"Samma, Chef", fragt mich der Ordner vor Block 12, "haste dich verlaufen?" So oder so ähnlich höre ich diese Frage ein paar Dutzend Mal an diesem Tag. Und bin erleichtert. Es scheinen eher die Farben meines Trikots zu sein, die irritieren als der Name hintendrauf. Zwischen 60.000 Fans in Königsblau und ein paar Hundert Wolfsburgern in Grün-Weiß trage ich heute Rot-Weiß: VfB Stuttgart, Nummer 11, Hitzlsperger.
Es ist ein Experiment. Zuvor habe ich lange darüber nachgedacht, wie die Fans wohl reagieren würden auf das Trikot des ersten deutschen Profifußballers, der sich geoutet hat. Hier im Pott, wo man doch angeblich rustikaler, ach was, prolliger ist als anderswo und das Herz auf der Zunge trägt.
Die
Fans werden ja oft als Grund vorgeschoben, warum sich noch kein aktiver
Fußballer geoutet hat. Die Fankurve, das Monstrum, was würde es machen, mit mir
und meinem Trikot? Gäbe es homophobe Sprüche an der Biertheke? Obszöne Gesten
am Bratwurststand? Oder doch spontanen Applaus für meine Solidarität mit Hitzlsperger,
weil Solidarität hier zählt, seit den Zeiten der Zechen?
"Jeden dat Seine!"
Der
erste Eindruck vor dem Stadion: Mein Trikot interessiert keine Sau. Wenn ich höre: "Du bist hier falsch", hat das nichts mit
Hitzlspergers sexueller Orientierung zu tun. Es ist
nur als Feststellung gemeint. Stuttgart spielt hier eben gerade nicht.
Selbst wenn ich aktiv auf den Schriftzug deute, ernte ich meist Schulterzucken. "Schön für dich", heißt es irritiert, aber nicht unfreundlich, oder: "Is' doch okay." Ein Klischee-Schalker mit Kutte, Schnurrbart und mächtigem Bauch hebt die Handflächen und sagt in schönstem Ruhrgebietsdeutsch: "Jeden dat Seine!"
Ich
fühle mich unwohl, das schon. Aber nur wegen meiner eigenen Maskerade. Ich verleite
und provoziere dazu, Hitzlspergers Trikot mit Homosexualität gleichzusetzen.
Ich lasse alle denken, ich sei schwul. Ich ernte Reaktionen für eine
Solidarität, die ich normalerweise nicht demonstriere.
Zum Kultgegenstand schwuler Fußballfans, so viel habe ich vorher herausgefunden, taugt ein Hitzlsperger-Trikot nicht. Es gibt keinen Run darauf, nicht mal einen kleinen. Der VfB Stuttgart hat keins im Angebot und auch keine Anfragen verzeichnet, der DFB hat seit dem Outing exakt ein Trikot mit "Hitzlsperger" beflockt. Aston Villa bietet nur die DVD mit den 1.000 ersten Premier-League-Toren des Vereins an, inklusive "Hitz' Wundertreffern aus 27 Metern".
Aufschlussreich
wäre noch gewesen, wie sich die Suchanfragen und die Preise für
Hitzlsperger-Trikots bei eBay entwickelt haben, immerhin habe ich 40 Euro für das Hemd bezahlt. Aber das Unternehmen teilt auf
Anfrage mit, man finde es "nicht angemessen", sich zu diesem Thema zu
äußern.
"Aaaaach, 'ne Schwuchtel!"
Im Stadion begegne ich auch den ignoranten, mehr oder wenig offen Homophoben. "Ich versteeeh‘ schon", bekomme ich einmal pseudoschwul genäselt zu hören, begleitet von einem dramatischen Abknicken des Handgelenks. "Aaaaach, 'ne Schwuchtel!" ruft ein alter Mann triumphierend. Gegenfrage: Wäre das so schlimm? "Nö, solange du mir nicht an die Wäsche gehst." Ich könne mich gerade noch beherrschen, sage ich und gehe weiter. Wenn das die Speerspitze der Homophobie sein soll, ist mir nicht bange.
Und
dann kommen sie, die Pranken, die einschlagen – in meine Hand. Männer jeden Alters kommen auf mich zu, heben Daumen, tippen an ihre
Käppis, klopfen mir auf die Schulter. "Find' ich super!", "Respekt", "Guter
Typ". Hitzlspergers Outing sei längst überfällig gewesen, ist man sich einig. "Ich mein, Hallo? Wir ham das Jahr 2014!" Und überhaupt: "Putin, die Drecksau,
wie der mit den Schwulen umspringt, is ja wohl dat Allerletzte" –
Schalkes Gazprom-Millionen hin oder her. Ich hatte Schlimmeres erwartet. Von 15 Leuten war mein Trikot zehn egal, vier gratulierten mir und einer pöbelte.
Nach Abpfiff des 2:1-Siegs gegen Wolfsburg treffe ich die Jungs von Andersrum auf Schalke, dem einzigen hiesigen schwul-lesbischen Fanclub. Die Trikotaktion fanden sie skurril, von den Reaktionen sind sie nicht überrascht.
Sie freuen sich über die Aufmerksamkeit nach Hitzlspergers Coming-out – das Vereinsmagazin Kreisel widmet ihnen vier Seiten der aktuellen Ausgabe. Andererseits hält sie unser Interview davon ab, ausführlich über das Spiel zu diskutieren. Sie sind ja wegen des Fußballs hier. Sie sind Fans, die zufällig schwul sind. Nicht Schwule, die auch ein bisschen Fans sind.
Kein Fall von körperlicher Gewalt bekannt
Ermutigt
durch Thomas Hitzlsperger hängt der Fanclub zum ersten Mal sein Banner auf,
mit Panzertape an die Betonbrüstung von Block 72 im Oberrang. Sieben Meter
lang ist es, anderthalb hoch, aus PVC-B1, schwer entflammbar. Und weiß, nicht
regenbogenbunt.
Schalke geht vor schwul
Auch Worte wie schwul, homosexuell oder Homophobie stehen nicht darauf. "Das interessiert auch keinen, da liest niemand weiter", sagt Martin, der seine Diplomarbeit über die Schalker Arena und deren Strahlkraft in der Region geschrieben hat und für den Verein Besucher durchs Stadion führt. Außerdem wolle man eine Positivbotschaft aussenden. "Wir leben den Mythos mit Vielfalt und Toleranz", steht darauf. Neben dem Spruch hocken zwei Vereinslogos auf fast pflichtschuldig wirkenden kleinen Regenbogenmustern. Schalke geht vor schwul.
Vor seinen Eltern hat sich Martin schon vor zehn Jahren geoutet, gegenüber den Arbeitskollegen auf Schalke erst vor zwei Wochen. Die erste Reaktion war eine SMS mit dem Wortlaut: "Du bist mein Kumpel. Für mich ändert sich nix."
Weder Martin noch die anderen können sich an Pöbeleien oder Schlimmeres erinnern. Auf
Nachfrage berichtet das Netzwerk Queer Football Fanclubs, dass kein Fall von körperlicher Gewalt gegen schwule oder lesbische Fans
bekannt ist. Das Schlimmste war eine Spuckattacke in Kaiserslautern
von anderen Lautern-Fans.
Es gibt größere Probleme
Bei aller Entspanntheit ist auch klar: Die Toleranz im Stadion ist relativ. Die Männer und Frauen von Andersrum auf Schalke treten defensiv auf und nehmen vielleicht nicht hin, aber doch zumindest in Kauf, dass ihre Freiheit eingeschränkt ist. "Ich könnte meinen Partner sicher nicht in jeder Ecke des Stadions einfach so küssen", sagt Ma, und Michael Voit ergänzt: "Es gibt ja auch keinen Grund, im Stadion wild rumzuknutschen." Einig sind sich alle darin, dass es im Fußball weit größere Probleme gebe als Homophobie. Fan- und Polizeigewalt zum Beispiel oder auch Rassismus.
Vielleicht ist es ja wirklich kein großes Thema. Egal, Hauptsache Schalke, "jeden dat Seine" und so weiter. Es wird sich zeigen: Die Grenzen werden sich verschieben. Martin hat Gefallen an der Idee gefunden, seinen Freund in der Nordkurve zu küssen. Vorher muss er aber noch ein echtes Hetero-Problem lösen: Seine bessere Hälfte kriegen nämlich keine zehn Pferde ins Stadion.
Kommentare
Diese Homophobie Geschichte langweilt langsam.
Sexualität sollte Privatsache sein.
Weder interessieren mich die sexuellen Aktivitäten meine Kollegen, Fußballfans noch meiner Nachbarn, gleichgültig ob hetero- oder homosexuell.
[..]
Gekürzt. Bitte äußern Sie sich sachlich und respektvoll. Die Redaktion/au
Ach ne....
"Protzen mit der sexuellen Orientierung"?
Das schreiben sie dann bestimmt auch in die Kommentarspalte, wenn mal wieder ausschweifend über die nächste (heterosexuelle) Hochzeit eines Fußballers (z.B. Lahm) oder die wechselnden, weiblichen Bekanntschaften (z.B. eines Özils) berichtet wird....oder doch nicht?
Zumal es in diesem Artikel gewiss nicht um "Sexualiät" geht, sondern vielmehr um eine zufällige, soziologische Beobachtung...
Den Fokus auf die Sexualität setzen alleine Sie. Selbst schuld.
Ausflug in die reale Welt
Mein Gott, was haben Sie denn erwartet? Dieser Beitrag lässt tief blicken, welche massiven Vorurteile es in de Redaktionsstuben gegenüber dem "kleinen Mann" gibt. Wie sonst ist dieses offensichtliche Erstaunen darüber zu erklären, dass man imroßen und ganzen normal behandelt wird?
Was mich auch am meisten irrtiert hat, und was wohl jedem Fußballfan so gehen dürfte: Warum zum Henker mit einem Stuttgart-Trikot zum Spiel Schalke-Volkswagen? Wohl überhaupt keine Ahnung von Fußball?
Jedenfalls herzlichen Glückwunsch dazu, dass durch diesen Wochenendausflug in die Realität offenbar einige Vorurteile - auf Seiten des Redakteurs! - beschädigt wurden.
Ja warum eigentlich gerade zu diesem Spiel?
Wenn er einen richtigen Versuch hätte machen wollen, dann hätte er zu einem Auswärtsspiel der Stuttgarter fahren sollen und dann die Reaktionen in der Gastgeberstadt einfangen sollen, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob sich da etwas verändert hat. Auf der anderen Seite ist der Artikel ja auch positiv, weil er genau das bestätigt, was viele Foristen seit dem coming out von Hitz sagen. Das Problem sind nicht die Kurven, sondern eher die Akzeptanz, oder möglicherweise fehlende Akzeptanz im Team.
Und auch hier sollte man endlich anfangen, klar zu differenzieren, zwischen Jugendfußballern, Profi- und Amateurfußball, Erwachsenenbereich, Frauenfußball, etc. Es gäbe eigentlich so viele mögliche Fragen an das Thema und als Redaktion, die sich offen dafür einsetzt, gegen Vorurteile, Phobien und Hass zu kämpfen, sollte man endlich anfangen, diese Fragen zu stellen. Wie fühlt sich wohl ein nichtgeouteter 16Jähriger homosexueller Fußballer in seinem Team, wenn der Trainer von "Schwuchtelpässen" spricht, das Team beim Abend HipHop hört, in denen häufig homophobe Texte gängig sind. Wie geht er damit um, wenn seine Teamkollegen ihn auf Frauengeschichten ansprechen etc. Man sollte vielleicht anfangen, etwas tiefer zu graben und nicht immer nur nach oberflächlichen Klischees zu suchen. Der Redakteur hätte ja mit dem Stuttgarttrikot mal zu einem Spiel des KSC gehen können.
watt?
Glückwunsch zum wohl sinnlosesten Investigativ-Report der laufenden Saison. Mit Stuttgart-Trikot zum Spiel Schalke-Wolfsburg. :D Da muss man erstmal drauf kommen.
Wirklich sinnlos
Wirklich einer der absolut schwaechsten Beitraege, die ich hier jemals gelesen habe.
Was soll eine solch stumpfe Provokation? Mit einem Stuttgart Trikot zu einem Spiel voellig anderer Mannschaften, nur um mit dem Namen Hitzlsperger Reaktionen zu provozieren. Einfach nur laecherlich.
Interessant
Solange ein Artikel zu diesem Thema so viele Kommentare und Klicks hervorruft, wird die Zeit auch weiter Artikel dazu bringen. Bedeutet schließlich mehr Anzeigeneinnahmen. Wen es stört: Einfach nicht mehr anklicken, dann gibt's irgendwann keine Artikel mehr dazu.
Ich finde die Idee, über die der Artikel berichtet, jedenfalls sehr interessant. Nur das mit dem falschen Stadion/Spiel für das Trikot ist natürlich seltsam.
Und ich glaube, bei Schwulen ist eine Angst vor körperlicher Gewalt heute oft irrational, außer in einigen Problemvierteln und in einsamen Gegenden. Trotzdem kann man natürlich immer "Pech" haben und ein gewaltbereiter Idiot, der vor nichts zurückschreckt, wird aufmerksam. Restrisiko eben.
Trotzdem gebe ich mich in der Öffentlichkeit nicht zu erkennen. Weniger aus Angst vor geäußerten negativen Reaktionen, sondern aus Angst vor dem, was die Menschen denken. Das mag auch irrational sein, ich weiß es nicht. Jedenfalls will ich nicht, dass mich ein größerer zweistelliger Anteil der Leute als "aha, schwul also!" abstempelt und mich in eine Schublade packt, aus der ich nicht mehr raus komme. Selbst wenn ich die Leute gar nicht kenne. So sieht es eben eher so aus, als ob ich mit meinem Bruder unterwegs bin, obwohl es tatsächlich mein Freund ist.
NIEMAND will, dass über ihn verächtlich gedacht wird. Sozialer Anpassungsdruck und so.
Genau
das meine ich, was ich extrem Schade finde. Es findet noch immer in der Gesellschaft ein Verstecken statt, weil es Blicke gibt. Weil die Menschen werten, häufig genug auch abwerten und die Frage ist, ob man das überwinden kann? Also sowoh aus individueller betroffener Sicht, wie auch als Gesellschaft und gesellschaftlich bin ich der Meinung, dass man einfach darüber reden sollte, um es als das Normale zu kennzeichnen, was es ist.
Ich hätte eine direkte Frage. Hätten Sie nicht das Gefühl, dass dann aber fremde Menschen über Ihr Verhalten bestimmen, wenn Sie auf den öffentlichen Austausch von Zärtlichkeiten verzichten, damit niemand sieht, dass Ihr Freund Ihr Freund ist? Und wie geht er damit um, oder herrscht dabei ein Konsens?