Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan aufgefordert, nach seinem knappen Sieg beim Verfassungsreferendum auf seine politischen Gegner zuzugehen. Angesichts der tiefen Spaltung der türkischen Gesellschaft erwarte die Bundesregierung, dass die türkische Regierung "einen respektvollen Dialog mit allen politischen und gesellschaftlichen Kräften des Landes sucht", hieß es am Montag in einer gemeinsamen Erklärung der Kanzlerinmit Bundesaußenminister Sigmar Gabriel (SPD).
Der knappe Ausgang des Volksentscheids über eine Umwandlung der Türkei von einer parlamentarischen Demokratie in ein Präsidialsystem bedeute "große Verantwortung für die türkische Staatsführung und für Präsident Erdoğan persönlich". Die Bundesregierung nehme das vorläufige Abstimmungsergebnis zur Kenntnis und respektiere das Recht der Türken, über ihre eigene Verfassungsordnung zu entscheiden.
Nach vorläufigen Angaben der türkischen Wahlkommission, deren Website am Morgen nach dem Volksentscheid die meiste Zeit nicht erreichbar war, hatten laut Agenturangaben am Sonntag 51,3 Prozent für die Verfassungsänderung gestimmt, die Erdoğan einen deutlichen Machtzuwachs bescheren soll. Die Gegner erreichten demnach 48,7 Prozent. Erdoğan erklärte sich zum Sieger des Referendums. Die Opposition zog die Rechtmäßigkeit der Abstimmung in Zweifel und kündigte an, das Ergebnis anzufechten.
Außenminister Gabriel sagte der Bild-Zeitung, dass er trotz des Referendums einen EU-Beitritt der Türkei weiter nicht ausschließe. "Die Türkei hat es in der Hand", sagte der SPD-Politiker. "Entscheidungen stehen doch für längere Zeit noch gar nicht an, jetzt ginge ein Beitritt ohnehin nicht." Die Türkei sollte sich aber nicht noch weiter von Europa entfernen, "schon in ihrem eigenen Interesse", sagte der Außenminister. Die Einführung der Todesstrafe etwa wäre "gleichbedeutend mit dem Ende des Traums von Europa".
Auch einen Austritt der Türkei aus der Nato befürwortet Gabriel ausdrücklich nicht. Die Türkei sei "selbst zur Zeit der Militärdiktatur Anfang der achtziger Jahre nicht aus der Nato ausgeschlossen" worden. "Und auch heute wollen wir die Türkei bei uns halten und nicht in die außenpolitische Isolation oder gar Richtung Russland drängen".
Die Bundesregierung (...) respektiert das Recht der Türken, über ihre eigene Verfassungsordnung zu entscheiden.
Mit Blick auf mögliche Unregelmäßigkeiten verwiesen Merkel
und Gabriel auf den Bericht der Wahlbeobachter der Organisation für
Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). "Die Bundesregierung misst dieser Bewertung
besondere Bedeutung bei", heißt es in der Erklärung.
Die internationale Wahlbeobachtermission zog eine kritische Bilanz. Die späte Änderung der Abstimmungsregeln habe wichtige "Schutzvorkehrungen" beseitigt, sagte Cezar Florin Preda von der Beobachtermission des Europarats und der OSZE. Er bezog sich auf eine Entscheidung der Hohen Wahlkommission am Sonntag, auch nicht offiziell zugelassene Wahlunterlagen als gültig zu werten.
Preda stellte aber klar, die Experten würden nicht von Betrug sprechen und hätten keine Informationen, um die Vorwürfe der Opposition zu bestätigen. Die Beobachtermission kritisierte allerdings, dass unter dem geltenden Ausnahmezustand wichtige Grundrechte eingeschränkt waren, die "essenziell für einen wahrhaft demokratischen Prozess sind".
Kommentare
"Grünen-Chef Özdemir fordert von Deutschtürken ein klares Bekenntnis zum Grundgesetz."
Die Deutschtürken haben gestern ein Statement zum Grundgesetz abgegeben.
Entfernt. Bitte verzichten Sie auf unangemessene Vergleiche, die lediglich der Provokation dienen. Danke, die Redaktion/idg
>> ... "einen respektvollen Dialog mit allen politischen und gesellschaftlichen Kräften des Landes sucht" ... <<
Wen meint die Kanzlerin? Etwa die Opposition, die sie bei ihren Türkeibesuchen quasi vollständig ignorierte?
Für Appelle ist es jetzt zu spät. Der Zug ist abgefahren. Und Merkel hat als Statistin auf Erdogans goldenen Stühlen Platz genommen und zugesehen.
Bin alles andere als Merkel-Fan, aber sie hat bei dem Deal mit dem Teufel eh nur verlieren, ja höchstens auf Zeit spielen können. Letzteres hat sie, kurzfristig handelnd wie immer, auch gemacht.
"Demnach votierten 63,1 Prozent der in Deutschland lebenden türkischen Wahlberechtigen mit "Ja"."
Beteiligt sich die Zeit jetzt auch an der Schürung des Misstrauens ggü. den hier lebenden Türken?
63.1 der Wahlteilnehmer und nicht der Wahlberechtigten haben für Erdogan gestimmt.
Ein kleiner inhaltlicher Fehler reicht für Sie schon aus, Zeit Online unter Rassismus-Verdacht zu stellen.
Das macht Ihren Standpunkt äußerst unglaubwürdig.
Welche konkreten Maßnahmen gedeckt die Bundesregierung zu unternehmen, um die sich abzeichnende Abhaltung eines türkischen Todesstrafen-Referendums hierzulande zu verhindern?
Wenn man - um mit Özdemir zu sprechen - "nicht nur mit den Zehenspitzen auf dem Boden des Grundgesetzes steht, sondern mit beiden Füßen" kann meines Erachtens ein solches Todesstrafen-Referendum unter keinen Umständen im unmittelbaren Geltungsbereich des GG stattfinden.
Nach europäischem Recht kann die Todesstrafe auch eingeführt werden. Zum Beispiel im Kriegsfall oder bei Aufständen. Auch in Deutschland.
Özdemirs Aussage ist auch, wie soll ich sagen, seltsam.
Das Grundgesetz regelt den Rahmen für den Staat. Der Bürger kann nicht gegen das Grundgesetz verstoßen. Der Staat erlässt Gesetze (und Urteile). Dagegen kann der Bürger verstoßen. Diese Gesetze können wiederum gegen das Grundgesetz verstoßen, nicht aber der Bürger.
Die Forderung von Özdemir ist eine Forderung, die gegen das Grundgesetz verstieße, machte der Staat sie verbindlich.
Das ist schon eine absurde Ironie. Als Deutscher mit türkischen Eltern fordert er von "seinen Landsleuten" als Politiker unter Berufung auf das Grundgesetz ein grundgesetzwidriges Gesinnungsdiktat. Da kann selbst Erdogan nur blass vor Neid werden.