Mit Neil MacGregor ist das Sublime eingezogen in die Beziehung der Briten zu den Deutschen. Im tadellos sitzenden dunklen Anzug schlängelt sich der Direktor des Britischen Museums zur Pressevorschau durch die Menge vor allem deutscher Journalisten. Leicht vorgebeugt, mit verhaltenen Lächeln spricht er von dem Unbegreiflichen in der deutschen Geschichte. Deutschland, sagt er, sei ein Land mit beweglichen Grenzen, von immerzu sich ändernder Gestalt, die neueste Version gerade 25 Jahre alt: Geboren am 9. November 1989. "Down" steht auf einem Stück der gefallenen deutsch-deutschen Mauer, aufgebaut links neben dem dunklen, schlauchartigen Eingang zur Ausstellung. Am Ende des Korridors öffnet sich der erste Raum und dem Betrachter leuchtet ein Pappschild entgegen. Es hat die Form der vereinten Ost- und Westhälfte Deutschlands, ist schwarz-rot-gelb bemalt und in der Mitte steht mit weißen Großbuchstaben: "Wir sind ein Volk".
Neil MacGregor ist ein Zauberer. Mit der Ausstellung Germany – Memories of a Nation (Deutschland – Erinnerungen einer Nation) hat er eine geistreiche Skizze Deutschlands geschaffen. Mit leichter Hand einen Essay über die deutschen Lande entworfen aus Gegenständen der vergangenen 600 Jahre. Aus Dingen, die Geschichten evozieren, Zusammenhänge symbolisieren, Mentalitäten veranschaulichen. MacGregor hat diese Methode vor vier Jahren für seine Geschichte der Welt in 100 Objekten erfunden. Das Buch (2012 erschien die deutsche Übersetzung) ist in Großbritannien bis heute ein Bestseller, die dazugehörige Serie von 15-minütigen Radiosendungen war Kult. Immerhin ging es um Weltgeschichte. Aber Deutschland?
Über Jahre haben wir uns daran gewöhnt, dass Deutsche in Großbritannien zuerst einmal Nazis waren. Der Deutsche im britischen Fernsehprogramm war blond und schnarrte "Achtung!". Bevor Deutschland 2006 die Fußballweltmeisterschaft ausrichtete, schrieb die Sun über die Ähnlichkeit des Fußball-Logos mit Hitler und entdeckte ferngesteuerte Mini-Panzer in den Stadien. Als endlos witzig galt der Hinweis auf die deutsche Wesensart, gemäß der wir im Urlaub schon morgens um sechs die besten Liegen am Pool mit dem Handtuch reservieren.
Das änderte sich, als Briten, die 2006 zur besagten Weltmeisterschaft anreisten, ein neues, entspanntes, lachendes Deutschland vorfanden. Etwa zur selben Zeit entdeckten britische Maler und Musiker Berlin: Die Stadt war hip und bot Wohn- und Studioräume zu einem Drittel der Londoner Preise. Dann änderte sich Deutschlands Image noch einmal, als mit der Euro-Krise die deutsche Kanzlerin zur mächtigsten Person Europas, Deutschland auf einmal wieder zum reichsten, mächtigsten Staat der EU wurde.
Interesse am deutschen Wirtschaftsmodell
Das Image der Deutschen ist seitdem nicht mehr so locker, wie kurzzeitig nach dem Sommermärchen der Weltmeisterschaft. Aber es hat an Gewicht gewonnen. Jetzt interessieren sich Londoner Minister und Parteichefs brennend für das deutsche Wirtschaftsmodell. Britische und deutsche Ministerien tauschen sich fast so häufig aus wie deutsche und französische. Bilaterale Treffen sind von britischer Seite so hochrangig besetzt wie schon lange nicht mehr. Im Februar wurde der Kanzlerin unter lautem Jubel der britischen Presse die Ehre zuteil, vor beiden Häusern des Londoner Parlaments zu sprechen – das dürfen nur wenige Regierungschefs.
Neil MacGregors Ausstellung deutscher Erinnerungen steht auf der subtileren Seite im Spektrum dieser neu- und wiederentdeckten britischen Deutschlandliebe. Bis zum Ersten Weltkrieg fühlten sich Briten und Deutsche einander näher als anderen europäischen Nachbarn. MacGregor selbst stammt aus einer schottischen Familie, in der selbstverständlich davon gesprochen wurde, wie der preußische General Blücher dem englischen Herzog von Wellington half, Napoleon zu besiegen.
Kommentare
Die bewegendste Würdigung der Austellung
Seit Tagen verfolge ich die Berichte in den deutschen Printmedien und auch 3sat über diese Ausstellung.
Ausser dem Hinweis, dass McGregor in den 50er Jahren in Hamburg gastweise das Heinrich-Hertz-Gymnasium besuchte, kann ich nur hinzu fügen, dass der Artikel mich absolut neugierig auf die Ausstellung macht.
Begleitende BBC-Radioserie für jedermann zugänglich
Zu diesem schönen Artikel und dem sympathischen ersten Kommentar möchte ich meinerseits nur hinzufügen, dass Neil MacGregor auch eine begleitende Serie zur Ausstellung produziert hat, die derzeit in täglichen Episoden auf BBC Radio 4 ausgestrahlt wird. Die zugehörigen Podcasts sind auch auf der BBC-Webseite abrufbar. Sehr empfehlenswert, vor allem für all diejenigen, die sich die Ausstellung in London nicht selbst anschauen können.
Nun ja,
Karl der Große war König des Fränkischen Reichs. Deutschland gab es noch nicht.
Karl der Große: Frankreich gab's auch noch nicht.
Das Traurige an der ganzen Sache ist, dass BBC Radio 4 und die Ausstellung nur von einer dünnen Intelligentsia-Gruppe besucht werden. Das englische Gegenstück zu "Otto-Normalverbraucher" bleibt leider weiterhin ein ungebildeter Sun-Leser
Überall so.
Ist ja bei uns leider auch nicht anders. Vielen Menschen in Deutschland fällt zum Thema "Russland" und "Osteuropa" im Wesentlichen Kommunismus, Armut und Korruption ein. Wer hat schon Gogol gelesen, kann mit der "Kiewer Rus" oder den Jagiellonen etwas anfangen, mit den chassidischen Juden der Ukraine, den Moldaufürstentümern pder der hanseatischen Vergangenheit der baltischen Küstenstädte?
Deutschlandbild der Briten
Bislang war es in der Tat so, dass das Deutschlandbild der Briten auf die Nazi-Zeit beschränkt war. Habe mich jedes Mal geärgert, wenn ich in eine englische Buchhandlung gegangen bin. Egal ob in London, in der Provinz oder bei Waterstone's in Brüssel - gewöhnlich findet man dort zwar meterweise Literatur über "German History" - von denen sich aber 95% auf die berüchtigten 12 Jahre beziehen. In den tausend Jahren davor und den 70 Jahren danach ist offenbar rein nichts in unserem Land geschehen. Wenn noch ein schmales Tatschenbuchbändchen dabei ist, das einen allgemeinen Überblick über deutsche Geschichte gibt, ist das schon viel.
Schon insofern können wir Herrn MacGregor gar nicht genug danken, dass er das Deutschlandbild seiner Landsleute zurechtzurücken versucht. Ich habe mal gelesen, dass er sich damals als Gastschüler in Hamburg geschmeichelt gefühlt hat, dass ihn seine deutschen Gasteltern - erstmalig in seinem Leben - "wie einen Erwachsenen behandelt" haben und ihm z.B. sogar die Hausschlüssel anvertraut haben. Die guten Leute haben sich damals wahrscheinlich gar nicht viel dabei gedacht - und trotzdem unwissentlich einen unerwartet folgenreichen Beitrag zur deutsch-britischen Aussöhnung geleistet. Oft entsteht aus einem Senfkorn eben Großes ...