Die deutsche Wirtschaft brummt, so scheint es, aber auch die Anzahl der Arbeitnehmer, die von Armut bedroht sind, nimmt deutlich zu. Das ist ein blinder Fleck in der Diskussion um Arbeitsmarktreformen. Die Politik muss die Frage beantworten, wie "gute" Arbeit in Zukunft definiert werden soll und wie sie mehr Menschen die Chance geben kann, mit ihrer eigenen Arbeit für sich selbst zu sorgen.
Seit 2005 sind nicht nur viele Arbeitslose, sondern viele neue Beschäftigte, vor allem gut qualifizierte Frauen, Ältere und EU-Zuwanderer, in Arbeit gekommen. Gleichzeitig aber, und das ist der zentrale Widerspruch der gegenwärtig guten wirtschaftlichen Entwicklung, hat sich der Anteil derjenigen, die von Armut bedroht sind, in Deutschland von 4,8 Prozent auf 9,6 Prozent aller Arbeitnehmer erhöht – ein dramatischer Anstieg. Somit verdient fast jeder oder jede zehnte Beschäftigte heute weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens in Deutschland. Die Quote liegt – anders als noch 2005 – über dem europäischen Durchschnitt.
Die Vermutung liegt nahe, der Übergang vieler aus der Arbeitslosigkeit in die Beschäftigung sei verantwortlich für diese Entwicklung, denn viele der ehemaligen Arbeitslosen haben geringe Qualifikationen und damit meist auch niedrige Einkommen. Es sind aber bei weitem nicht nur ehemalige Arbeitslose, die von Armut gefährdet sind. Es stellt sich zudem die grundlegende Frage, ob es Anspruch einer Gesellschaft ist, lediglich die Arbeitslosigkeit zu reduzieren. Sollte der Anspruch nicht vielmehr sein, dass die Menschen mit ihrer Arbeit ein auskömmliches Dasein haben? Also "Sozial ist, was gute Arbeit schafft" statt nur "Sozial ist, was Arbeit schafft"?
Armutsgefährdung von Beschäftigten nach Haushaltstyp
2005 – 2015, in Prozent der Beschäftigten der jeweiligen Gruppe
Die Fakten zur Armutsgefährdung von Beschäftigten in Deutschland zeigen ein klares und für manchen überraschendes Bild: Es sind vor allem Frauen, Alleinerziehende (meist Mütter), junge Menschen und Menschen mit temporärer Beschäftigung betroffen.
Große Unterschiede zwischen den Geschlechtern
Lag die Armutsgefährdung bei berufstätigen Frauen in Deutschland im Jahr 2005 mit 5,6 Prozent noch deutlich unter dem europäischen Durchschnitt, so übertraf sie ihn 2015 mit 10,5 Prozent deutlich. Der Anteil der beschäftigten, von Armut bedrohten Männer in Deutschland ist zwar auch gestiegen. Doch er liegt weiterhin unter dem europäischen Wert.
Junge Frauen bis 24 Jahre weisen in Deutschland eine 50 Prozent höhere Armutsgefährdung auf als junge Männer. Besonders stark ist der Unterschied zwischen den Geschlechtern auch bei Teilzeitbeschäftigten. Mehr als jede fünfte Frau in Teilzeit ist armutsgefährdet, deutlich mehr als bei Frauen im restlichen Europa und mehr als bei den Männern.
Zudem zeigt der europäische Vergleich, dass die Unterschiede zwischen Frauen und Männern bezüglich der Armutsgefährdung in kaum einem Land zu groß sind wie hierzulande. Für die meisten Personengruppen liegt die Armutsgefährdung bei Männern in Deutschland unter dem europäischen Durchschnitt, für Frauen liegt sie dagegen fast immer deutlich darüber. Dass Deutschland mit 22 Prozent einen der höchsten Gender Pay Gaps in Europa hat, ist auch ein Ausdruck dieser Ungleichheit.
Sicherlich mag ein Teil des Anstiegs der Armutsgefährdung insgesamt durch die steigende Zahl von Studenten erklärt werden – die wenig verdienen und trotz ihrer vergleichsweise guten Zukunftsperspektiven als von Armut bedroht gelten – doch die Zahl der Studenten ist auch anderswo in Europa gestiegen. Dafür, dass die Armutsgefährdung in Deutschland so viel stärker zugenommen hat als dort, muss es also andere Gründe geben.
Es sind auch keineswegs nur Teilzeitbeschäftigte, die von Armut gefährdet sind: der Anteil der Vollzeitbeschäftigten, bei denen das der Fall ist, hat sich seit 2005 von 3,5 Prozent auf heute 7,1 Prozent mehr als verdoppelt.
Kommentare
Gründe...ein mehr als merkwürdiger "Armutsbegriff" und die hemmungslose Ausraubung des arbeitenden Bürgers durch den Staat, siehe Begriff "Steuern"....mehr nette vom Brutto, das wäre mal eine Aussage. Statt dessen nur wissenschaftlich verbrämte, Wahlkampfideologie...
Ja, seien Sie doch ein bisschen netter zum Brutto...das wäre wirklich mal eine Aussage. Vor allem dann wenn das Brutto gleich Netto ist
"Armut gefährdet die Demokratie"
Das ist jetzt aber eine völlig überraschende Erkenntnis.
Und da die, die was haben, nicht gerne etwas abgeben, wird sich am Armutsproblem auch nichts Wesentliches ändern.
Es ist nicht die Armut, es ist das Gefühl von allen im Stich gelassen worden zu sein. Entweder geht man nicht mehr wählen oder wählt radikal, um sich etwas Aufmerksamkeit zu verschaffen.
Wir brauchen immer noch ein bedingungsloses Grundeinkommen...
@Makoto23
Für wen, von wem bezahlt,in welchem Geltungsbereich?
Bei diesem ganzen Komplex gilt der Satz von Adorno/Gernhardt: Es gibt kein richtiges Leben im valschen.
Solange Wirtschaft über die Politik herrscht, kann es keine Gerechtigkeit geben. Schon jetzt erzeugt Deutschland durch Lohndumping im eigenen Land Arbeitslosigkeit in weiten Teilen Europas, obwohl die deutsche Politik offiziell Nationalismus und Protektion ablehnt. Um eine solche Umverteilung wie ein Grundeinkommen finanziert von denen, die vom System profitieren, durchsetzen zu können, brauchen Sie eine staatliche Autorität. Entweder eine sehr starken und sehr autarken Nationalstaat oder einen überstaatlichen Konsens, der durch eine Instanz durchgesetzt wird, die mächtiger ist als die Nationalstaaten und vor allem mächtiger als die internatinale Wirtschafts und Finanzlobby . Wo sehen Sie die?
Ohne das finanzieren wieder die die Hauptleistungträger der (unteren) Mittelschicht die Reparatur des Schadens den die Superreichen anrichten.
Ach Hr.Fratzscher....wir lernen doch gerade um was es geht. Die Mitte. Und da leben keine Leute von Grundsicherung oder sind alleinerziehende Frauen, Rentner mit Grundsicherung, Behinderte...usw usf.
Um was es wirklich geht ist, dass die Ü50 sanft in die Rente gleiten, dass das ablkent von den Einkommensschere und die Debatte niemandem wehtun darf. Sanfte Themen die jeder gut finden und unten muss alles bleiben wie es ist.
Schließen wir mit Peer Steinbrück...."Es gibt fettere Weiden auf denen es sich lohnt zu grasen"
Sehe ich auch so. Anstatt sich mit Lösungen, für die auch von Herrn Fratscher selbst genannten Gruppen erstmal geschlechtsneutral, also für ALLE gültigen Verbesserungen zu beschäftigen, nämlich junge Menschen und Menschen mit temporärer Beschäftigung - als da sind Zeitarbeiter, Werkvertragsler ... wird wieder der Gender Pay Gap bemüht, der ja schon außerordentlich erfolgreich der Mehrheit der Frauen im Alltag geholfen hat, mit der Quote für DAX-Vorstände.
"Es sind vor allem Frauen, Alleinerziehende (meist Mütter), junge Menschen und Menschen mit temporärer Beschäftigung betroffen."
Würde an Vollbeschäftigung gearbeitet, die Zeitarbeiter für Unternehmen teurer als Festangestellt, und die Rechte der Gewerkschaften nicht weiter eingeschränkt, wäre wahrscheinlich kein Mindestlohn nötig und der vom IWKöln berechnete Gender Pay Gap von 2% würde auch verschwinden ... aber nein, blos keine Lösung die allen helfen würde, schön immer das imperare et divide Spiel spielen, um dann zu extrem nützlichen Insellösungen wie dem für DAX-Vorstände kommen, hauptsache bei der Mehrheit ändert sich nix, und vor allem, die unten bleiben unten - egal ob Mann oder Frau, gell?
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