Selten wurden in der politischen Öffentlichkeit Wahrheiten so verschleiert wie in diesen Formulierungen: Außengrenzen schützen. Oder: Grenzen schließen. Oder diese Variante: Flüchtlingszahlen
reduzieren.
Was wir im medialen Diskurs tagtäglich in der Frage der Flüchtlinge erörtern, ist eine technische Umschreibung, um nicht jene Worte in den Mund zu nehmen, die wir eigentlich verwenden müssten. Unsere Sprache ist sehr präzise. Wir reduzieren nicht die Flüchtlingszahlen, sondern wir weisen Menschen ab, die auf der Flucht sind. Wir schützen nicht die Außengrenzen, wenn wir in Bulgarien oder anderswo an der Peripherie der Europäischen Union Maschendrahtanlagen bauen, sondern wir weisen Menschen ab, die auf der Flucht sind. Wir schauen nicht zu, wie innerhalb Europas nationale Grenzen geschlossen werden, sondern wir weisen Menschen ab, die auf der Flucht sind.
60 Millionen Menschen weltweit sind auf der Flucht. Die
überwältigende Mehrheit dieser Menschen hat weder die finanzielle, mobile oder
anderweitig logistische Möglichkeit vor Krieg, Hunger und Elend nach Europa zu
gelangen. Die meisten schaffen es nur in die Nachbarprovinz oder allenfalls in
das Nachbarland. Kaum einer kann den Kontinent verlassen. In großen Lagern, die
übrigens genauso funktionieren, wie es klingt, also in menschlichen
Auffanglagern, die wie Gefängnisse funktionieren, geht jeder Staat oder jede
Organisation mit diesen Geflohenen um, wie es ihm beliebt.
Egal ob in einem UN Flüchtlingslager in Afrika oder im Libanon. Die Menschen werden ausgezogen, durchsucht, man nimmt ihnen die Pässe ab oder ihr Geld, sie werden zu rechtlosem Menschenmaterial degradiert und notdürftig versorgt. So, dass sie gerade eben nicht sterben. Unsere Regierungen haben sich entschlossen, nicht in diese Lager zu investieren. Wenn sich also Menschen aus Auffanglagern dieser Welt auf den Weg machen, dann tun sie das, weil wir die Welthungerhilfe nicht mit genügend Geld ausstatten. Oder präziser ausgedrückt: Wir, die Geberländer, sind verantwortlich für das Darben der Flüchtlinge in den Flüchtlingslagern.
Lediglich fünf Millionen Fliehende, so die großzügigste Schätzung, halten sich derzeit in Europa auf. Manche fliehen als Europäer innerhalb Europas. Denn auch in Europa gibt es Länder auf dem Balkan, in denen zum Drogen-, Frauen-, und Menschenhandel zusätzlich Diskriminierung und Verfolgung herrschen, das betrifft vor allem die Volksgruppe der Roma. Wir, jene Länder, die zuerst Teil der EU waren, haben uns entschlossen, dies zu ignorieren und in keiner Weise politisch darauf zu reagieren.
Für diesen lächerlich geringen Anteil an Menschen, die nach Europa gelangen oder gezielt nach Deutschland wollen, haben wir als einzig politische Maßnahme, die eben erwähnten drei Ideen. Nationale Grenzen schließen. Außengrenzen schützen. Flüchtlingszahlen reduzieren.
Die Konsequenz darauf ist, dass Menschen, die eben gerade von einer lebensbedrohlichen Reise über das Mittelmeer irgendwo in Europa angekommen, von uns, die wir die Idee der Grenzschließung auf jede erdenkliche Art und Weise durchexperimentieren – entweder durch Einreisebestimmungen oder tatsächliches Dichtmachen der Grenze mit Zaun und Waffen – diesen schutz- und rechtlosen Menschenstrom kreuz und quer über den Kontinent jagen.
Es wird in Kauf genommen, dass Menschen sterben
Die Begründung dafür ist einfach: Wir haben uns entschlossen, Grenzen zu schützen und nicht Menschen.
Flüchtlingszahlen verringern und Grenzen schließen heißt, Menschen die Menschenrechte nicht zu gewähren. Menschenrechte eben nicht als universell zu betrachten, im Sinne: gültig für alle Menschen und durch alle Zeiten hindurch. Grenzen zu schließen bedeutet nicht, den Schlagbaum herunter zu lassen, sondern es bedeutet, in Kauf zu nehmen, dass Menschen sterben. Weil sie zurück in die Boote kehren müssen und über das Mittelmeer zurückreisen. Wer nicht auf der Hinfahrt ertrank, tut es vielleicht auf der Rückfahrt. Wer auf der Balkanroute nach Europa rein nicht verhungerte oder vor Erschöpfung zusammenbrach, tut es vielleicht auf dem Rückweg.
Wenn wir Grenzschließungen debattieren, verhandeln wir über die Anzahl von Menschenleben. Grenzen schließen und Flüchtlingszahlen reduzieren heißt nichts Geringeres, als Menschen zu töten. Das ist der einzig präzise Ausdruck für das, was sich hinter dieser technischen, sauber geleckten Vokabel verbirgt. Und wenn man das weiß, dann muss man sich auch trauen, diesen wie mit dem Skalpell gestochen scharfen Ausdruck zu verwenden. Dann gilt es in den Talkshows nicht mehr die "Forderung nach Obergrenzen" zu diskutieren oder ein "Tageskontingent", sondern die Anzahl von Menschen, die wir an einem menschenwürdigen Leben teilhaben lassen wollen. Wir müssen bei unseren Politikern auf präzise Ausdrucksweise bestehen. Wir müssen sämtliche Politiker massiv zwingen und unter kolossaler Anstrengung dazu nötigen, die genaue Anzahl von Menschen zu definieren, die sie künftig nicht mehr über die Grenze reinlassen wollen. Sie sollen die genaue Anzahl der Toten benennen, die sie bereit sind, in Kauf zu nehmen. Sie sollen sich nicht mehr hinter der Anzahl der Geretteten verstecken, sondern geradestehen, für die Anzahl der Getöteten, Versehrten, Alleingelassenen.
Kommentare
" Man hat sich entschlossen, Grenzen zu schützen und nicht Menschen. "
Nun, hätten wir keine Grenzen, wäre "Syrien" längst hier!
Verstanden?
Müsste die logische Konsequenz daraus dann nicht sein, alle Menschen gleich zu behandeln? Was dann aber auch bedeutet, dass jeder sein Leben aus eigenen Mitteln bestreiten muss. Wieso soll ein Teil der Bevölkerung gezwungen werden einen anderen zu alimentieren?
Na dann mal Butter bei die Fische. Wo sieht denn die Autorin die Obergrenze für Tote in Afrika oder Südamerika oder im Drogenkrieg in Mexiko oder in Bangladesh oder Myanmar oder ...
Anscheinend sind wir für die Alle verantwortlich, müssen die Welt retten und damit basta.
Was hilft das ganze Moralisieren denn wenn intelligente Lösungen gefragt sind und nicht das Heilsversprechen. Und ja auch die einheimische Bevölkerung hat Rechte, darf diese formulieren und durchsetzen. BASTA.
"Anscheinend sind wir für die Alle verantwortlich, müssen die Welt retten und damit basta."
Das ist lediglich Ihr unqualifiziertes Resümee dieses Artikels. Sie sollten aber der Autorin nichts unterschieben, das ist unredlich. Sie hat sich klar auf die Flüchtlinge bezogen, die in die EU kommen wollen (und können). Und das sind tatsächlich weniger als 10 Prozent derjenigen, die weltweit auf der Flucht sind.
Butter bei die Fische, gerne: In diesem unseren Lande stehen zwischen ein und zwei Millionen Wohnungen leer (je nachdem, wen man fragt.) Asylanträge gibt's derzeit ca. 500.000 (die nicht alle durchgehen werden.)
"Was hilft das ganze Moralisieren denn wenn intelligente Lösungen gefragt sind und nicht das Heilsversprechen."
Das ist nun ein sehr pauschaler Satz. Butter bei die Fische, bitte. Geben Sie die "intelligente Lösung" umgehend bekannt. Viele warten darauf.
Wenn unsere Sprache präzise wäre, würden wir schon einmal beim Wesentlichen beginnen: Nämlich den Begriff "Flüchtling" nicht inflationär zu benutzen und damit praktisch sämtliche Unterschiede zwischen "Asylsuchende", "Migranten" und "illegal Einreisende" zu vermischen. Wenn diese Präzision stattfindet, dann können wir auch über die unterschiedlichen Fragen der Grenzsicherung sprechen. Denn dann kann Ihre Frage auch beantwortet werden. Ja, Grenzen zu sichern, um diejenigen abzuweisen und aufzuhalten, die nicht Asylsuchende sind, ist eine Kernaufgabe der staatlichen (und eigentlich mittlerweile europäischen supra-nationalen) Aufgabe und ist Gegenstand der bestehenden Rechtsordnung.
Menschenrechte sind nicht immer universell. Sie sind es lediglich in ruhigen Zeiten.
Einfacher Beweis:
Nehmen wir an, die kompletten 60 Millionen Menschen, die Sie erwähnen, flüchten alle nach Deutschland.
Es sollte wirklich jeden klar sein, dass Deutschland eine solche Menge nicht wuppen könnte. Weder logistisch, noch finanziell. Also müssten wir den größten Teil abweisen, trotz der universellen Rechte, alleine schon um selbst zu überleben.
Am Ende streiten sich hier die beiden Fronten nur darüber, welche Mengen noch aufnehmbar sind. Da gibt es unterschiedliche Ansichten. Bei 60 Millionen Flüchtlinge bin ich mir sicher, gibt es nur noch ganz wenige Einzelmeinungen, die behaupten würden, dass wir das dennoch schaffen. Also liegt die Menge irgendwo zwischen einer Million Flüchtlinge und sechzig Millionen Flüchtlingen.
Der Beweis dafür, dass sogenannte universelle Gesetze gar nicht so universell sind.
In tollen Zeiten, wo pro Jahr wenige hundert kommen, kann man natürlich durchaus so argumentieren. Aber ganz sicher nicht in Zeiten, wo so viele unterwegs sind.
Präzise