Der arme George Gershwin. Ihm lag so viel daran, dass Porgy and Bess trotz seiner Jazz- und Spiritual-Elemente als Oper anerkannt würde. Er wählte die durchkomponierte große Form mit Rezitativen, ohne gesprochene Dialoge, verband die afroamerikanischen Einflüsse mit großem Orchester, besetzte alle Partien mit klassisch ausgebildeten Sängerinnen und Sängern.
Und doch dauerte es Jahrzehnte, bis Gershwins American Folk Opera als Oper verstanden wurde. Nach einer Konzertversion in der Carnegie Hall in New York, der Weltpremiere am 30. September 1935 im Colonial Theatre in Boston und 124 Aufführungen am Broadway ging die Show, pardon: die Oper auf Tournee, nach Philadelphia, Pittsburgh, Chicago und Washington. In keiner der Städte wurde Porgy and Bess in einem Opernhaus gespielt. Erst 1976 war es so weit, in der Houston Grand Opera in Texas. Neun Jahre später folgte die Metropolitan Opera in New York. Gershwin war schon lange tot.
Mittlerweile versuchten andere, die Ernsthaftigkeit und den Kunstanspruch der Oper mit der Popularmusik zu verbinden. Die Musicals Cabaret von 1966 und Hair von 1967 markierten einen Wendepunkt, indem sie Nazis und Vietnamkrieg, Drogen und Nackte auf die Bühne brachten, wo bisher – von dezenter Sozialkritik wie in der West Side Story Leonard Bernsteins abgesehen – die leichte Themen regiert hatten.
Aber es war die Unbekümmertheit der Rockmusik, die zu ernst gemeinten popularmusikalischen Opernversuchen führte. Die sogenannte Beat-Oper Then an Alley (1967) von Tito Schipa auf der Basis von 18 Liedern Bob Dylans und sein Orfeo 9 (1970) sind frühe Beispiele. Und auch Bernstein experimentierte für MASS (1971) mit Rockmusik.
Die Grenze zwischen Musical und popularmusikalischer Oper ist schwer zu ziehen, eine Definition des Genres Rock-Oper kaum möglich. An die durchkomponierte Form ohne Dialoge wagten sich nur wenige, Andrew Lloyd Webber etwa, später Großfürst des gefühlsüberbeladenen Breitwandmusicals, mit seinem Erstling Jesus Christ Superstar (1970). Auch die Alben Tommy (1969) und Quadrophenia (1973) von The Who, die es ins Kino und auf die Bühne schafften, kamen ohne Dialog aus. Die Kinks spielten seit 1969 eine ganze Reihe von Konzeptalben ein, die es dann auch in Bühnenversionen zu sehen waren.
In Deutschland machte die Kölner Gruppe Floh de Cologne (
Profitgeier
, 1971) eine Art Rock-Kabarett, und die Shows von Amon Düül II wollten zwar manchmal Opern sein, waren aber meist Performances ohne stringente Handlung. Pink Floyd legten 1979 mit
The Wall
samt Film und theatralischen Konzerten die wohl erfolgreichste Rock-Oper vor – dann waren die Siebziger schon vorbei und mit ihnen die hohe Zeit der ernst gemeinten Verbindung von Rockmusik und Bühnenkunst.
In den Achtzigern und Neunzigern regierten die auch "Pop-Opern" genannten Mega-Musicals, Ausstattungs- und Spezialeffekt-Orgien, für die sogar eigene Theater gebaut wurden: Andrew Lloyd Webbers Großwerke, theatrifizierte Disney-Zeichentrickfilme,
Les Misérables
und
Miss Saigon
. Selten entstanden so legitime Nachfahren der Rock-Oper wie Jonathan Larsons
Rent
: Er nahm sich Mitte der Neunziger Puccinis
La Bohéme
zur Basis und ersetzte Tuberkulose durch Aids.
Seit einigen Jahren ist es ein gängiges Geschäftsmodell, bekannte Songs aus Rock und Pop in dünne Plots zu pressen. Das Musical hat die Handlung praktisch aufgegeben, das zeigen
Mamma Mia!
mit Liedern von Abba,
Movin’ Out
(Billy Joel),
All Shook Up
(Elvis),
Love
(Beatles) oder
We Will Rock You
(Queen). Opernhaft sind manche Produktionen nur in ihren Dimensionen, etwa
The Lord of the Rings
von 2006, eines der teuersten Musicals aller Zeiten – und ein ziemlicher Flop.
Klar, Konzeptalben gibt es noch; Green Day nannten ihr
American Idiot
2004 eine Punk-Oper und brachten es im April dieses Jahres sogar auf die Bühne. Ernst meinen es auch die Anhänger eines Genres, das mit den Walkürenwelten Wagners ohnehin viel gemein hat: Metal- und Prog-Metal-Projekte wie
Avantasia
,
Ayreon
oder
Aina – Days of Rising Doom
. Sie folgen in Musik und Handlung ausgetretenen Pfaden, ebenso wie die All-Star-Besetzung aus Bands wie Supertramp, Fairport Convention, Yes, Barclay James Harvest und Jethro Tull, die seit 2009 mit Chor und Orchester die "keltische Rock-Oper"
Excalibur
aufführt, peinliche
Riverdance-goes-Progrock-Pyrotechnik
.
Derweil kooperieren Theatermacher mit Musikern wie Robert Wilson mit Tom Waits oder die halbe deutsche Regisseurriege mit den Einstürzenden Neubauten . Sie integrieren Songs in Bühnenstücke , ohne dass gleich Opern daraus würden. Andererseits stürzen sich stoffhungrige Musical-Macher auf klassische Themenwelten: Faust wurde verhackstückt, Schillers Lied von der Glocke , Elton John und Tim Rice verniedlichten für Disney Verdis Aida zum Musical.
George Gershwins Pionierleistung ist verpufft: Ernsthaftes Popmusiktheater hat sich nicht etabliert. Und selbst Porgy and Bess mussten leiden. Trevor Nunn, ein Webber-erprobter Regisseur, ersetzte die Rezitative durch gesprochene Dialoge aus der Romanvorlage und die Opernstimmen durch Musical-Schmetterer. Gershwin zum Trost: Porgy and Bess – The Musical scheiterte.
Kommentare
Gershwin lebt wie kein Zweiter
Ich möchte Ihnen wiedersprechen.
George Gershwin und gerade "Porgy and Bess" lebt weiter.
Mir abgesehen von Jobim und Ellington sind mir wenige andere Komponisten bekannt, die im aktuellen Zeitgeschehen so häufig, verschiedenartigst und vielfältig interpretiert werden wie Gershwin. Gerade Porgy und Bess haben es deshalb geschafft.
Zudem glaube ich, dass Gershwin mit Porgy and Bess kein Experiment gestartet hat, sondern als großer Künstler ein Ventil geöffnet hat. Für sich und als Hommage an die vielen schwarzen Größen seiner Zeit...
Wohin eine Schwarzen-Oper in Ghulla-Slang in den 30er Jahren führen wird, wussten George und Ira Gershwin sowie Dubose Heyward sicher!
Um es mit Gershwin zu sagen "It Ain't Necessarily So"
Mini ;o}
Kein Widerspruch
Darin sehe ich keinen Widerspruch, MiniH. Das "verpufft" meinte ich im Hinblick darauf, dass die Ernsthaftigkeit im popularmusikalischen Musiktheater nicht viele Nachahmer gefunden hat. Die Gershwins und Porgy and Bess selbst sind sicherlich unsterblich, gehören fest zum Repertoire - und auch in dieser Hinsicht echte Oper.
Faktische Ungenauigkeiten
1. Vor Jesus Christ Superstar schrieb Webber "Joseph and the Amazing Technicolor Dreamcoat"(von 1968).
2. Schon in den Zwanzigern gab es die sogenannte Jazzoper: Ein fantastisches Beispiel ist Ernst Kreneks "Johnny spielt auf" von 1927. Kulturbetriebs- und gesellschaftskritisch und musikalisch mehr als hinreißend.
Stimmt
Asche auf mein Haupt, Zenna!
Nicht so sehr wegen Joseph, der ist zwar in der Tat älter als Jesus Christ Superstar, wurde aber erst danach bekannt. Davor wurde das Stück nur ein paar Mal in Kirchen und Schulen aufgeführt und war gerade 35 Minuten lang. Allenfalls ein kleines Pop-Oratorium, keine Rock-Oper.
Aber wegen Krenek. Jonny spielt auf war ein Riesenerfolg - bevor die Nazis kamen. Das bekannte Plakat für die "Entartete Musik"-Ausstellung, der Saxofonist mit dem Davidstern, ist eine Verballhornung eines Jonny-Plakats. Leider ist in diesem Fall die NS-Propaganda ziemlich nachhaltig, denn die Oper hat es nie so recht zurück ins Repertoire geschafft.