Die Türkei ist auf dem Weg zum failed state, zum gescheiterten Staat. Diese Entwicklung war schon vor zwei Jahren absehbar, in den vergangenen Monaten hat sie sich beschleunigt, und in diesen Tagen erreicht sie eine neue Stufe.
Im "Index der failed states" der US-amerikanischen Denkfabrik Fund for Peace ist sie von Platz 90 (2015) weiter auf Platz 79 (2016) in die Kategorie "erhöhte Warnung" abgerutscht. Das Land befindet sich damit schon jetzt nur noch drei bis vier Kategorien vor den bereits gescheiterten Staaten wie Syrien und Irak entfernt, und es dürfte bald noch weiter abrutschen. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch die renommierte Zeitschrift Foreign Policy (2017), die aktuell die Türkei – nach der Konfliktregion Syrien/Irak – zur weltweit zweitgefährdetsten Konfliktzone zählt.
Eine Einschätzung, die nur allzu verständlich ist, wenn man auf die Ereignisse des vergangenen Jahres schaut: der gescheiterte Militärputsch vom 15. Juli, der danach verhängte und andauernde Ausnahmezustand, gefolgt von Verhaftungen von Oppositionellen, Journalisten und Intellektuellen, die Massensuspendierungen von Beamten, der Mord am russischen Botschafter durch einen türkischen Polizisten und die ständigen Terroranschläge, bei denen seit der Wahl vom 7. Juni 2015 etwa 600 Menschen starben. Der einbrechende Tourismus, die angeschlagene Wirtschaft. So dramatisch das letzte Jahr für die Türken zu Ende ging, so tragisch begann für sie das neue Jahr 2017 mit dem Massaker im angesehenen Istanbuler Nachtclub Reina in der Silvesternacht.
Vom verfallenden zum zerfallenen Staat
Ein failed state ist dadurch definiert, dass er seine wesentliche Funktion, den eigenen Bürgern Sicherheit, Wohlstand und Rechtsstaatlichkeit zu ermöglichen, nicht mehr erfüllen kann. So weit ist es in der Türkei zwar noch nicht, aber es hat die Vorstufe dazu erreicht. Das Land ist noch kein failed state, aber es ist ein failing state. Kein bereits zerfallener, aber ein gerade verfallender Staat.
Begonnen hat der Verfall damit, dass das Regime des jetzigen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan die staatlichen Institutionen untergrub und für den eigenen Machterhalt instrumentalisierte. Dieser Prozess beschleunigt sich nun mit der im Parlament beschlossenen Verfassungsänderung, die einer Selbstentmachtung gleichkommt.
Alle Staatsgewalt geht vom Präsidenten aus
Es droht die Abkehr von der 140-jährigen türkischen Tradition der parlamentarischen Demokratie. Erdoğan will ein auf ihn zugeschnittenes, autokratisches Herrschaftssystem etablieren. Aus einer ehemals defekten Demokratie soll somit eine perfekte Autokratie werden. De facto ist Erdoğan schon jetzt Alleinherrscher. Als entfesselter Staatspräsident setzt er sich über die geforderte Neutralitätspflicht der Verfassung hinweg und verhält sich mit seiner parteiischen Politik für und durch die AKP permanent rechtswidrig.
Die neue Verfassung sieht nun kaum noch eine Gewaltenteilung im Staat vor. Dem Präsidenten werden weiterhin Gegengewichte wie ein starkes Parlament und eine unabhängige Justiz fehlen. Dafür werden seine Machtbefugnisse und Kompetenzen ausgebaut. Er soll unter anderem Gesetze erlassen, seine in der Verfassung weiterhin verbriefte unabhängige Rolle als Staatspräsident ausüben, zwölf der 15 Richter des Verfassungsgerichts und sechs Mitglieder des 13-köpfigen Hohen Rats der Richter und Staatsanwälte (HSYK) ernennen und sogar das Parlament in Krisensituationen auflösen können. Durch diesen Verfassungsentwurf würde die Exekutive, also der Staatspräsident, die Judikative und Legislative vollständig kontrollieren. Man stelle sich nur ein Fußballspiel vor, in dem der Trainer gleichzeitig Spieler und Schiedsrichter zugleich ist. Hier gilt der bis heute gültige Satz des britischen Gelehrten Lord Acton: "Macht korrumpiert und absolute Macht korrumpiert absolut."
Der ab 2019 gewählte Staatspräsident könnte bis zu 15 Jahre durchregieren, sofern das Parlament in seiner zweiten Amtszeit eine Neuwahl beschließt und er erneut wiedergewählt wird. Sollte Erdoğan das gelingen, könnte er insgesamt 31 Jahre, von 2003 bis ins Jahr 2034, an der Macht sein.
Kommentare
Entschuldigung, ... Vorbild Syrien?
Erdogan hat selbst gesagt, dass sein Vorbild Hitler ist und das präsidiale System unter Hitler sein Vorbild für die Türkei ist.
http://www.telegraph.co.u...
http://www.spiegel.de/pol...
Die Unterschiede sind ja in Diktaturen eher minimal, entscheidend ist, wie die Machterhaltung des Großen Führers strukturell abgesichert wird, d.h.check and balance zum Nutzen des Diktators ausgehebelt wird.
Vorbild Syrien?
Syriens politische Struktur mit dem Führungsanspruch der Baath-Partei,den klaren Vorgaben, wer überhaupt Präsident werden darf und pseudodemokratischen Strukturen ist aus der Zeit der panarabischen, eher sozialitisch orientierten Idee und ziemlich genau von den damaligen Ostblockstaaten abgekupfert.
Ich denke eher, Diktatoren bedienen sich überall ähnlicher Machtstrukturen, auch Nordkorea könnte man da als Vorbild heranziehen
"Ich denke eher, Diktatoren bedienen sich überall ähnlicher Machtstrukturen..."
Das wäre möglich. Ich denke, die ähnliche Machtstruktur nennt sich Diktatur.
Der Artikel ist mit all seiner politischen Analyse bemerkenswert unpolitisch. Der Krieg begann 2003 im Irak, griff 2011 auf Syrien über und kam 2016 mit dem Putschversuch in der Türkei an.
Der Artikel bedient sich verschiedenster Verschweigungen, um seinen Artikel mit den Welt-Erklärmodellen unserer Medien kompatibel zu machen.
Denn die Idee, mit den Islamisten zu paktieren stammt nicht von Erdogan, sondern wurde bereits 2003 von den Amerikanern im Irak angewandt, um sämtliche staatliche Ordnung zu zerstören. Dafür wurden alle Sunniten aus Verwaltung und Militär auf die Straße gesetzt und der schiitischen Mehrheitswillkür. Damals formierte sich al Kaida im Irak, das dann zu al Kaida in der Levante wurde und dann zum Islamischen Staat.
Die Türkei und Amerika kooperierten und unterstützen al Kaida in Syrien bewusst, um die dortige Regierung unter Druck zu setzen, abzudanken. Das ist bis heute nicht passiert und zwischenzeitlich hat Erdogan - spätestens nach dem Putsch - gemerkt, dass er aufs falsche Pferd gesetzt hat, indem er den NATO-Destabilisieren zu Willen war.
...
Man kriegt hier noch voll nen Drehwurm vom Hochgeschwindigkeits-Hin- und herschauen. Ekelfasziniert habe ich gerade noch nach Trumpistan geschaut, da muss ich schon wieder zurückhüpfen nach Erdoganistan. Von da hurtig ein Hüpf' nach Orbanistan, hüpf' Kaczynkistan - hüpf wieder Trumpistan, hüpf ins versammelte EU-Populististan - und wieder eiliges Hüpf nach Trumpistan. Oh Gott, schon wieder Hüpf nach Erdoganistan mit Zwischenstopp in Putinstan. Ich muss mal kurz in Kanada Halt machen und verschnaufen. Was sind hier eigentlich so die Voraussetzungen für permanent residence...?
:-)), sehr schön....
Welches Syrien ?
Türkei ist dabei, auch mit deutscher und Natohilfe, Klarheiten zu schaffen.
http://www.spiegel.de/pol...
Der Spiegel ist schon witzig. So um 2012 bis 2013 hat der bezüglich Syrien noch recht informativ berichtet. Und heute?
"Die Terrormiliz ist eine islamistisch-salafistische Gruppierung, die neben der Freien Syrischen Armee zur den wichtigsten bewaffneten Widerstandsgruppen gegen das Regime von Syriens Präsident Baschar al-Assad zählt."
Die Terrormiliz Ahrar al-Sham ist neben Al Nusra die stärkste Kampftruppe. Die FSA Splittergruppen werfen sich denen regelmäßig zu Füßen.
Erstgenannte haben HQ in Idlib und hatten solche in Ost Aleppo. Letzteres ist ja eigentlich "gefallen", da wurde auf die Tränendrüsen gedrückt.
Heute kommt man wieder mit solchen Binsenweisheiten um die Ecke, dass die türkisch- saudischen Proxyterroristen von Ahrar-al-Sham eine "Terrormiliz" wären. Gestern noch Rebell und Opposition in Ost-Aleppo, heute schon Terrorist.