"Stillen ist Liebe!" Die Botschaft prangt prominent an der Pinnwand des Familienzentrums, an der jede Woche Hunderte Mütter vorbeikommen: auf dem Weg zur Rückbildungsgymnastik, zur Krabbelgruppe, zum Pekip. Im Kursraum selbst gibt es dann Stillkissen, Stilltee – und missbilligende Blicke für all die Frauen, die in der sogenannten Stillpause Milchpulver und Fläschchen auspacken. Denn ob das Baby die Brust bekommen soll oder nicht, ist hierzulande keine Frage, die jede Frau für sich beantworten darf. Muttermilch ist doch schließlich so gesund! Und der enge Hautkontakt dabei so wertvoll! Wie kann eine Mutter ihrem Baby all das nur verwehren?
So oder ähnlich denken immer mehr Mütter – und sie sind damit nicht
allein. Auch Hebammen und Stillberaterinnen tragen zur Überhöhung des Stillens bei: Da
wird Muttermilch als "Himmelsnahrung" oder "flüssiges Gold" verklärt,
während Flaschenmilch aus der Packung als "Pulverpampe"
oder "Giftbrühe" bezeichnet wird. Hier
das Stillen als die Verkörperung der Mutterliebe schlechthin – dort das
Fläschchengeben als liebloser, egoistischer Akt: Zwischen diesen Extremen scheint es in Deutschland wenig zu geben.
Ein Blick in alte Erziehungsratgeber zeigt: Der allgegenwärtige Stillzwang
hierzulande ist kein neues Phänomen. So stimmte bereits 1934 die Nazi-Ikone Johanna Haarer in ihrem Bestseller Die deutsche
Mutter und ihr erstes Kind ein Loblied auf die Muttermilch an – und schwor ihre Leserinnen damit gleich
auf ihre erste Mutterpflicht ein: "Deutsche
Mutter, du musst dein Kind stillen! Nur wenn du dein Kind stillst, erfüllst du
deine Pflicht als Mutter!"
Bevormundung von Müttern ist Standard
Das Erschreckende: Während die kaltherzigen Babytipps der Hitler-Verehrerin
("Schreien stärkt die Lungen!") unter jungen Eltern längst als No-Go gelten, wirkt die Haarer'sche Härte Müttern gegenüber in den
Köpfen fort. Sie haben in Deutschland
kaum eine Wahl. Mütter müssen.
Diese Bevormundung zieht sich durch die Geschichte des Mutterseins in Deutschland, selbst durch die Jahre, in denen das Stillen hierzulande stark rückläufig war. Denn auch als in den 1960er und 1970er Jahren die Kunstmilch modern wurde, gab es keine friedliche Koexistenz von Flasche und Brust. Stattdessen wurde die eine hochideologische Doktrin einfach durch die andere ersetzt: Aus der Pflicht, zu stillen, wurde der Zwang zur Flasche.
Heute schwingt das Pendel wieder in die andere Richtung, und das mit aller
Macht. Es gibt Hebammen und Gesundheitsexperten, die das Stillen als Menschenrecht für Babys bezeichnen – wobei es den Vereinten Nationen dabei eher darum geht, zu verhindern, dass Hersteller von Milchpulver und Ersatzmilchprodukten den Markt in wenig entwickelten Ländern ungehindert einnehmen, ohne dass Frauen dort gleichzeitig über Vor- und Nachteile aufgeklärt werden, Beratung und, wenn sie es möchten, auch Unterstützung beim Stillen bekommen.
Manche Stillberaterin fordert indes,
Pulvermilch sollte es nur noch auf Rezept in der Apotheke geben für Frauen, die
wirklich nicht stillen können, nicht aber für diejenigen, die einfach "zu faul" sind, so die Vorstellung. Und in Internetforen und Facebook-Gruppen
diskutieren Mütter ernsthaft darüber, ob Säuglingen nicht auch in Deutschland das
Recht, gestillt zu werden, per Gesetz zugestanden werden sollte – so wie in
Abu Dhabi.
"Mein Körper gehört mir!" – das lernen zwar bereits Dreijährige im Kindergarten, doch für erwachsene Frauen scheint dieser Grundsatz in Deutschland nicht immer zu gelten. Zumindest nicht, sobald ein Neugeborenes ins Spiel kommt. Die Fremdbestimmung beginnt in der Schwangerschaft ("Folgende Lebensmittel sind für Sie ab heute verboten!") und endet nicht mit dem Stilldruck. Eine Mutter, die früh wieder arbeiten geht? Hätte besser kein Kind gekriegt. Eine Frau, die ihr altes Leben vermisst? Sagt das besser nicht laut. Sich aufzuopfern, dem Kind zuliebe – das ist der Kern des deutschen Muttermythos, der das Kinderkriegen und Kinderhaben in Deutschland noch heute so schwer macht.
Kommentare
Ich habe mir noch nie Gedanken darüber gemacht, ob eine - mir fremde - Frau ihr Baby stillen sollte oder auch nicht. Aus einem einfachen Grund: Es geht mich nichts an.
Warum kann dies nicht der allgemeine Grundsatz sein ?
Muss man denn alles, aber auch absolut alles - selbst die persönlichsten Entscheidungen - zum Gegenstand voyeuristischer Diskussionen machen ?
Ich frage mich, warum sich moderne, emanzipierte Frauen überhaupt von irgendwem "Druck machen lassen".
Gut, vor einigen Jahren war es noch üblich, eine arbeitende Mutter, die ihr Kind / ihre Kinder "fremdbetreuuen" liess (und sei es auch nur von der eigenen Mutter oder Schwiegermutter), anstatt selbst bis zur Einschulung zu Hause zu bleiben,
als "Rabenmutter" herabzuwerten.
Aber dass sich junge Mütter davon, was andere sagen, überhaupt noch irritieren lassen, verstehe ich nicht.
Leider muss jeder Artikel die Schmähvokabeln aufgepeppt werden - wenn die Argumente nicht reichen, wird in die Rhetorik Trickkiste gegriffen. Ich glaube nicht, dass man sich damit einen Gefallen tut
Und zum Inhalt: Glücklicherweise existiert ein "Stillzwang" nur im Kopf der Journalisten - dass eine Bezugsgruppe nicht jede Entscheidung gleich positiv bewertet, fängt schon bei Wohnort an
Das wird sich nie ändern lassen. Niemals wird einfach alles gleich positiv belegt sein
"Niemals wird einfach alles gleich positiv belegt sein."
Richtig, ja. Und wenn man von der eigenen Sache überzeugt ist, kann man auch drüber hinwegsehen, wenn man nicht mit dem Strom schwimmt und hal mal eine spitze Bemerkung oder einen abschätzigen Blick ertragen muss. So what.
Entschuldigung, aber aus unserer Erfahrung entspricht der Artikel nicht der Realität. Wir haben einen 2 Monaten Sohn und nachdem wir eine Woche miterlebt haben wie im Krankenhaus eine Woche lang unter Schreien vergeblich versucht wurde ihn an die Brust zu zwingen, haben wir uns für seine Mischung aus abpumpen und Pulver entscheiden. Unserem baby geht es sehr gut und verteilt hat uns auch keiner. Und so kann auch Papi füttern... und auch in allen Ratgebern steht “wenn sie sich entscheiden zu stillen...“ also die Wahl ist da und bisher haben wir noch keinen Zwang gefühlt...
Erstmal herzlichen Glückwunsch zum Nachwuchs!
Zum Thema- schön, dass Sie eine positive Erfahrung gemacht haben, und keine unterschwellige Verurteilung erfahren haben. Mir ging es leider anders. Aus diversen Gründen wollte/konnte mein Sohn ebenso nicht an der Brust trinken. Am Ende habe ich abgepumpt und habe mich wie viele Mütter mit ihrem Säugling mit dem MuMi-Fläschchen ins Stillzimmer gewagt, um in Ruhe zu füttern. Ich kam mir vor wie ein Außerirdischer. Eine (mit ihrem Kind an der Brust kämpfende Mutter) sagte zu ihrem Baby und mit dem Blick auf mich: Jetzt trink doch, Du willst doch nicht so enden wie dieser arme Kerl. Das war mein letztes Mal im Stillzimmer.
"Muttermilch ist doch schließlich so gesund! Und der enge Hautkontakt dabei so wertvoll!....
So oder ähnlich denken immer mehr Mütter – "
So denken endlich immer mehr Menschen einschließlich der WHO. Grund: weil es so ist. Der ironisch gebrochene Unterton des Artikels ist unangebracht.
Es gibt keine Bevormundung, sondern die Mutter spürt für Reaktion auf ihre frei Entscheidung, die halt eben nicht Gleichgültigkeit ist.
Sein Kind zu schlagen, nicht zu impfen, mit Fastfood vollzustopfen, vorm Fernseher zu parken, etc. sind auch alles freie Entscheidungen der Eltern, für die man aber Bitteschön keinen Applaus erwartet !
Es gibt Mütter, bei denen klappt das mit dem Stillen nicht. Da kommt einfach von Anfang an keine Milch oder nicht genug.
Wenn eine junge Mutter eine Infektion hat und erst einmal nicht stillen soll, dann klappt das später manchmal auch dann nicht mehr, wenn sie abpumpt, um den Milchfluß anzuregen und am Laufen zu halten, bis sie dann stillen darf.
Es gibt auch Frauen, die nach 6 Wochen Mutterschaftsurlaub wieder arbeiten gehen müssen und für die die Stillerei oder die Abpumperei zu einer Riesenbelastung und Quälerei wird. Völlig unnötigerweise, da das Immunsystem des Kindes nach 6-8 Wochen weit genug entwickelt ist, dass die Antikörper aus der Muttermilch nicht mehr gebraucht werden.
Und "körperliche Nähe" bekommt das Kind auch beim Fläschchengeben von Vater, Mutter oder anderen Bezugspersonen.
Der Grund, warum die WHO gerade in Dritte-Welt-Ländern das Stillen so dringend empfiehlt, liegt daran, dass man beim Fläschchen-Geben sauberes Wasser und sterile Fläschchen benötigt. Bedingungen, die in Dritte-Welt-Ländern nicht gegeben sind. Weshalb dort Fläschchen-ernährte Kinder unnötig an Durchfallerkrankungen leiden und unter Umständen auch daran versterben.
"Unsauberes Wasser" oder unsterile Fläschchen sind aber kein Problem in Europa. Oder sollten keines sein, wenn die Mütter entsprechend aufgeklärt werden.