ZEIT ONLINE: Herr Rambam, in Tel Aviv und anderen israelischen Städten campieren die Demonstranten, am Samstag gingen Hundertausende auf die Straßen. Auf den Demonstrationen ist vom "neuen Tahrir-Platz" die Rede – hat der arabische Frühling Tel Aviv erreicht?
Yigal Rambam: Wir sprechen hier über den Habima-Platz in Tel Aviv, nicht über den Tahrir-Platz in Kairo. Sicher, wie den Demonstrierenden in Ägypten geht es uns um einschneidende Veränderungen im politischen Alltag, ähnlich wie dort handelt es sich um den Konflikt einer ganzen Generation. Aber die Durchführung ist eine andere. Schließlich begann hier alles mit der Forderung nach Wohnrechten und bezahlbaren Mieten.
ZEIT ONLINE: Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat nun ein Expertenkomitee beauftragt, das die Forderungen der Demonstranten überprüfen und mit der Bewegung in Dialog treten soll. Ist das ein erster Erfolg?
Rambam: Nein, das ist nur eine Taktik der Regierung, um mehr Zeit zu gewinnen. Der Großteil des von Netanjahu entsandten Spezialistenteams teilt seine neoliberale Agenda und nimmt den Ruf nach sozialem Wandel nicht ernst. Was Netanjahu uns anbietet, ist von unseren Forderungen sehr weit entfernt, denn wir wollen eine tiefgreifende Veränderung, keine oberflächliche Schönheitskorrektur.
ZEIT ONLINE: Ist der Protest denn ein antikapitalistischer?
Rambam: Die Proteste umfassen ganz Israel. Sie beschränken sich auf keinen spezifischen, politischen Sektor und auf keine Partei, teilweise haben uns sogar Vertreter der israelischen Rechten unterstützt, was ich als sehr positiv empfinde.
ZEIT ONLINE: Warum?
Rambam: Das Verhältnis von Rechts und Links in Israel kann generell kaum mit anderen Ländern verglichen werden. Bislang reduziert es sich fast ausschließlich auf Außenpolitisches: Die Linke setzt sich für die Aussöhnung mit den Palästinensern ein, die Rechte weniger. Erst jetzt gerät das Soziale wieder ins Blickfeld. Der Protest hat also auch kein durchweg antikapitalistisches Profil.
ZEIT ONLINE: Aber ist unter den Protestierenden nicht Kapitalismus-Kritik verbreitet?
Rambam: Das ist eine Folge unserer Aktivitäten. Man hört nun häufiger den Satz, der Kapitalismus sei an seinen Grenzen angelangt. In den Diskussionen im Camp berufen sich zum Beispiel viele auf prominente Stichwortgeber wie den Wirtschaftsprofessor Joseph Stiglitz. Seine Analysen gehen in die gleiche Richtung und betreffen nicht allein Israels Wirtschaftsmodell, sondern den Weltmarkt.
ZEIT ONLINE: Schätzungen zufolge unterstützen inzwischen knapp 85 Prozent der israelischen Bevölkerung die Proteste. Die Bewegung wird von vielen als Volksaufstand bezeichnet. Spielt Nationalismus eine Rolle?
Rambam: Nein, die meisten hier wenden sich gegen das nationalistische Modell, wie es ja die Regierung repräsentiert. Innerhalb des Camps spielt Nationalismus keine Rolle, auf den Demonstrationen ist er kaum vertreten. Der tatsächliche gemeinsame Nenner der Protestierenden ist die wiedererwachte Hoffnung auf soziale Gerechtigkeit, nicht der Glaube an eine starke Nation.
Kommentare
Israel?
Wer hätte gedacht, daß das in Israel möglich wäre. Ein Generalstreik ist geplant...
Oder ist es eher, wie ich gestern las? Das dies gar nicht so abwegig für Israel ist. Nur was man uns hier an Informationen über Israel präsentiert beschränkt sich auf die Palästinenser-Frage.
Ein Lichtblick ist das auf jeden Fall. Die Empörung über die Zustände in den sogenannten Demokratien muß weiter gehen. Gerade Europa hat da viel Veränderung nötig.
Was nützt ein demokratisches System, wenn der Normalbürger mangels wirtschaftlicher Möglichkeiten keinen Anteil an dieser Demokratie haben kann? Was nützen Wahlen, wenn man nur Parteien wählen kann, die ihre Kandidaten auskungeln?
Und zu allem Überfluß, dann eine EU ohne volle demokratische Legitimation Gesetze und Vorschriften erläßt?
Es wird Zeit, daß auch wir wach werden!
@yarx
"Wer hätte gedacht, daß das in Israel möglich wäre. Ein Generalstreik ist geplant..."
In Israel gab es schon immer die meisten Arbeitskämpfe/Streiks in einem westlichen Land.
In kaum einem anderen Land des Westens spielen die Gewerkschaften eine gesellschaftlich ähnlich bedeutende Rolle, wie in Israel.
Wer die robuste und sich ihrer bürgerlichen Rechte sehr bewusste israelische Zivilgesellschaft kennt, der weiß, dass chouragiertes Bürgerengagement und soziales Bewusstsein dort weitaus stärker ausgeprägt sind, als z.B. hier in Deutschland, oder in den meisten anderen europäischen Ländern.
Die jetzige soziale Graswurzelbewegung erinnert in ihrem empathischen und sozialkritischen Engagement auch an die überwiegend links und syndikalistisch geprägte zionistische Gründergeneration Israels und an deren Kämpfe.
So sehen auch zur Zeit in den israelischen Medien die teils sehr euphorischen Kommentare von noch lebenden Pionieren des zionistischen Projekts aus, die sich angesichts der jetzigen sozialen Massenproteste sehr an ihre eigene einstige Jugend als linkszionistische Aktivisten/Aktivistinnen erinnert fühlen.
Auch wenn Yigal Rambam den nationalistischen Einfluss auf die aktuelle isr. Protestbewegung bestreitet, so fällt doch auf, dass die meisten auf den Demos geschwungenen Fahnen keine roten, sondern israelische Fahnen sind.
Der Zuspruch aus dem konservativen Lager weist ebenfalls darauf hin, dass es durchaus auch einen starke nationale Komponente des Protests gibt.
Böses Erwachen
Die Wirtschaft treibt die Politik vor sich her.
Die Demokratien werden hinsichtlich ihrer ursprünglich bestimmenden Rolle in Staat und Gesellschaft ausgehölt. Konzerne, die international vernetzt sind, überrollen die überwiegend national organisierten Staatengebilde.
Die Oligarchien in den Ländern sind stärker als je zuvor, die Ministerien überfüllt von Mitarbeitern, die aus der Wirtschaft kommen und für sie agieren.
Wenige bereichern sich auf Kosten der Armen und kommender Generationen, speisen diese ab mit arroganter Almosentoleranz. Gewinne werden privatisiert, Verluste sozialisiert.
Israel ist aufgewacht, Deutschland schläft noch in einem Schlafsack aus Soaps, Flachbildfernseher und Autobahn. Und ignoriert den auf das Land zurollenden Tsunami der Altersarmut.
Hungerlöhne, Zwei Klassen Medizin und Kinderarmut reichen nicht, um den Deutschen Michel aufzuwecken. Der Protessturm in Israel auch nicht.
Es wird ein sehr böses Erwachen geben.
"Deutschland schläft noch"
War das jemals anders ?
Desaster
Ich hoffe, daß das israelische Volk nun endlich die Geschicke mal in die eigenen Hände nimmt. Denn was ihre Regierung die letzten Jahrzehnte in Bezug auf eine Friedensregelung zustande gebracht hat ist einfach ein Desaster.
kleriner tip:
die proteste in israel haben so ziemlich garnichts mit irgendwelchen friedenslösungen zu tun, sondern mit unbezahlbaren mieten.
dass die israelischen wähler_innen zum thema konflikt lieber abwarten, bis eine ernsthaft verhandlungsbereite gegenseite auftaucht, haben sie mit der wahl sharons 2003 gezeigt.
sind wir auf dem Weg?
Überall das gleiche Bild: Menschen,die zu Hunderttausenden auf die Strasse gehen und soziale Gerechtigkeit fordern.
Die Menschen sind es leid,immer nur zuschauen zu müssen,wie einige wenige mit goldener Nase rumlaufen und der Großteil der Bevölkerung mit Brosamen abgespeist wird.
Diese ungleiche Behandlung der Menschen ist ein hochbrisanter Zündstoff,der irgendwann unkontrolliert zur Explosion kommt.
Das sollten auch die Regierungen langsam begriffen haben.
Diese Menschen als Aufrührer oder Kriminelle abzustempeln,wird auch nicht mehr lange möglich sein,denn wenn ganze Völker aufstehen,scheint im Staate etwas faul zu sein.
Dass das israelische Volk jetzt aufsteht und mehr soziale Gerechtigkeit fordert,zeigt,dass auch dort Regierung und Volk immer weiter auseinander driften.Vielleicht wird auf diesem Weg auch für die Palästinenser eine bessere Lebensgrundlage möglich.
Aufrührer oder Kriminelle
> > Diese Menschen als Aufrührer oder Kriminelle abzustempeln,wird auch nicht mehr lange möglich sein,denn wenn ganze Völker aufstehen,scheint im Staate etwas faul zu sein. > >
Wissen sie, dass deprimierende ist nicht von den Funktionsträgern des maroden Herrschaftssystems als Aufrührer oder Krimineller beleidigt und verfolgt zu werden.
Deprimierend ist, wenn derartiges von den Mitmenschen, dem "Volk" also, selbst kommt.
Die zynische Missgunst, die hönische Verachtung gegen die, die wenigstens VERSUCHEN, die herrschenden Zustände zu verändern, oder nur auf sie aufmerksam machen, ist bei großen Teilen der Bevölkerung zu finden.
Teils aus ideologischer Überzeugung durch jahrzentelange Propaganda, in der Masse m.E. jedoch aus blanker Ignoranz und Denkfaulheit bei Menschen, die Glauben, alles was so in der Welt geschieht, würde sie nichts angehen und sie nicht betreffen.
Das Geschimpfe wohlstandssaturierter Bürger bereits bei kleinen Aktionen zivilien Ungehorsam ist auch im ZEIT-Kommentariat gegenwärtig.
Wehe, es wurde ein Grundstück illegal betreten oder durch eine Blockade die "frühaufstehenden" Steuerbürger auf ihrem Arbeitsweg 10 Minuten aufgehalten...
Jede noch so kleine Revolution muss an der Mentalität des dt. Untertanentum scheitern.
Absurd zu glauben, man könne etwas neues erreichen, wenn man das alte partout nicht stören will.
Und so bleibt dann die "Revolution" an der Wahlurne:
2013, Grün-Rot.
Ja, da wirds dem System aber gegeben!
So wie 1998...2005...2009