Als sein Antrag endgültig stirbt, als seine Partei sich entscheidet, doch nicht über das Internet Politik machen zu wollen, sitzt Niels Lohmann im Zug irgendwo bei Jena. Drei Tage hat der 32-Jährige Informatiker beim Parteitag im oberpfälzischen Neumarkt verbracht, dafür geworben, dass die Piraten endlich Ernst machen damit, online über ihre Inhalte zu entscheiden. Er wollte wie viele andere die sogenannte ständige Mitgliederversammlung (SMV) einführen. Doch keiner der Anträge dazu hat die nötige Zweidrittelmehrheit bekommen. Am Ende, während Lohmann schon auf der weiten Heimfahrt nach Rostock ist, weil er morgen wieder an der Uni arbeiten muss, scheiterte sein Vorschlag an nur 23 fehlenden Stimmen. "Das ist ein herber Schlag", sagt er.
Das ist es tatsächlich. Die Piraten gelten nicht nur als die Online-Partei, sie sind auch die sichtbarste politische Vertretung der digitalen Revolution. Viele erhoffen sich von der Partei Antworten darauf, wie sich die Möglichkeiten des Internets für bessere Politik, für mehr Beteiligung nutzen lassen. Das ist ihre vielleicht wichtigste Aufgabe.
Wie aber nun die Debatte zu dieser so existenziellen Frage lief, welche absurden Volten sie schlug und was sie letztlich ergab, zeigt eindrücklich, wie die Kultur der Piraten ihr eigenes Fortkommen behindert.
Monatelang haben Lohmann und seine Mitstreiter auf den Showdown in Neumarkt hingearbeitet. Sie haben an Anträgen geschrieben, Stimmung für ihr Vorhaben gemacht. In Mecklenburg-Vorpommern hat sein Landesverband schon vor Monaten eine SMV eingeführt, es funktioniert. Er lud deshalb vor zwei Monaten nach Rostock zu einer Konferenz ein, dort feilten sie noch einmal ein Wochenende an ihrer Strategie. Lohmann bastelte und druckte noch einen Flyer für den Parteitag, der die verschiedenen Modelle vorstellte, mit kleinen Piktogrammen und in knalligem Pink.
Am Freitagabend wollten sie dann entscheiden. Lohmann stand zum ersten Mal stundenlang vorne an der Bühne, wartete darauf, seinen Antrag vorstellen zu können. Er trug ein T-Shirt, auf die er die Nummern seiner Lieblings-SMV-Vorschläge gedruckt hatte. Aber Lohmann kam nicht dran. Die Debatte wurde so heftig, dass die Piraten bis halb zwölf nachts stritten und am Ende gerade einmal zwei von zwölf Anträgen behandeln konnten. Beide wurden abgelehnt. Sechs Piraten kippten einfach um an diesem Abend, ob vor Erschöpfung, Stress, Alkoholeinfluss – man weiß es nicht.
Das Problem der Piraten ist nicht, dass sie prinzipiell keine politischen Entscheidungen online treffen wollen. Sie können sich nur nicht zu dem "Wie" durchringen. Und sie wagen auch nicht den Sprung ins kalte Wasser und experimentieren erst einmal ohne konkreten Umsetzungsplan mit den Modellen.
Ein Experiment wäre es in jedem Fall gewesen. Denn ein zentrales Dilemma ist bislang ungelöst: Abstimmungen im Internet funktionieren nicht anonym, weil sie sonst leicht manipulierbar wären. Sie sollen aber zugleich geheim bleiben. Das ist besonders den vielen Datenschützern bei den Piraten wichtig. Außerdem wehren sich viele Mitglieder gegen eines der Kernprinzipien der sogenannten "liquiden Demokratie", um die es bei der SMV geht: Delegationen. Eigentlich sollen die Parteimitglieder ihre Stimme zu einzelnen Themenbereichen an andere weitergeben können, die sich damit besser auskennen. Das Gegenargument: Am Ende könnten einige mächtige "Superdelegierte" allein über die inhaltliche Linie entscheiden.
Diese Kritikpunkte sind alt, die Fronten seit Langem geklärt. Es ist eigentlich Zeit für eine Entscheidung.
Kommentare
Ehrlich sein...
"Das Problem der Piraten ist nicht, dass sie prinzipiell keine politischen Entscheidungen online treffen wollen. Sie können sich nur nicht zu dem "Wie" durchringen."
Die Partei eckt nirgendwo mehr wirklich an, Netzpolitik interessiert wenige und als Protestpartei lohnen die Piraten sich nicht mehr weil sie in den Landtagen als verlängerte Werkbank von Rot-Grün fungieren.
In NRW trinkt der Vorsitzende zum Mittag Rot-Wein, was der Tagsüber macht weiss niemand so genau.
Die Partei taugt nicht zum Protest, mit dem Themen und 26 Jährigen Studenten an der Spitze kann man in der Mensa werben aber nicht in der Kantine von BMW & Co.
Interessant...
"In NRW trinkt der Vorsitzende zum Mittag Rot-Wein, was der Tagsüber macht weiss niemand so genau."
Könnten Sie dafür mal einen Beleg posten, ich finde nichts darüber im Netz? Danke schön.
zu ängstlich für Online-Politik?
Das ist nicht das Problem.
Die Piraten sind nicht in der Lage, Verantwortung zu übernehmen. Aus dem Grund entziehen sie sich bei versehentlichem Erfolg dieser Verantwortung durch burn-out-bedingten regelmäßigen Personalwechsel.
Das kann es nicht sein. Die Piraten sind nicht entscheidungs- und damit nicht führungsfähig. Sie sind nicht politikfähig.
Kleines Gedankenexperiment: der Piratenaussenminister ist in China auf Staatsbesuch und ist an die Twittermeinung der Basis für den nächsten Gesprächstermin oder die Pressekonfenrenz gebunden.
Ganz ehrlich: Bei aller Kritik, dann doch lieber Guido Westerwelle.
Wer merkt es als erster? SMV wurde beschlossen
Liebe Presse,
selbst ich, der ich nicht an diesem Bundesparteitag teilgenommen habe, merkte, dass die Anträge SÄA003 und X011 in Neumarkt beschlossen wurden.
Hier die Texte:
https://wiki.piratenparte...
https://wiki.piratenparte...
Ist das der gute "Qualitätsjournalismus", für den wir ein Leistungsschutzrecht brauchen?
Falsch bemerkt, lieber @Hanseklinger
Bevor Sie sich über den "Qualitätsjournalismus" von Lenz Jacobsen ereifert haben, hätten Sie sich erst mal die von Ihnen verlinkten Seiten der
ANTRÄGE, die "für die Durchführung von Basisentscheiden notwendig" sind,
genauer ansehen sollen !
https://wiki.piratenparte...
https://wiki.piratenparte...
Und was steht jeweils obendrüber?
"Dieser Text ist (noch) keine offizielle Aussage der Piratenpartei Deutschland, sondern ein an den Bundesparteitag eingereichter Antrag."
- und zwar Tage und Wochen vorher!
Fakt ist also:
Nach dem großen Shit-Storm haben die Freibeuter ihr Flaggschiff namens "Liquid Democracy" ins Meer der Schwarmintelligenz versenkt.
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Warum Chefpirat Schlömer damit "sehr zufrieden" ist, kann ich mir schon denken:
Der hat nämlich noch eine kleine Vollzeit-Nebenbeschäftigung als Regierungsdirektor in der Berliner Julius-Leber-Kaserne des Bundesverteidigungsministeriums, die für ihn absolut Vorrang haben muss:
Sein oberster Dienstherr hatte ihn (wohl wegen seines politischen "Privatvergnügens") deshalb nicht für den Parteitag beurlaubt.
Jedenfalls ist der Mann ehrlich, wenn auch nicht sympathisch ...
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Ich finde übrigens diese anschauliche ZEITOnline Reportage journalistisch sehr gelungen!
Rotwein am Mittag?!
Dachten wir's uns, die Piraten sind nicht regierungsfähig. Zum Mittagessen lässt man sich in aller Regel Weißwein servieren!