Die größte türkische Oppositionspartei CHP hat die Wahlkommission aufgefordert, das Referendum vom Sonntag zu annullieren. Der CHP-Vizevorsitzende Bülent Tezcan begründete diese Forderung mit Unregelmäßigkeiten während des Ablaufs der Abstimmung. Es gebe nur einen Weg, die Diskussionen über die Legitimität des Referendums zu beenden und die Menschen zu beruhigen, sagte er am Montag, "und das ist die Annullierung der Abstimmung durch die oberste Wahlkommission".
Die Opposition kritisiert insbesondere die beispiellose Entscheidung der Wahlkommission, auch von ihr nicht gekennzeichnete Stimmzettel und Umschläge gelten zu lassen. Normalerweise werden diese von der Kommission gestempelt, um sicherzustellen, dass keine Zettel oder Umschläge verwendet werden, die nicht von ihr stammen. Die Entscheidung war überraschend während der laufenden Abstimmung am Sonntag getroffen worden.
Es sei den Behörden nicht möglich, festzustellen, wie viele Stimmzettel möglicherweise irregulär abgegeben worden seien, sagte Tezcan. Seine Partei will bei örtlichen Zweigstellen der Wahlkommission
Widerspruch gegen das Ergebnis einlegen und dann die oberste
Wahlkommission anrufen.
Neben der CHP hatte auch die prokurdische Oppositionspartei HDP Unregelmäßigkeiten während der Abstimmung beklagt, darunter vor allem die
Entscheidung, auch Stimmzettel ohne Amtssiegel gelten
zu lassen. Die Partei erklärte, sie werde den Fall möglicherweise vor den Europäischen Menschengerichtshof bringen, sollte die Wahlkommission ihre Entscheidung nicht rückgängig machen und die Stimmzettel ohne Siegel für ungültig erklären.
Der Leiter der türkischen Wahlkommission hat hingegen die Zweifel an der Legitimität des Abstimmungsergebnisses zurückgewiesen. Auch ohne Stempel der Wahlkommission habe es sich um gültige Stimmzettel gehandelt, sagte Kommissionschef Sadi Güven nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu. Die nun in der Diskussion stehenden Wahlunterlagen seien "echt" und "korrekt", von der Wahlkommission in Auftrag gegeben und angefertigt. "Die Stimmzettel sind nicht gefälscht, es gibt keinen Grund zu zweifeln", sagte Güven.
Die EU will nach dem Referendum zunächst die Berichte von internationalen Wahlbeobachtern abwarten. Dabei stünden auch die angeblichen Unregelmäßigkeiten im Fokus, teilten der EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, die Außenbeauftragte Federica Mogherini und der Erweiterungskommissar Johannes Hahn in einer gemeinsamen Erklärung mit. Die Verfassungsänderungen in der Türkei und ihre praktische Umsetzung würden unter den Maßgaben eines Beitrittslandes bewertet, hieß es darin weiter. Angesichts des knappen Ergebnisses rief die EU die Türkei auf, in der Bevölkerung den breitestmöglichen Konsens zu suchen.
Durch die Verfassungsänderungen in der Türkei soll der Präsident mehr Macht bekommen. Kritiker sehen deswegen Demokratie, Pressefreiheit und Menschenrechte in dem Land gefährdet.
Ausnahmezustand wird verlängert
Nach dem Referendum soll der seit Juli geltende Ausnahmezustand einem Medienbericht zufolge erneut verlängert werden. Der Sender CNN Türk meldete, noch am Montag sollten dafür zunächst der Sicherheitsrat und dann das Kabinett zusammenkommen, die beide unter dem Vorsitz Recep Tayyip Erdoğans tagen. Am Dienstag ist die nächste Sitzung des Parlaments geplant, das der Verlängerung zustimmen muss. Mit der Mehrheit von Erdoğans AKP im Parlament gilt eine Zustimmung als sicher.
Der Präsident hatte den Ausnahmezustand nach dem Putschversuch im vergangenen Jahr ausgerufen. Er wurde seitdem zwei Mal verlängert und würde in der Nacht zu Mittwoch auslaufen. Erdoğan hatte bereits vor dem Referendum gesagt, der Ausnahmezustand könne danach erneut verlängert werden. Die Opposition hatte Einschränkungen ihres Wahlkampfs vor dem Referendum wegen des Ausnahmezustands beklagt, der unter anderem die Versammlungsfreiheit einschränkt.
Kommentare
Gut, dass die staatliche und durch und durch unparteiische Wahlbehörde die Vorwürfe zurückgewiesen hat. Ich war schon ernsthaft beunruhigt. Aber jetzt ist ja alles gut.
Man könnte natürlich darüber nachdenken, ob medialer Propagandafeldzug, Unterdrückung des Gegen-Wahlkampfs, Inhaftierung führender Oppositionspolitiker und das Nicht-Abhalten der Wahl in Hochburgen der HDP nicht auch schon in die Nähe von Wahlfälschung rückt.
Aber nein, wird schon alles mit rechten Dingen abgelaufen sein.
Regeln sind dafür da eingehalten zu werden. Die Türkei könnte sich da ein Beispiel an Österreich nehmen, wo das Verfassungsgericht eine Wahl für ungültig erklärt hat weil bei der Einhaltung der Regeln geschlampt wurde - nicht weil es den Verdacht auf Wahlfälschung gegeben hätte.
Ja. Gerade bei Wahlen sollte man mit den Regeln sehr, sehr pingelig sein. Immerhin nutzt man in der Türkei offenbar keine Wahlcomputer, deren Manipulation zwar meist sehr schwierig erscheint, aber durch reine noch so intensive Wahlbeobachtung eben niemals ausgeschlossen werden kann. Ich verstehe nicht, wieso einige Länder Wahlcomputer dulden.
/ Wahlbehörde weist Vorwürfe der Opposition zurück /
ja was denn sonst. die behörde wird von erdogan kontrolliert. also war auch alles "in ordnung". und selbst wenn irgendwas nicht rechtens gewesen sein sollte, dann wird das so gedreht, dass die begründung passt.
wer zehntausende regierungsgegner wegsperrt, der dürfte bei bedarf auch keine hemmungen haben, wenns um wahlfälschungen geht.
ansonsten halte ich das ergebnis für plausibel. erdogan als "starker mann", der europa die stirn bietet: das dürfte viele gerade eher konservative türken überzeugt haben. dagegen fällt der verlust von ein paar "demokratischen features" für die weniger ins gewicht.
vielleicht sollten sich manche demokratievertreter damit anfreunden, dass nicht für alle kulturen die demokratie westlicher prägung als das nonplus-ultra gesehen wird. schon die gesellschaftlichen auswirkungen (totale individualisierung, kommerzialisierung, dekonstruktion von traditionellen werten) wirkt auf viele abschreckend.
Wie hätte das Ergebnis eigentlich ausgesehen, wenn die politischen Gefangenen wie Deniz Yücel abstimmen könnten? Oder die Soldaten, die in Deutschland Asyl beantragt haben? Hätte Erdogan womöglich sogar seinen hauchdünnen angeblichen Vorsprung verloren? Okay, man hätte dann natürlich einfach noch mehr Fake-Stimmen in die Urnen mischen können.
>> ... noch am Montag sollten dafür zunächst der Sicherheitsrat und dann das Kabinett zusammenkommen, die beide unter dem Vorsitz Recep Tayyip Erdoğans tagen. Am Dienstag ist die nächste Sitzung des Parlaments geplant, das der Verlängerung zustimmen muss. Mit der Mehrheit von Erdoğans AKP im Parlament gilt eine Zustimmung als sicher. <<
Der Ausnahmezustand wird ohnehin zum Normalzustand werden. Diese Rituale sind nur noch Demokratiesimulation.
Oder man hebt den Ausnahmezustand auf sobald die regulären Gesetze denen des Ausnahmezustandes gleichen oder sie übertreffen - dafür ist ein Präsidialsystem ein wichtiger Baustein. Oder: Hätte man Erdogan den permanenten Ausnahmezustand zugestanden, so hätte er nicht die türkische Republik beenden müssen. Es ist also gar nicht seine Schuld*.
* Ob ich jetzt wieder in die Türkei reisen darf ...