Die Ereignisse in Hongkong kommen nicht überraschend. China ist seit Jahren strukturell instabil. Das wird sich – unabhängig vom Ausgang der derzeitigen Proteste in Hongkong – so schnell auch nicht ändern. Der Grund ist einfach: Die Probleme, die das Land trotz der großen wirtschaftlichen Fortschritte angehäuft hat, sind enorm.
Nach offiziellen Angaben bedrohen bis zu 180.000 Demonstrationen und Proteste im Jahr die nur vermeintlich stabile Herrschaft der Kommunistischen Partei. Die Menschen protestieren gegen Korruption, Umweltverschmutzung, Kaderwillkür, Umsiedlungszwänge oder soziale Ungerechtigkeiten. Wann und wo sie jeweils ausbrechen, ist ebenso schwer zu prognostizieren wie die Nachahmungseffekte, die sehr schnell das ganze Land großflächig destabilisieren könnten. Bislang bleiben sie meist vereinzelt und können trotz der schnellen Verbreitung über die sozialen Netzwerke relativ leicht von den Verantwortlichen begrenzt und in Schach gehalten werden. Außerdem fehlt es in der Regel an Kameras, die die entsprechenden Bilder transportieren. So fallen die medialen Effekte, die weitere Proteste anfachen, aus.
Hongkong ist dabei immer noch ein Sonderfall: Solange die Kronkolonie unter britischer Herrschaft stand, hat London alles versucht, um demokratische Proteste zu unterdrücken. Erst mit der Übergabe 1997 hat sich das unter dem letzten Gouverneur Chris Patten geändert. Die Menschen in Hongkong haben daran geglaubt, dass die politischen Versprechen, die sich hinter der Formel "Ein Land – zwei Systeme" verbergen, auch eingehalten würden. Heute fordern sie diese Versprechen ein. Aber in Peking herrscht trotz aller marktwirtschaftlichen Erfolge immer noch eine Kommunistische Partei, die demokratischen Entscheidungen zutiefst misstraut und sich weigert, einem offenen, demokratischen Wahlprozess das Schicksal eines nicht unwichtigen Teils des Landes anzuvertrauen.
Die Menschen in Hongkong aber sind demonstrationserprobt. Seit 1989 demonstrieren sie alljährlich am 4. Juni zum Gedenken an die Niederschlagung der Studentenbewegung. Seit 1997 sind ebenso alljährlich Demonstrationen für mehr Demokratie am 1. Juli, dem Jahrestag der Rückgabe, an der Tagesordnung. Trotzdem haben die jetzigen Demonstrationen, die das Zentrum Hongkongs seit Tagen lahmlegen, eine neue Qualität. Sie stellen Peking die Systemfrage und das sollte auch ausländische Beobachter mit Sorge erfüllen. Auf Systemfragen hat Peking immer mit aller Härte geantwortet. Wenn allerdings 17-jährige Schüler zu zentralen Protagonisten solcher Demonstrationen werden, muss man auch die Frage stellen, ob allen Beteiligten die Risiken einer offenen Konfrontation tatsächlich bewusst sind. Naivität im Umgang mit einem in seiner Stabilität bedrohten kommunistischen System ist nicht nur gefährlich, sondern fast schon fahrlässig.
Der Westen hat eine Interesse an einem stabilen China
In der aufgeladenen und mit Tränengas und Polizeieinsätzen angeheizten Situation bleibt nur die Hoffnung, dass es Akteure auf beiden Seiten gibt, die für Besonnenheit plädieren. Die Erwartungen an die offiziell Verantwortlichen sind dabei eher gering; die Demonstranten rechnen mit einem brachialen Vorgehen der chinesischen Führung. Das wird auch dieses Mal vermutlich der Fall sein, es sei denn, es findet sich ein Weg, der beiden Seiten Kompromissfähigkeit ermöglicht, ohne den berühmten und sprichwörtlichen Gesichtsverlust zu erleiden. Ein solcher Weg ist im Augenblick allerdings nicht in Sicht. Die entscheidende Frage dürfte lauten, wie Peking in den nächsten Tagen auf die eskalierenden Demonstrationen reagiert.
Aber mit Blick auf die internationalen Reaktionen steht ebenso fest: Der vorschnelle Applaus aus den USA ist scheinheilig und zum Teil regelrecht verlogen. Erstens haben die USA außer wohlklingenden Worten nichts anzubieten, womit sie die Demonstranten auf den Straßen tatsächlich unterstützen könnten. Und zweitens ist die langfristige Stabilität Chinas – Hongkong hin oder her – ebenso im amerikanischen wie im europäischen Interesse. Wer möchte, kann sich in der derzeitigen geopolitisch angespannten und wirtschaftlich höchst belasteten Weltsituation für einen Augenblick vorstellen, was eine auch nur zeitweise Destabilisierung von China global für Folgen hätte. Schadenfreude oder vorschnelle Erwartungen an Demokratisierungserfolge sind völlig fehl am Platz. Leiden werden am Ende nämlich nur die Menschen in Hongkong. Aber dann werden die westlichen Medien längst wieder den nächsten Krisenherd entdeckt haben, an dem sie sich besserwisserisch abarbeiten können.
Kommentare
Hervorragend getroffen
...Herr Sandschneider.
>Und zweitens ist die langfristige Stabilität Chinas – Hongkong hin oder her – ebenso im amerikanischen wie im europäischen Interesse.<
So sieht das aus.
Was der Autor zu betonen vergißt, ist die Tatsache, daß es Europa und den USA total egal ist, wie China stabil bleibt.
Dieses ganze Geweine um Demokratie, Menschenrechte und Freiheit ist nichts weiter als Kasperletheater für das Volk.
>Wer möchte, kann sich [...] für einen Augenblick vorstellen, was eine auch nur zeitweise Destabilisierung von China global für Folgen hätte.<
Man stelle sich vor, die alternativlose deutsche Autoindustrie wäre gefährdet!
Frau Merkel würde persönlich nach Peking fahren und sich einen Panzer zuteilen lassen, da wette ich mit. Gut, vielleicht schickt sie die Ursula, damit die auch mal in einem Panzer sitzen kann, der funktioniert.
>>Aber dann werden die westlichen Medien längst wieder den nächsten Krisenherd entdeckt haben, an dem sie sich besserwisserisch abarbeiten können.<<
Oder auch nicht. Ich stelle mir vor, das Hongkong-Syndrom breitet sich aus und die Chinesen legen ihr Land mal zwei Monate per Generalstreik lahm.
Dann wird kein Plastik-Nippes mehr über die Regale von WalMart verteilt. Die US-Wirtschaft besteht zu 70% aus Konsum und zu 30% aus Zahlenspielereien, auch "Finanzindustrie" genannt.
Da findet die nächste Revolution direkt in den USA statt und dann möchte ich unsere vor Selbstgerechtigkeit platzenden Medien mal sehen, wie sie sich daran abarbeiten.
Also jedes kleine Land..
..auf den Altar der Realpolitik werfen? Hongkong hat eben Pech aufgrund unserer Beziehungen zu China, die Ukraine aufgrund unserer Beziehungen zu Russland? Das ist erstens nicht nur unglaublich zynisch, sondern wird sich auch auf lange Sicht nicht durchhalten lassen.
Es gibt kein autokratisches voll entwickeltes Land auf diesem Planeten,(Mal von der Arabischen Halbinsel abgesehen, aber mit 80% expats wäre "Ölfirma" auch die treffendere Bezeichnung als Staat) und das hat auch seinen Grund.
Aus weiter Entfernung ist man vielleicht dazu geneigt China für ein homogenes, stabiles Land zu halten, aber in der Realität werden die dutzenden Ethnien und Kulturen nur unter extremer Spannung zusammengehalten. Deswegen wird auch irgendwann in China der Punkt kommen an dem das opressive Regime sich nicht mehr halten kann, zumindest historisch gibt es daran wenig Zweifel.
Guter nachvollziehbarer Artikel
Danke, ich wünsche den Demonstranten alles gute und ein besseres freieres Leben.
Niedergang (1)
Natürlich ist China kein stabiles Land.
Innerhalb von nur 10 Jahren hat sich die Anzahl der Proteste und Unruhen in China nach offiziellen Angaben von ca. 100.000 auf 180.000 erhöht. Tendenz rasant steigend. Seit ca. 2 Jahren werden darum schon keine Angaben zur Anzahl der Unruhen mehr veröfffentlicht.
Schon heute gibt der KPCh-Staat mehr Gelder für die "Wahrung der Stablität" (维稳), d.h. für Polizeieinsätze gegen inländische Proteste und Unruhen aus als für das gesamte Militär.
Wirtschaftlich ist Chinas Entwicklung auch nicht nachhaltig, da das bisherige Wirtschaftswachstum hauptsächlich durch die Anlageninvestitionen angetrieben wird. Ein 7-Prozentiges Wirtschaftswachstum ist für Deutschland traumhaft, für China dagegen ein Grenzwert zu einer Katastrophe, weil ein Wachstum unter 7 Prozent nicht ausreichend neue Arbeitskräfte in China absorbieren würde und zur Massenarbeitslosigkeit führen würde. Der Binnenkonsum ist aufgrund der niedrigen Einkommen der meisten Chinesen und der quasi-fehlenden sozialen Systeme sehr schwach und stellt in absehbarer Zeit kein Ersatz-Motor für das chinesische Wirtschaftswachtum dar. Der Export allein würde kein 7 Prozentiges Wachstum sichern können, geschweige denn von der Tatsache, dass die Nachfragen nach chinesischen Industriegütern in den Industrieländern insgesamt nicht mehr so stark wachsen wie früher der Fall war und das goldene Zeitalter des chinesischen Exports schon längst vorbei ist.
Niedergang (2)
Außerdem kann ein hohes Wachstum ohnehin nicht langfristig beibehalten werden. Sollte das hohe Wirtschaftswachstum aber weitesgehend ausbleiben, dann fehlt es der KPCh-Regierung an den nötigen Ressourcen, um die Bevölkerung ruhig zu stellen, zumal eine echte Ideologie in China fehlt und niemals von der herrschenden KPCh wieder etabliert werden kann. Ein Zurück ist das von der Außenweit abgeschottete Land, wo die Bevölkerung durch ideologische Eintrichterungen, durch Propaganda, durch Klassenkämpfe und durch Massenbewegungen in Schach gehalten wird, wird es nicht mehr geben können.
Darum bahnen sich in China mittel- bis langfristig unruhige Zeiten an. Langfristig spielt die Zeit aber gegen den Erhalt des Machtmonopols der KPCh.
Man kann die wirtschaftlich-gesellschaftliche Situation des heutigen Chinas mit den Worten der berühmten Wirtschafts- und Sozialwissenschafterin He Qinglian so beschreiben: 溃而不崩, also fortschreitender Niedergang, aber noch kein Zusammenbruch.
Man kann sich auch von der Vorstellung getrost verabschieden, dass von der KPCh ausgehend eine politische Reform im Sinne von mehr Pressefreiheit oder generell Machtübertragung auf Dritte zu rechnen wäre. Denn jede politische Reform in Richtung eines Rechtstaates würde zwangsläufig auf Kosten des Machtmonopols der KPCh ausfallen. Aus diesem Grunde ist die KPCh bis heute eine totalitäre Einheitspartei geblieben, die seit jeher hartnäckig an ihrem Machtmonopol auf sämtliche Resourcen Chinas hält.
Hrmpf ...
Zitat: "Aber mit Blick auf die internationalen Reaktionen steht ebenso fest: Der vorschnelle Applaus aus den USA ist scheinheilig und zum Teil regelrecht verlogen. Erstens haben die USA außer wohlklingenden Worten nichts anzubieten, womit sie die Demonstranten auf den Straßen tatsächlich unterstützen könnten ..."
Doch, gewissermaßen schon. Die USA haben ihre landeseigene Occupy-Bewegung, die sich zur Unterstützung auf eigene Straßen begeben könnte.