Es wird langsam unangenehm, über Putin und die Ukraine zu diskutieren. Je näher die Krise heranrückt, desto polarisierender wird der Ton in den neuen deutschen Debattenlagern.
Bernd Ulrich hat vor einigen Tagen aufgeschrieben, auf welchen Gefühlen der Kriegstreiber-Vorwurf beruht, dem zurzeit jeder ausgesetzt ist, der sich für eine scharfe Reaktion des Westens gegen Putin ausspricht. Auch die Kommentare unter Ulrichs Text zeigen, wie wohl die meisten Bürger diese Schärfe einstufen: als reine Propaganda.
Die Mehrheit der Deutschen mag nicht mehr an eine moralische Überlegenheit des Westens glauben, viele stellen auch Augenscheinlichkeiten wie den Expansionsdrang Putins grundsätzlich infrage. Dahinter verbirgt sich manchmal nicht mehr nur gesundes Misstrauen, sondern die Attitüde des einzig wahrhaft Aufgeklärten. Man kann auf AfD-Parteitagen beobachten, wie besoffen dieses Gefühl machen kann.
Doch was Ulrich nicht erwähnt: Auf der anderen Seite sieht es nicht viel besser aus. Das Wort Putinversteher ist als Negativbegriff in den Medien schon etabliert – eine diskursfeindliche Vereinfachung, die jeden diffamiert, der nicht ohne Weiteres die Geschichte von Putins Masterplan kaufen mag. Der rhetorische Kollateralschaden ist, dass der sinnvolle Versuch, Russlands Motive zu erkennen, gleich als Ganzes mitblamiert wird.
Darf man noch fragen, ob tatsächlich Ostukrainer an den Protesten von Donezk oder Luhansk beteiligt sind, wie es die Russen behaupten? Oder unterstützt man damit schon Putins Expansionspläne?
Bist Du für Putin?
Schärfe gegen Russland und Verständnis für Russland – beides wird inzwischen pathologisiert, einer Schublade der verborgenen, sinistren Interessen zugeordnet. Es ist kaum noch möglich, eine Ansicht zur Ukraine zu artikulieren, ohne sich im Lager der Kriegstreiber oder der Putinversteher wiederzufinden. Und auch die dümmste Frage ist längst aufgekommen: Bist Du für den Westen oder für Putin? Der Tod jeder Diskussion.
Es gibt einen unersetzlichen und strategisch entscheidenden Rohstoff, über den der Westen verfügt und Russland nicht: Die Kraft der freien Debatte. Auch, wenn viele Bürger das nicht glauben mögen: Die einzige Meinung, für die man hier im Knast landet, ist die Leugnung des Holocaust. Alles andere findet sich in irgendwelchen Blogs, wird irgendwo publiziert und durchstritten.
Eine solche Öffentlichkeit kann sich nur selbst abschaffen – durch Denkverbote, durch polarisierende Zuordnungen, die jede Debatte verunmöglichen. Wie das geht, konnte man an der US-Presse vor dem Einmarsch in den Irak 2003 beobachten. Heute ist Ungarn auf dem besten Wege, sich selbstständig in einen Meinungskorridor zu zwängen. Orbáns Gesetze hätten aber nie funktioniert ohne ein gesellschaftliches Klima des Misstrauens und der Unterstellungen gegen Banker, Politiker, Industrielle, Journalisten.
In der Ukraine-Krise erstickt die Hysterie schon jetzt den Austausch von Argumenten. Was, wenn russische Truppen tatsächlich in die Ostukraine einmarschieren? Was, wenn die ukrainische Regierung die Nerven verliert und einen Krieg auslöst? Es wäre eine Katastrophe für Zehntausende, ein Desaster für das Verhältnis Europas und Russlands. Und es wäre eine Reifeprüfung für die deutsche Öffentlichkeit. Man muss hoffen, dass uns das erspart bleibt.
Kommentare
Was ist aus den Satellitenbildern geworden?
Ich hoffe, dass die Obama Versteher wenigstens noch Vertrauen zu CNN habe.
Waren die Satellitenbildern eine Lüge?
http://edition.cnn.com/vi...
Unsere Medien machen sich ja noch nicht mal die Mühe, einen Reporter loszuschicken, um die Tatsachen zu erkunden.
Über Vorwürfe berichtet, Behauptungen aufgestellt und dann 'Meinungen' über diese Behauptungen veröffentlicht ist ja auch viel weniger Arbeit.
Oder hat man Angst vor den Tatsachen?
Die Satellitenbilder ...
... waren von einem privaten kommerziellen Anbieter. Alter unbestimmt, Manipulationen nicht nachvollziehbar.
Privater Anbieter - und das von einem Gebiet, auf das wohl derzeit -zig Militärsatelliten ausgerichtet sind. Saddam Hussein hatte ja auch weapons of mass destruction - oder vielleicht doch nicht?!
Was treibt RUS? - ein Erklärungsversuch
Es handelt sich - wie Steinmeier treffend gesagt hat - um die ernsteste politische Krise, die Europa seit dem Ende der SU vor einem Vierteljahrhundert erfährt.
RUS und die USA - die größten Atommächte - sind mehr oder weniger (RUS sogar unmittelbar) -involviert.
Der Schauplatz: (Ost-) Europa.
Wie lassen sich die Ereignisse einordnen? Gibt es plausible Erklärungen?
Darauf versuche ich - auf Basis der mir vorliegenden Informationen - zu antworten. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Ich bin jederzeit offen für bessere Erklärungen.
Die "PHANTOMSCHMERZTHEORIE" (so würde ich es nennen) erscheint mir als der Schlüssel zum Verständnis des aktuellen Konflikts:
Russlands Supermacht-Status wurde 1989 zerstört.
Der Westen hat die damit verbundenen "volkspsychologischen" Verwerfungen in RUS völlig unterschätzt.
_Symptomatisch_ ist das konträre Bild, das sich der Westen und Russland von Gorbatschow zimmerten - hier ein Held, dort der Totengräber des "großen" Russlands.
Wir erleben nun den Ausbruch, das An-die-Oberfläche-kommen eines seit 25 Jahren unterirdisch schwelenden Ressentiments in RUS.
Die begeisterte Aufnahme der Krim in den "Schoß" Russlands, dieses übertriebene "Schutzmacht"-Gerede seitens des Kremls, das weitere Drohen gegen die Ukraine... Alles fügt sich hier ins Bild.
Wie soll der Westen auf diese Herausforderung reagieren?
"Wie soll der Westen auf diese Herausforderung reagieren?"
Sensibel......
Nein, im Ernst:
Er hätte sich - und nicht erst heute - die Gedanken machen sollen/müssen, die Sie - in Kurzfassung - hier anstellen.
Es konnte nicht gut gehen, dass man Russland nach dem Zusammenbruch der UdSSR - zumindest aus deren Sicht - demütigt und degradiert. Man hätte versuchen müssen, es "mit ins Boot" zu holen, statt eine "expansive " NATO-Ausbreitungspolitik zu treiben und Russland bei jeder sich bietenden Gelegenheit spüren zu lassen, dass ja "wir" als "Sieger aus der Geschichte" hervorgegangen sind.
Man ja sein, dass - ich sage es jetzt mal ganz einfach - das alles "nicht so gemeint" war.
Dann allerdings war es bestenfalls blauäugig und kurzsichtig.
Herrje, es kann doch in den letzten 25 Jahren nicht nur Karriere-Politiker gegeben haben; weshalb hat man nicht einfach einmal auf die "einsamen Warner in der Wüste" gehört.
Zumindest Deutschland hättebesser wissen müssen was passieren kann, wenn ein Land - ich sage es noch einmal: zumindest aus seiner Sicht - "gedemütigt" wird.
Schön - aber was, wenn Putin jetzt doch übergeschnappt ist?
In Verbindung mit eine klaren, analytischen Verstand und eiskaltem Durchziehen von spieltheoretischen Mustern ist das eine ziemlich brisante Mischung.
Es ist doch eigentlich egal, ob das böse ist oder böse gemeint ist - es ist ziemlich effektiv, was er da macht. Und die Frage ist, ob uns das Ergebnis gefällt, das dabei rauskommen kann - Motive hin, Motive her.
Wenn jemand übergeschnappt ist, dann ist das der Westen!
Die NATO hat mir ihrer Ausdehnung bis an die russische Grenze (Baltikum) Russland schlicht und einfach beschissen. Und versucht das Ganze jetzt auch noch fortzuführen.
»Die Kraft der freien Debatte«?
Das war aber nicht so gedacht, dass dabei der gesunde Menschenverstand in den Foren gegen die Propaganda der Medien diskutiert.
Eigentlich sollte es in den Medien eine Meinungsvielfalt geben.
Dort und nicht in den Foren muss eine Debatte stattfinden, wenn wir noch in einer lebendigen Demokratie leben.
Was in den Foren gerade geschieht, ist ein verzweifelter Überlebenskampf der Meinungsvielfalt.
70 positiv bewertete Kommentare
Wenn dann auch noch 70 positiv bewertete Kommentare
wie letzte Woche beobachtet,einfach gestichen werden,
dann lässt das tief blicken.