Plötzlich knickte mein Fuß weg. Kurz vor der Geburt meines Sohnes war ich über den Sportplatz gelaufen und dabei ungünstig aufgekommen. Mein Fußgelenk schmerzte, nicht viel, nur beim Auftreten tat es weh. Ich wurde wütend. "Man, jetzt kannst du dein eigenes Kind nicht mehr beschützen!", dachte ich. "Das kann doch nicht wahr sein, dass du nicht auf dich aufpassen kannst! Wie konnte dir das passieren!" Nach der Wut kam die Panik: Aufpassen war das Wichtigste, was ich in meiner Kindheit und Jugend gelernt hatte.
Im Jahr 1992 bin ich sieben Jahre alt und starre auf den Fernsehbildschirm. Es zeigt ein Hochhaus in Flammen. Ich verstehe nicht. Ich ahne nur, dass es eine ernste Situation sein muss. Meine Eltern sind ganz still. "Jetzt wollen sie uns umbringen!", stottert mein Vater schließlich. Dem Tod, dachten sie, waren sie eigentlich schon entflohen: In den siebziger Jahren waren sie vor dem Vietnamkrieg in einem winzigen Fischerboot auf das offene Meer geflüchtet. Nach einer langen Odyssee waren sie letztlich nach Deutschland gekommen, in einen kleinen Ort in der Eifel. Von dort aus sehen sie nun zu, wie Hunderte Neonazis und Tausende Anwohner in Rostock-Lichtenhagen eine Erstaufnahmestelle für Asylbewerber und einen Wohnblock vietnamesischer Vertragsarbeiter belagern. Brandsätze fliegen auf das Sonnenblumenhaus und auf dem Höhepunkt des Pogroms zieht sich die Polizei teilweise vollständig zurück.
Mit Metallknüppeln gegen Nazis
Nach den Nachrichten sagt mein Vater, er müsse mir im Esszimmer etwas beibringen. Er fragt mich, ob ich ihm vertrauen würde. Ich bejahe und wir gehen rüber. Dort packt er mich. Ich müsse mich befreien, ruft er. "Ich kann nicht!", rufe ich zurück. Ich strample, aber ich habe keine Chance gegen seine Kraft. Mein Vater schreit mir ins Gesicht: "Ich bin noch lieb zu dir, aber der Nazi wird dich umbringen!" Ich schreie nun auch, sage, dass er mich loslassen soll. Entgeistert kommt meine Mutter dazu und fordert, dass er den Griff lösen soll. "Wir müssen ihm aber beibringen, stark zu sein!", entgegnet mein Vater. "Insbesondere, wenn sie kommen! Wenn wir zu sanft zu ihm sind, wird er sich nie verteidigen können!", sagt er. "Wir sind aber nicht mehr im Krieg!", erwidert meine Mutter aufgebracht. "Der Krieg ist vorbei! Hör auf!" Widerwillig lässt er los.
In den nächsten Tagen kommt mein Vater mit Starkstromleitungen nach Hause. Sie waren in kurze Stücke geschnitten. "Guck einmal! Die sind wie richtige Knüppel mit Metallkern!", sagt er und zeigt sie stolz meinen zwei älteren Geschwistern und mir. "Wenn Leute uns jetzt angreifen oder ausrauben wollen, dann können wir uns verteidigen!" Noch an demselben Abend bringt er uns bei, wie wir die Knüppel im Ernstfall anwenden sollen.
Eier und Hundescheiße
Noch in derselben Nacht weckt uns lautes Hupen. "Deutschland den Deutschen!", grölen ein paar Männer draußen. "Ausländer raus!" Ich renne ins Wohnzimmer, dort stehen meine Eltern wie versteinert am Fenster. Mein Vater hat einen der neuen Knüppel in der Hand. Ich bin zu erschrocken, um meinen eigenen Knüppel zu holen. "Was soll ich machen?", frage ich. Sie antworten nicht. Ich frage noch einmal, wieder antworten meine Eltern nicht. Nach gefühlt stundenlangen Minuten ziehen die Männer wieder fort. Ich stehe im Wohnzimmer und wünsche mir, mich nie mehr schwach fühlen zu müssen.
Es sollte nicht der einzige nächtliche Übergriff bleiben. An manchen Morgen klebten Eier an unserer Hauswand oder Hundescheiße. Unbekannte hatten sie dorthin hingeschmiert. Meine Eltern säuberten die Wand am nächsten Tag wieder. Auch Steine schmissen die Leute. Auf jeden Knall folgten Gelächter und schnelle, leiser werdende Schritte. Manchmal versuchte ich aus Wut hinterherzulaufen, aber ich war zu langsam.
Im Jahr 1998 bin ich 13 Jahre alt und stehe auf dem Schulhof. Fünf Mitschüler, alle wesentlich größer als ich, umzingeln mich. "Wo haste denn deine Jeans geholt?", fragt einer. Ich verstehe die Frage nicht. "Bei C&A!", antworte ich. "Nene, beim Viet Cong, Japse! Da kauft ihr doch alle ein, ihr Scheißjapsen! Hört ma’ her Leute, der Japse hat Jeans vom Viet Cong!" Dann laufen sie auf mich zu. Einer erwischt mich am Arm, aber ich kann mich losreißen. Ich laufe so schnell ich kann weg, aber ich stolpere und meine Jeans zerreißt. Ein Junge setzt sich auf meinen Rücken und hält mich fest. "Jetzt bin ich tot!", denke ich. "Gleich werden sie mich zu Tode prügeln." Dann kommt die Pausenaufsicht und die Jungs rennen weg.
"Rassismus gibt es in Deutschland nicht mehr"
Am nächsten Tag sitze ich mit meinen Eltern beim Klassenlehrer. Er sagt, dass er mit allen geredet habe und dass es allen leid tue. "Es sind halt Jungs, die sich ausprobieren müssen. Das ist ganz normal in diesem Alter", sagt er. "Das ist Rassismus", sagen meine Eltern. Das Wort kannten sie gut, sie sahen ja die Nachrichten. Mein Lehrer sieht das anders: "Rassismus! Rassismus gibt es in Deutschland nicht mehr. Das war ein Problem von früher. Ich verstehe ja, dass Sie nicht aus Deutschland kommen und das daher nicht verstehen können. Aber das, was passiert ist, das hat nichts mit Rassismus zu tun."
Im Auto wiederholt mein Vater seine Forderung, ich müsse mich besser verteidigen lernen: "Wenn die anderen größer sind als du, dann musst du schneller sein." Diesmal pflichtet ihm auch meine Mutter bei.
Kommentare
Rassismus beginnt eben nicht erst beim dumpf-prügelnden, "Ausländer raus"-brüllenden Provinzschläger, sondern viel früher.
Angefangen beim begeisterten Sarrazianer, der sich einreden ließ, dass es genetisch determinierte volksbezogene Unterschiede gibt und diese wertet, über denjenigen, der "den Juden" ein Händchen für Geld attestiert, bis hin zu denjenigen, die "den Griechen" eben gerade kein Händchen für Geld attestieren.
Unser Gehirn braucht Stereotypen, Vorurteile und Verallgemeinerungen, um sich in der komplizierten Welt zurechtzufinden.
Wir sollten uns allerdings davor hüten, dem allzu sehr nachzugeben, denn strenggenommen fängt Rassismus in dem Moment an, indem ich bestimmte Eigenschaften allgemeingültig einer Volksgruppe zuweise und mir nicht mehr die Mühe mache, Einzelbetrachtungen anzustellen.
Genauso, wie sich die meisten von uns zu Recht davon distanzieren würden, wenn man uns, den Deutschen, pauschalisierend Humorlosigkeit oder blinde Autoritätshörigkeit unterstellte.
Die Angst vor dem Fremden ist erst einmal normal und menschlich. Ihr und ihren dunklen Gedanken gerade nicht nachzugeben und stattdessen intelligente Reflektion entgegenzusetzen, ist ein Zeichen für einen aufgeklärten Geist. Für das gegenseitige Verständnis ist es das allemal wert.
Dem tumben Nazi vor dem Asylantenheim wird nicht mehr zu helfen sein, dem im dortigen Stadtteil lebenden Zwölfjährigen - Erziehung zur weltoffenen Toleranz vorausgesetzt - vielleicht schon noch...
"Dem tumben Nazi vor dem Asylantenheim wird nicht mehr zu helfen sein"
Falscher Ansatz, diesem ist genauso zu helfen.
https://de.wikipedia.org/...
Der Lehrer, der behauptete, es gäbe in Deutschland keinen Rassismus mehr, sollte nicht Lehrer sein. Die Polizisten, die Vietnamesen nicht schützten, keine Polizisten. Diese Leute können von mir aus alles mögliche sein, aber nicht verbeamtete Staatsdiener und Lehrer. Aber wie wir aus den Vorfällen von Clausnitz wissen, wo man lieber grölende Einwohner schonte und durch Herrn Höcke, sind weder Schule noch Polizei gefeit vor solchen Leuten. Gerade Schule und Polizei sollten aber Vorbildfunktion haben.
Gegen welche Dienstvorschrift konkret hat der Lehrer verstossen?
Welchen Sinn hat dieser Artikel? Hier wird, bei Rollenverteilung, ein gern so genannter "Einzelfall" beschrieben, der vor 25 Jahren passierte - was unterscheidet diesen von den täglichen AKTUELLEN Einzelfällen? Wieso liest man darüber nichts? Wer A sagt, muss auch B sagen können.
Ich habe mir und meiner Frau kürzlich Pfefferspray gekauft - natürlich nur für unsere Wanderungen in der freien Natur, falls mal ein Wolf den Weg kreuzt...
Aber so viele Wölfe gibt es in ganz Europa nicht, dass die Rekordumsätze der Waffengeschäfte in Deutschland in den letzten 2 Jahren noch erklärbar wären. Wie wäre es mit einem Artikel über diese "Einzelfälle"?
Sie sollten mal über sich nachdenken. Sind Sie je angegriffen oder diskriminiert worden? Ich vermute nein. Der Autor berichtet jedoch von dem, was ihm wiederfahren ist. Das ist ein Riesenunterschied.
Die Jugend des Autors mag 25 Jahre her sein. Glauben Sie wirklich, dass sich da etwas gebessert hat? Glauben Sie wirklich, dass ein Jugendlicher mit Migrationshintergrund in der deutschen Provinz, egal ob Ost oder West, heute viel besser behandelt wird? Und Sie kaufen sich Pfefferspray. Wozu?
Noch kein Kommentar. Mein Sohn war Eurasier, er hat erfahren müssen, was bedeutet kleiner als die anderen zu sein. Eins hat er sofort begriffen, Du musst so gut sein , dass Du ganz toll antworten kannst, mit Humor, mit Schnelligkeit, mit Kung-Fu, nie mit Schlägen sondern mit Taktik. Und dann hat er auch begriffen, dass die Eleganz der Sprache den Meister macht. Er war der erste Inder Argumentierungsfähigkeit und bald der erste in Deutsch und Englisch. Mit vier antwortete er einem Kerl 7 Zentimeter größer, der ihm sagte: Du kleiner, kannst Du überhaupt deine Laterne tragen? Das war zu Sankt Martin.
Er antwortete: ich bin klein aber fein. Meine Laterne ist leicht. Daher kann ich sie tragen.
Eleganz war immer seine Antwort. Schnelligkeit, wenn andere brutal waren. Türkische Jungs haben ihn sogar mit Messer angedroht. An dem Tag hat er richtig Angst gehabt, dann hat er Kung-fu gelernt. Angst vor Terrorismus,dann verteidige dich mit Anti-Terrorismus. Autos müssen durch die Technik gebremst werden. Benutz Deinen Kopf!
Schön, dass Sie auch mal mit einem Gegenbeispiel den Artikel relativieren.
"Türkische Jungs haben ihn sogar mit Messer angedroht. "
Ist mir übrigens auch schon passiert, im Westen.