Thomas Fischer ist Bundesrichter in Karlsruhe und schreibt für ZEIT und ZEIT ONLINE über Rechtsfragen. Weitere Artikel seiner Kolumne finden Sie hier – und auf seiner Website.
Diesmal ein Vorwort
Die heutige Kolumne widme ich der Redaktion der Deutschen Richterzeitung, des Zentralorgans des "Deutschen Richterbundes", der unermüdlich für die Verbesserung des Richterbilds in der Öffentlichkeit kämpft. Unter Verweis auf seine Mitgliedschaft in dieser Redaktion hat es am 30. April den Berliner Bußgeldrichter Urban Sandherr dazu gedrängt, als Gastautor der Frankfurter Allgemeinen Zeitung eine 120 Zeilen lange Würdigung meines Wirkens als ZEIT-Autor zu veröffentlichen (FAZ vom 30. April 2015, S. 7). Man kannte den Kollegen Sandherr bislang vor allem als mahnenden Bewahrer der deutschen Sprache – etwa wenn er den Gesetzgeber der Straßenverkehrsordnung in seiner Richterzeitung wegen totalitärer Tendenzen geißelte, weil er geschlechtsneutrale Formulierungen verwendete (Beispiel: "Rad fahrende Person" statt "Radfahrer"). Mit seinem meiner Person gewidmeten Beitrag begibt sich der Radfahrspezialist nun auf neues Parkett und zeigt auch hier, was er kann. Sein Tauchgang in die analytische Tiefe pendelt zwischen "Fassungslosigkeit" und "verschlagenem Atem". Da ist der Sauerstoffvorrat erwartungsgemäß rasch verbraucht.
Schon aus Gründen der Fortbildung und Aufklärung ist zu wünschen, dass Sandherrs Text weite Verbreitung findet. Er ist dieser Kolumne daher als Anhang beigefügt. Gemeinhin haben – und verbreiten – Richter gern das Selbstbild des nicht nur im Beruf, sondern in seiner ganzen Persönlichkeit zur Ausgewogenheit und argumentativen Offenheit Neigenden, sodass ihre Profession als nichts anderes als die Verwirklichung ihrer inneren Natur erscheint. Insofern ist die Analyse Sandherrs von augenöffnender Wucht. Hierfür ist ihm zu danken.
Damit sind wir auch schon beim heutigen Thema angelangt.
Der Richter, Erkenntnis und Interessen
Wäre das Recht eine Naturwissenschaft und die Erkenntnis des Richtigen dasselbe wie die des Realen, wäre die Sache schon schwierig genug. Wir wissen nämlich, dass es eine "reine" Erkenntnis nicht gibt, selbst nicht auf den Höhen der Abstraktion, die uns immerhin sagt, dass die Mathematik auch im System des Sirius gilt, selbst wenn dort keine vernunftbegabten Wesen leben. Die irdische Anschauung bestätigt dies eindrucksvoll. Wie könnte es sonst sein, dass die eine Hälfte der Ingenieure glaubt, heute gebaute Atomkraftwerke seien für die nächsten 10 Millionen Jahre sicher, während die andere Hälfte schon unruhig schläft, weil sie an ihre Urenkel denkt? Seit Jahrtausenden scharen sich die Naturwissenschaftler um die Zentren der Macht, des Reichtums und der Interessen. Statt des Rades, des Starfighters und der Guillotine hätten sie gewiss auch etwas anderes erfinden können, wären die Zeiten danach gewesen. Eine schöne Vorstellung von der Relativität des Geraden und des Gebogenen erlangt man, liest man Stanislaw Lems Geschichten über den Piloten Pirx.
Das Recht funktioniert noch viel primitiver, will sagen: Näher am Menschen. Es setzt Macht voraus, und Gewalt zu ihrer Durchsetzung. Macht setzt Interesse voraus: Am Fortkommen des einen auf Kosten des anderen. An den Reichtümern der Welt, soweit sie sich für uns erschließen. An Aneignung von Lebenschancen.
Recht liegt, bildlich gesprochen, eine kleine Sekunde oberhalb der Gewalt, und kann sie deshalb verhindern, indem es sie symbolisiert. Voraussetzung dafür ist, dass an diese Symbolwirkung geglaubt wird, dass sie also dasselbe oder ein höheres Maß an Legitimität (Begründetheit) von Macht erzeugt als die pure Gewalt. Deshalb gibt es uns Richter.
Über die Ausgliederung einer solchen Gruppe kann man in der vorzüglichen Geschichte des Rechts des emeritierten Berliner Rechtswissenschaftlers Uwe Wesel viel Interessantes lesen, es soll hier nicht referiert werden. Wichtig war in jedem Fall, dass die Person des Richters entweder "zwischen" den Parteien oder "über" ihnen stand. Ein Rechtsstab, der offen auf der Seite einer der streitenden Parteien steht, bevor noch die Auswahl der Tatsachen getroffen ist, auf welche es ankommen soll, kann keine Überzeugungskraft gewinnen.
Wenn es um das "Richtige" geht, liegen Erkenntnis und Interesse (so der Titel einer berühmten Schrift von Jürgen Habermas aus dem Jahr 1968) sehr nahe beieinander. Diese Feststellung ist kein neuhegelianisch-marxistisches Teufelswerk, sondern der bis in die Tiefen der empirischen Gedächtnisforschung bestätigte Stand der Forschung über den Menschen. Wir können nichts dagegen tun, sondern nur unser Leben damit gestalten. Was den Inhalt des "Interesses" ausmacht und bestimmt, ist vielgestaltig und hundertfach verwurzelt – es reicht von der Biologie über die geschichtlich-soziale Existenz bis in die (angeblichen) Höhen der Ideen. In der Wirklichkeit ist es meist von erstaunlicher – und erstaunlich leicht zu dechiffrierender – Schlichtheit: Der Bauer hält die Rübe für das Sinnbild der Existenz, der Kaufmann den Euro und der Rechtsprofessor die Ausnahme von der Regel.
Kommentare
Wenn sie da mal nicht irren ...
Zitat: "was für die nächsten 200 Jahre ziemlich unwahrscheinlich erscheint. "
Das erscheint mir definitiv zu lang gegriffen. 50 Jahre bestenfalls! Möglich, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht umgesetzt! Denn zu diesem Zeitpunkt dürfte Argumente in die Diskussion eintreten, welche mit einer "neutralen" Rechtsprechung rein gar nichts gemein haben.
Die nächsten 200 Jahre und darüber hinaus ...
Ich bin eher überzeugt, dass jedes Rechtssystem, aller angestrebten Präzision zum Trotz, in Anlehnung an die Erkenntnisse von Gödel, prinzipiell unentscheidbare Sätze enthält. Ein Programm müsste hier wahrscheinlich eine Zufallsauswahl treffen. Das mag zwar im Effekt kein schlechteres Ergebnis sein, als wenn ein aus "Fleisch" bestehender Richter "zufällig" entscheidet, jedoch hat im letzteren Fall unser Unmut ein personifiziertes Ziel. Den Unmut andererseits auf eine Maschine zu lenken, würde in einer Gesellschaft sicherlich schwerer zu ertragen sein.
Da kann der deutsche Richterbund gegen Windmühlen antreten,
denn man weiss:Selbst wenn die Richter grobe und gröbste Fehler begehen, sind sie für die Folgen nicht verantwortlich. Dafür sorgt § 839 Abs. 2 S. 1 BGB und die schützende weite Auslegung.
Und was bringts?
Wollen Sie richterliche Unabhängigkeit oder nicht? Oder anders gefragt, wie viel ist sie Ihnen wert?
Die Alternative, also die "richterliche Haftung," würde zunächst einmal nur der Zaghaftigkeit in der Rechtssprechung Vorschub leisten. Es würde dann wahrscheinlich noch mehr auf Vergleiche gedrängt, Urteile so gut wie möglich vermieden oder Fälle, wenn möglich und zulässig, der nächst höheren Instanz aufs Auge gedrückt, in der Hoffnung sie mögen es schon richten.
Keine Frage, Richter sollten ihre Urteile vorab sorgfältig zu durchdenken. Und bei manchen Stuhlurteilen fragt man sich in der Tat, ob es nicht besser gewesen wäre, wenigstens doch fünf Minuten in der Mittagspause in die Urteilsfindung zu investieren.
Aber ist es das wert? Mal abgesehen von der Frage, wer eigentlich bestimmt, was "Fehler" sind? Sie? Ich? Die nächste Rechtsmittelinstanz?
Ich erinnere mich noch dunkel an die Tiraden eines meiner Professoren gegen manche BGH-Urteile. Sehr unterhaltsam, aber schnell war klar, dass nicht jeder seine Meinung teilte. Und genau das ist das Problem in der Juristerei - der Begriff "Rechtsstreit" kommt nicht ungefähr.
Solange es sich also nicht um vorsätzliche Rechtsbeugung handelt, sollte man im Interesse eines halbwegs funktionierenden System die Finger von solchen Haftungsdebatten halten. Wenngleich man aber manchmal durchaus sorgfältiger auswählen könnte, wer auf dem Stuhl Platz nehmen darf.
Im deutschen Rechtsstaat
Wer etwas über die Befangenheit von Richtern lernen möchte, informiere sich darüber, wieviele Richter nach 1945 rechtswirksam wegen Rechtsbeugung während der NS-Zeit verurteilt wurden.
Allerdings sei auch angemahnt, dass die ständigen Sparrunden der Bundesländer die Unabhänigkeit von Richtern gefährden können.
Radfahrende
Man muss Urban Sandherr nicht mögen, aber Fischers Kritik an Sandherrs Kritik feministisch inspirierter Sprachverhunzung ("Radfahrende") hätte ich an seiner Stelle nicht als Aufhänger genommen. Möchte Herr Fischer künftig statt Richter "Richtender" oder gar "Bundesrichtender" genannt werden?
ZU Nr. 5:
... nein, so lange es auch die "Bundesrichterin" noch gibt.
Im Übrigen trifft Ihr Beispiel nicht ganz:
"Radfahrender" ist ja auch nicht eben ein Vorbild für geschlechts-neutrale Sprache.
Und schließlich: Jede(r) wie er (!) mag (kleiner Scherz).
Ob das "totalitär" ist: Ich habe Zweifel.
TF