Rational betrachtet war das erste wirklich schwache Spiel dieser WM überfällig, statistisch betrachtet galt dasselbe für das erste Unentschieden. Und taktisch betrachtet war das 0:0 zwischen dem Iran und Nigeria nur die logische Konsequenz aus iranischem Wissen um die eigenen Grenzen und nigerianischer Angst vor einer Blamage gegen solche Gegner.
Aber Fußball rational, statistisch, taktisch zu betrachten ist unangemessen, ja unanständig.
Jeder, der selbst irgendeinen Sport treibt – ausgenommen vielleicht kalorienrechnend und Distanzen-bei-Facebook-postend zu joggen –, weiß das. Und deshalb hat die Partie mehr ausgelöst als den x-ten feixenden Verweis auf das WM-Logo, das aussieht wie ein gescheitelter Junge, der sich vor Fremdscham die Hand vors Gesicht schlägt. Deshalb hagelte es Buhrufe und Pfiffe von den 39.081 im Stadion, deshalb erhob sich ein Wutschnauben in den Wohnzimmern dieser Welt.
Dabei ging es am späten Montagabend um mehr als die Selbstgerechtigkeit verzogener Sesselpupser, die ein Anrecht auf Unterhaltung zu besitzen glauben und bei der kleinsten Entertainment-Flaute ihre unverhältnismäßige Empörung in die Welt twittern. Etwas fühlte sich anders an als bei den üblichen Aufständen der kleinkarierten Wutbürger-Trolle.
Es ging auch nicht darum, dass die schöne Theorie eines Leserkommentators namens Brandon Burke nie ihren Praxistest erleben durfte: "Wenn der Iran gewinnt, muss sich Boko Haram ergeben", hatte er deklariert. "Und wenn Nigeria gewinnt, muss der Iran sein Nuklearprogramm aufgeben." Bekanntlich kam es nicht dazu.
Stattdessen wurden beide Mannschaften für ihren arg uninspirierten Auftritt auch noch mit einem WM-Punkt belohnt – also mehr, als etwa die tapferen Engländer oder Ghanaer derzeit haben. Aber auch die Punkte waren nicht der Punkt. Es ging um mehr, es ging tiefer.
Denn Sport ist ja nicht nur Eskapismus. Es geht um Inspiration, um Emotion, um alles. Im Idealfall ist Sport erfüllender als Berufliches sowie kontrollierbarer und portionierbarer als Privates – und funktioniert dabei nach sehr viel einfacheren und faireren Regeln als beides.
Ein Stückweit ist Sport Substrat für Glaube, Liebe, Hoffnung. Fußball vorneweg, weltweit.
Diese Partie aber war mehr als ein enttäuschendes Date, mehr auch als ein schmerzhaft genüsslich ausgeteilter Korb. Sie war ein bester Freund, der einem die Frau ausspannt. Ein dumm-dreister, höhnischer Sabotageakt gegen alles, was uns heilig ist.
Zur Eigenverantwortung von Fans und anderen Liebenden gehört das Zügeln der eigenen Erwartungen, ohne dabei zum Zyniker zu werden. In diesem Fall hieß das in Erinnerung zu behalten, dass sowohl Iran als auch Nigeria nicht ohne Grund seit 16 Jahren auf einen WM-Sieg warten. Doch auch wer angesichts dessen vernünftigerweise nicht viel erwartet hatte, wurde von diesem Spiel enttäuscht.
Genau genommen gab es kein Spiel (weshalb dies auch kein Spielbericht ist). Zu sehen war nur Anti-Fußball, Verweigerung, das Gegenteil von allem.
Initiiert vom Iran natürlich, aber das ist entschuldbar, legitim sogar, weil alternativlos. Das Mauern ist die Waffe des kleinen Mannes, die Taktik gewordene Introvertiertheit angesichts all der größeren, stärkeren, schnelleren, lauteren Jungs drumherum. So war es und so wird es immer sein.
Breitere Schultern aber müssen mehr tragen, das ist nur fair. Doch Nigeria versuchte nicht wirklich, den iranischen Beton zu knacken. Keinerlei Entschlossenheit war zu sehen, geschweige denn Lust am Spiel, was doch das Mindeste sein müsste bei einer Weltmeisterschaft. Die "Super Eagles" schienen darauf zu warten, dass der Iran sich selbst schlägt. Sie selbst saßen das Spiel nur aus wie müde Schüler eine Nachhilfestunde – und übersahen dabei, dass die Rollen längst getauscht waren, dass sie an der Reihe gewesen wären zu lehren.
Im Ergebnis gab es Fußball zum Wegsehen: dumme Einzelaktionen, traurigen Slapstick, halbherzige Sprints, vertändelte Halbchancen sowie mehr Fehlpässe und weniger Interesse an Besserung als beim Sonntagmorgenspiel der lokalen Bauernliga nach dem Schützenfest.
Ein Gutes hat diese Anti-Werbung für den Fußballsport allerdings: Die Schönheit, Tragik, Unberechenbarkeit, Einzigartigkeit des Spiels in den anderen vergangenen und noch kommenden WM-Begegnungen wird vor dem Hintergrund des Mahnmals Iran gegen Nigeria noch heller strahlen. Noch eine ganze Zeit lang werden wir all das nicht als selbstverständlich wahrnehmen, sondern erkennen als die Magie, die zwischen 22 Spielern und einem Ball wieder und wieder entsteht.
Ausnahmen bestätigen die Regel.
Kommentare
Wir sind kein Team
Was mir bei diesem Spiel am meisten aufgefallen ist: die Ghanaer haben sich sehr häufig selbst die Bälle weggenommen, den besser positionierten Gegner übersehen und aussichtslose Einzelaktionen gestartet.
Da hat es der Trainer wohl leider nicht hinbekommen, den Teamgedanken in die Köpfe der Spieler einzupflanzen.
Man fragt sich aber auch, wie diese Mannschaft den Afrika-Cup gewinnen konnte, Teams wie Ghana, die Elfenbeinküste, Algerien oder Kamerun scheinen doch weit besser zu sein.
Korrektur...
In der ersten Zeile meine ich natürlich Nigerianer.
Da war ich wohl noch beim Nachtspiel, ähem ...
Trotz 0:0 ein richtig gutes Spiel.
Ja, so etwas gibt es. Es gibt solche Spiele, begeisterte Spannung, ein hin und her, Riesenchancen hüben wie drüben zuhauf, passsicheres Spiel, Genieblitze. Und nur keine Tore wegen 2 überragender Torleute.
Das Spiel gestern, Nigeria-Iran, gehört definitiv nicht zu dieser Sorte. Ganz im Gegenteil. Es war der bisher größte Langweiler, das bisher mit Abstand schlechteste Spiel der WM 2014.
Woran lag das? Natürlich an beiden Mannschaften. Aber dem krassen Außenseiter Iran darf man da nur bedingt eine Schuld geben, spielten sie doch auf dem Niveau, welches man ihnen im Vorfeld auch maximal zutraute. Nein, die Schuld liegt hauptsächlich an dem herzlosen, müden Auftritt der Nigerianer. Eine Leistung, die schon fast an Arbeitsverweigerung grenzte. Oder an Unvermögen.
Und wieder einmal trägt m.E. auch der Trainer eine gehörige Portion Mitschuld an dem desaströsen Auftritt der Nigerianer. Mir scheint, Stephen Keshi hat nichts dazugelernt und wiederholt die altbekannten Fehler. Er versammelte zahlreiche begnadete Fußballer um sich, die über die halbe Welt verstreut in guten und weniger guten Ligen spielen, verpasste es aber, aus ihnen eine Einheit, ein echtes Team zu formen. Ob das nun daran liegt, dass er nicht konnte oder seine "Stars" aus Egozentrik nicht wollten (oder beides), kann ich nicht beurteilen.
Bem öetzten ACN war das anders. Da war Nigeria ein echtes Team. Und gewann bekanntlich.
Lag es vielleicht daran, dass dort nicht nur die "Stars" für die Super Eagles antraten?
Nichtspiel?
Vielleicht ist ja alles nur eine Videoanimation.
Gratuiere den Programmierern!