Es reicht nicht zu sagen, dass die Türkei ein Unrechtsstaat ist. Ich möchte, dass man begreift, welche Art von Menschen in diesen Gefängnissen landen. Nur so kann man verstehen, dass die Türkei auf einem Weg ist, der in die Düsternis führt. Ich zähle Menschen wie Deniz Yücel zu dieser Sorte Mensch: neugierig, vorurteilsfrei, unerschrocken. Diese Attribute führen in der Türkei neuerdings auf direktem Weg ins Gefängnis. In einem Rechtsstaat gäbe es eine Anklageschrift, Beweise, Fristen. In der Türkei aber wird weggesperrt, was einem politisch nicht beliebt. An die Stelle von Diskurs und Opposition sind das Dekret, die Verlautbarung, die Handschellen getreten. Jede politische Gegenansicht, die geäußert wird, wird als persönlicher Angriff gewertet. Ein Land verliert seine vielen Stimmen. Es wird ein stummes Land.
Deniz lebt zurzeit in einem Land, in
der ein großer Teil der intellektuellen Elite entweder inhaftiert
oder geflohen ist. Deniz hat den Aufstieg der politischen Opposition
genauso wie den Verlust ihrer politischen Immunität begleitet. Den
Niedergang der parlamentarischen Demokratie in der Türkei als
deutscher Korrespondent für eine deutsche Tageszeitung nicht
verstehen, nicht recherchieren zu wollen, ist schlicht
unprofessionell. Was hat es mit der Kurdenfrage auf sich? Was will
die PKK, wofür steht sie, was genau ist das Ziel? Die
deutschsprachigen Leser müssen eine objektive Berichterstattung
bekommen, um sich ein Bild der Lage machen zu können. Sie wollen
verstehen, warum ein Junge, der von unten kommt, innerhalb von
wenigen Jahrzehnten ein Multimillionär werden kann? Warum können dessen
Söhne und Schwiegersöhne Millionäre sein? Was ist in der Türkei
genau passiert?
Das ist "bloß" Polizeigewahrsam
Angela Merkel beispielsweise ist keine Multimillionärin geworden. Sie und Erdoğan haben ihre Regierungszeit ungefähr zur gleichen Zeit begonnen. Merkels Familie hat keine Baufirmen und Aufträge in Milliardenhöhe. Sie käme nicht auf die Idee, die Immunität der Linken aufzuheben und sie einzusperren. Während sie seit 2005 in einer Regierungskoalition mit der SPD den Atomausstieg beschlossen haben, das Ende der Wehrpflicht eingeführt und die Ehe für alle, hat die türkische Regierungspartei AKP im etwa gleichen Zeitraum 105 Gefängnisse, mit vielen Zusatzgebäuden für Frauen und Kinder gebaut und es tatsächlich geschafft, 200.000 Menschen zu inhaftieren. Die Untersuchungshaft auf sieben Jahre zu verlängern. Das Internet zu zensieren, Telefone abzuhören. Die Bevölkerung ist entweder für diese Politik oder dagegen. Die, die dagegen sind, sehen täglich, dass es jederzeit jeden treffen kann. Die, die dafür sind, wissen oft gar nicht, was vor sich geht. Wie auch, ohne freie Presse?
Keine Ahnung, ob eine Absicht dahintersteckte. Deniz hat sich am 14. Februar auf der Polizeistation gemeldet. Ab da war er in Polizeigewahrsam, danach in Haft. Hätte er auch am 13. oder am 15. dorthin gehen können? Hat er den Valentinstag, der auf Türkisch "Tag der Liebenden" heißt, extra ausgewählt? Zuzutrauen wäre es ihm. Seitdem sitzt er ein. Wenn man die Menschen, die in den Gefängnissen verschwinden, mit dem Bild eines gewaltigen Wasserstroms vergleicht, verhält sich die Anzahl derer, die wieder herausgelassen werden, wie einzelne Tropfen.
Meşale Tolu, die vorgestern nicht freikam, aber immerhin aus der Haft entlassen wurde, ihr Ehemann sowie Peter Steudtner, die ungefähr einen Monat zuvor entlassen wurden, sind zusammen mit Deniz vier Menschen, die in Deutschland bekannt sind. Viele andere sind es nicht. Sie sitzen in übervollen Gefängnissen. Eine kurdische Schriftstellerkollegin erzählte von ihren Erfahrungen im Polizeigewahrsam. Zwei besonders beliebte Methoden sind das tagelange Einsperren in einem Käfig, wo nur so viel Platz ist, dass man gebückt darin verharren muss. Eine andere Foltermethode besteht darin, die ausgezogene Frau in einen Raum voller Männer zu führen. Alles Polizisten, Wärter, Verhörer, die sie psychisch erniedrigen, indem sie körperliche Merkmale verspotten, verhöhnen und anderweitig vulgär kommentieren. Das ist "bloß" der Polizeigewahrsam. Was sich in den Gefängnissen abspielt, ist kaum in Worte zu fassen. Man müsste für die vielen Arten, was man mit einem Knüppel anstellen kann, erst eine neue Sprache erfinden. Es ist "die neue Türkei".
Kommentare
Großartiger Text, großartiger Schluß.
Ich danke Ihnen, Frau Kiyak.
Ich muss mich jetzt mal outen. Mir steht die ganze Diskussion um die Türkei in den deutschen Medien viel zu sehr im Mittelpunkt. Die Türkei ist erfreulicherweise kein EU Mitglied - und noch besser, nicht im Euro. Wir müssen also wenigstens für dieses Land nicht haften.
Der prominenteste „deutsche“ Gefangene, ist in erster Linie türkischer Staatsbürger, weil er das so wollte. Wir können ihm also nicht helfen. Folglich, lasst die Türkei einfach machen, was die Mehrheit der Türken (unserer sowieso) offenbar will. Kümmern wir uns doch lieber um unsere eigenen Probleme. Wir haben reichlich davon.
Wunderbar, Danke!
"Wunderbar, Danke!"
Leider gibt es solche Texte nur, wenn ausländische Regierungen, am liebsten mit einer Leitfigur (Erdogan, Putin, Orban, Trump, Sadam, Assad etc), das Missfallen der Elite erregt haben.
Frau Kiyak merkt ganz richtig an, das bei unseren Künstlern und Intellektuellen größtenteils Totenstille herrscht. Roger Willemsen war noch etwas politisch, bis er starb. Precht ist ein klein wenig kritisch, aber im Grunde ein Internationalist, der einerseits nicht bedenkt, dass die meisten Menschen nicht die Gaben von Natur und Familie mitbekamen, die sie zu erfolgreichen Einzelkämpfern machen könnten, und das andererseits auch nicht möchte, weil er sonst einer unter vielen wäre. Sloterdijk ist voll auf Elitenkurs. Einzig Zizek (ein Slowene) ist noch ein Linker, der seine Botschaften aber so aufwendig verpackt, dass man sich schon ordentlich für den Mann interessieren muss, um sie zu enthüllen.
Wir haben bei SPON noch ein paar Kolumnisten, die sich eine eigene Meinung zu deutschen, sozialen, europäischen, Sicherheits- und Kriegsthemen erlauben.
Wenn man sich dagegen anschaut, was noch in den 70ern los war, kein Vergleich. Die Intellektuellen und Künstler wurden über die Jahre dadurch zur Räson gebracht, dass staatliche Gelder für Kunst und Universitäten Stück für Stück eingekürzt wurden. Heute gibt es keine Uni mehr, die nicht auf Drittmittel angewiesen wäre.
Freie Forschung? Radio Eriwan würde sagen: Im Prinzip schon.
Die kurze Leine der leeren Taschen wirkt enorm.
Erdogan ist viel stärker, mächtiger, nachhaltiger und vor allem für die Bevölkerung in der Türkei repräsentativer, als man das in Deutschland und der dortigen tendenziell grün eingestellten Medienlandschaft gerne hätte.
Kurzum: Erdogan sitzt fest im Sattel und anstatt dass sich die einstigen Hoffnungen grüner Träumer, die Türkei werde sich im Rahmen der politischen Annäherung an Europa und Liberalisierung der politischen Verhältnisse kulturell an die EU annhähern im Sinne von Demokratie und Menschenrechten nach westlicher Prägung, erfüllt hätten, ist das Gegenteil eingetreten: Islamisierung statt Verwestlichung. Peter Scholl-Latour (RIP) hat schon vor langer Zeit in seinem Buch "Allahs Schatten über Atatürk" diese Entwicklung prophezeit. Von der politischen und gesellschaftlichen Elite in Deutschland und EU wurden solche Analysen und Prognosen aber nicht gehört.
Und wieder ist es gelungen, in dem Artikel zur Ursachenforschung für die zu verurteilenden Zustände in der Türkei nicht ein einziges Mal die politische Richtung des Islam zu erwähnen, nach der der jetzige Präsident maßgeblich seine Agenda bestimmt.
So bleibt die Frage nach dem Warum - unbeantwortet.
"Und wieder ist es gelungen, in dem Artikel zur Ursachenforschung für die zu verurteilenden Zustände in der Türkei nicht ein einziges Mal die politische Richtung des Islam zu erwähnen, nach der der jetzige Präsident maßgeblich seine Agenda bestimmt."
Dazu bedarf es des Islams nicht. Autoritäre und autokratische Systeme, die aus (letztmaligen, bevor sie an die Macht gekommen sind) Wahlen hervorgegangen sind, gibt und gab es auch völlig unabhängig von "dem Islam",