Ständig schwappen neue Empörungswellen hoch, die schnell im Internet anwachsen können, in denen gegängelte Erwachsene endlich mal wieder ungezogene Rüpel sein dürfen. Die meisten Erregungen entstehen aber aus privaten Anlassfällen und nicht aus staatlichen Verordnungen. Diese sind auch Symptome für die Verwerfungen einer Gesellschaft, deren demokratisches Versprechen alle einlädt, ihre persönliche Achtung mit der Achtung der anderen abzugleichen – und dabei die undemokratische Wirklichkeit umso deutlicher zu empfinden.
Der Wunsch nach Kompensation nicht nur für reale Benachteiligungen, sondern auch für symbolische Kränkungen kann aber auch dazu führen, dass der Wunsch nach Kompensation narzisstisch überstrapaziert wird. Einem Spielzeugkonzern steht eine Klage wegen Volksverhetzung ins Haus, weil manche Science-Fiction-Figuren angeblich rassistische Stereotypen bedienen. Ein Turnschuh wird nach einem Internet-Shitstorm noch vor seiner Markteinführung wieder eingestampft, weil sein Design angeblich an die Sklaverei erinnert.
Wieder andere empfinden es als Bevormundung, dass gefühlte Opfer in Kinderspielzeug und Turnschuhen Schmähungen oder Diskriminierungen nicht nur zu erkennen glauben, sondern durch die Anerkennung dieser Interpretation auch Konsequenzen durchsetzen können. Beleidigt und herabgesetzt vom moralischen Zeigefinger fühlen sich vor allem jene, die sich bislang nicht durch andere beleidigt gefühlt haben. Also die vielzitierten weißen, westlichen Männer mit Geld und Status.
Liberalisierung der Sitten
Außerdem, stöhnen diese liberalen Zensurwarner, leiden wir unter der Unterschätzung unserer intellektuellen Fähigkeiten. Wir wissen nämlich selbst, dass in Sätzen über Politiker auch Politikerinnen impliziert sind, selbst wenn das Binnen-I fehlt. Wir haben längst bemerkt, dass sich das N-Wort für Weiße verbietet, während es auf der Straßen der USA eines der meistgebrauchten Slangwörter ist, mit dem Schwarze eine ganze semantische Palette zwischen Anerkennung und scherzhafter Diminuierung, Solidarität und Selbstpositionierung in einem weißen System ausdrücken.
Kurz gesagt: Die so heftig erregende Kränkung läuft auf den Vorwurf hinaus, dass der mündige, bildungsnahe Bürger zum unmündigen Kind degradiert wird. Das vertragen insbesondere Menschen schlecht, die über spezielle Kompetenzen verfügen. Alteingesessene Kulturwissenschaftler sehen sich von den Postcolonial Studies herausgefordert, leistungsorientierte Kunsthistoriker von quantifizierenden Frauenquoten. Und Literaturkritiker werden leicht dünnhäutig, wenn Debatten sich eher an der Reklamation opportuner Bezeichnungen und der Fahndung nach unzulässigen Stereotypen als an Stil und Erzählperspektive orientieren.
Die Angst vor der Entwertung eigener Kompetenzen äußert sich auch in der Warnung vor Zensur und vor dem Ende der Meinungsfreiheit. Die unterstellte Beschneidung der Redeweisen und Konsumgewohnheiten vergisst dabei aber zweierlei.
Zum einen ist das, was für den einen als Zensur erscheint, für den anderen das Gegenteil, nämlich Teilhabe und Sichtbarmachung einer bislang vergessenen oder unterdrückten Geschichte. Politische Korrektheit bedeutet auch, dass Menschen – und im Zuge der fortschreitenden Demokratisierung der Anerkennungsansprüche sogar Tiere – eine Stimme bekommen, die bislang keine hatten. Und eben nicht nur, dass Reden und Handlungen beschnitten werden. Diese Lesart des moralischen Reformismus lässt am Horizont der Geschichte gar einen Kommunismus der Selbstachtung aufleuchten, der jedem Individuum das Recht auf psychische und physische Integrität garantiert.
Zum anderen blendet die Klage über das in Schraubstöcke gepresste Leben aus, dass wir ein halbes Jahrhundert der Liberalisierung der Sitten hinter uns haben. In dieser Zeit der Individualisierung wurden historisch beispiellose gesellschaftliche Freiräume erst geschaffen – von der WG bis zum Swingerclub, vom Aussteigerbauernhof bis zum Börsenmonopoly, vom Avantgarde-Archiv bis zu den digitalen Plattformen. Hier könnte die gefährlich schillernde Originalausgabe von Pippi Langstrumpf möglicherweise irgendwann um einen Liebhaberpreis an einen geistesverwandten Renegaten verkauft werden.
Kommentare
Hilfestellung
viele dieser Zeichen sind Hilfestellung für Mitbürger, die nicht so weit denken können und die Konsequenzen ihrer Handlungen nicht abschätzen können.
Nicht jeder versteht oder erinnert sich an den http://de.wikipedia.org/w... .
Nicht jeder muss sich z.B. neu Gedanken machen, ob Passivrauchen nun schädlich ist oder nicht.
Wofür der arme Kant alles herhalten muß
Das hat er nicht verdient.
Political Correctness ist Zensur.
Darüber können auch die relativierenden Artikel hier bei ZEIT Online nicht hinwegtäuschen. Vollkommen zurecht sind die Menschen kritisch und fragen sich, was dahinter steht, wenn die Sprache von oben künstlich und offensichtlich aus politischen Gründen modifiziert wird.
Es ist und bleibt Zensur!
halt eine Form geistiger Enteignung, die sich nur auf einem sehr zweifelhaften Menschenbild gründen kann.
Wer die Grenze zwischen sinnvoller Korrektur und eigenverantwortlichem Handeln demaßen relativiert, mithin unkenntlich macht, darf sich schon fragen lassen was er mit dieser Stoßrichtung bewirken will!
Denn wen man nicht denken lernen läßt, der kann auch nicht wenn es darauf ankommt.
Denn wer an quasi historischen Texten ohne Not herummanipuliert und dieses Tun garnicht sachlich begründen kann, der qualifiziert sich ausweislich des eigenen Manipulatuionsversuchs an der Vergangenheit durchaus als "Bloggwart", oder nicht?
Denn welche Berechtigung authorisiert eigentlich diese neuen Möchtegernjakobiner? So richtig erkennbar ist das nicht.
Mehr als ein n-ter Aufguss vom Terror der Tugend kommt dabei nicht heraus, töricht und langweilig.
Beste Grüße CM
Wo das hinführt kann man sich in UK anschauen
Versuchen sie mal in UK im Supermarkt eine Stricknadel zu kaufen. Hoffentlich sind sie volljährig oder besser 25 Jahre alt. Wenn nicht bekommen sie das Teil nicht.
Nanny-State pur. Davon sind wir noch weit, weit weg. Aber diese Kinderbücherrazzia nach politisch unkorrekten Begriffen ist schon peinlich.
Den Sarkasmus brauchen wir nicht...
...ich wünschte, wir hätten mehr von diesem liberalen westeuropäischen Freiheitsgeist des Individuums in unserem Land. Weiß oder nicht weiß. Und bitte - was soll der Verweis auf die Hautfarbe? Wir laufen Gefahr in einer Wohlfühldiktatur zu leben, einer Fortsetzung der "kommoden Diktatur" der späten DDR, der viele hinterhertrauern weil sie angepasst gut dort meinten leben zu können. Wollen wir das? Ein bißchen mehr britisch-amerikanischer frischer Luftzug in den Debatten stünde uns nicht schlecht. Die Deutschen sind ein Land in ständiger Angst vor frischer Luft, aber es muß nicht so bleiben.
britisch-amerikanischer Luftzug?
Bei dem Thema, um das es hier geht, ist es gerade in US-Amerika ja noch viel schlimmer, da ist Deutschland ja der Hort der Freiheit.