den Tisch fallen sollte, kann ich das so nicht stehen lassen.
§ 46 StGB beschäftigt sich mit der Strafzumessung und lautet an der einschlägigen Stelle:
"Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab. Dabei kommen namentlich in Betracht:
die Beweggründe und die Ziele des Täters,
die Gesinnung, die aus der Tat spricht, und der bei der Tat aufgewendete Wille,..."
Wenn etwas "namentlich in Betracht" kommt, bedeutet es nicht, dass es immer in Betracht kommt, also man "stets", und ohne Anlass, darauf eingehen müsste.
Im Übrigen ergibt sich vor allem aus § 268 StPO, was ins Urteil gehört, und die Strafzumessung ist nur ein Aspekt.
Ihre Ausführungen bezweifle ich
Lesen sie einfach mal §110, 111, 116 oder 120 StPO.
Hier wird ganz sicher nicht der Eindruck erweckt das "namentlich in Betracht kommen" etwas wäre, das man so einfach vernachlässigen könnte.
Um ernsthaft ...
>> der Staat zählt noch immer weit weniger Tote <<
... gegen rechte Gewalt vorzugehen, muss man die Realität erst einmal wahrnehmen und aussprechen, auch wenn sie unerfreulich ist.
Wer immer noch die Augen verschließt, kann sich publikumswirksame Auftritte mit Händchenschütteln der Angehörigen sparen. Die offenbaren dann nur die Verlogenheit.
Das Problem dürfte eher sein,
daß der "Staat" (das sind übrigens eine ganze Menge Leute) wohl nicht immer ein Interesse hat gegen Gewalt wirklich vorzugehen, sondern Gewalt eher instrumentalisiert.
Schon das Einengen des Problemes auf ein Gewaltfeld halte ich für problematisch. Ich kenne etliche, welche nach den ständigen Gewaltattacken gegen Deutsche, Weiße, Schwarze oder andere Nichtmuslime (nur Beispiele) aus allen möglichen Gründen kaum noch die Augen verdrehen, wird eine paar Tage später wieder der große Kampf gegen rechts ausgerufen. Gerade auch, weil hierdurch Tätergruppen ausgeblendet werden.
Der allgemeine Umgang mit Gewalt als politisches Kalkül schwächt den Kamf dagegen deutlich ab. Schlußendlich wird nicht nur die Gewalt von z.Bsp. arabischen, türkischen oder islamistischen Jugendlichen verharmlost, dies zieht auch eine Verharmlosung faschistischer Gewalt nach sich. Zumal wenn in manchen Kreisen schon jeder als rechtsradikal gilt, wer ein deutsches Volkslied kennt.
Bei dieser Form von Umgang mit Gewalt werden alle diese unappetitlichen Truppen und die dahinter stehenden kranken Ideologien uns noch lange beschäftigen. Leider.
der Schimmer einer Ahnung
"13 Jahre lang konnten Rechtsextreme mordend durch Deutschland ziehen, ohne dass der weit verzweigte Apparat von Polizei und Geheimdiensten auch nur den Schimmer einer Ahnung hatte."
Das ist so nicht richtig. Der ehemalige Leiter der Ermittlungsgruppe Terrorismus/Extremismus beim LKA Thüringen erwähnte z.B. vor dem Untersuchungsaussuss des Bundestages, LKA-Präsident Egon Luthardt habe gesagt, man werde das Trio niemals finden, da es unter staatlichem Schutz stehe. Es gab zahlreiche Hinweise auf den Verbleib der Terrorzelle, sie standen z.T. unter Beobachtung,Festnahmen wurden abgesagt,zahlreiche V-Leute wurden im Umfeld von Mundlos,Böhnhardt und Zschäpe finanziert.
Im Zusammenhang mit der „Vertrauensperson“ (VP 562) des Berliner Landeskriminalamtes,die im Jahr 2002 Informationen über die Terrorgruppe lieferte, die das LKA aber nicht weitergab, gibt es erneut eine seltsame Erklärung:
"Dem Vernehmen nach soll das Berliner Landeskriminalamt die Nichtweitergabe von VP-Informationen an andere Behörden damit begründet haben, dass ein ausländischer Geheimdienst mit der Beendigung der Zusammenarbeit gedroht habe. Diese Anweisung habe generell gegolten, nicht speziell für VP 562.” (Tagesspiegel 18.3.13)