Als Diederik Stapel, nachdem er in seinem Leben ziemlich viel Mist gebaut hatte, auf den Friedhöfen von Tilburg neue Gräber aushob, hatte er endlich keine Angst mehr. Keine Angst vor dem Tod. Keine Angst vor den Lebenden, die ihm unangenehme Fragen stellen könnten. Keine Angst, dass alles auffliegen und die Universität ihn rauswerfen würde. Das hatte er nun hinter sich, im Herbst 2013, genauso wie die Psychotherapie und den Ärger mit dem Staatsanwalt. Drei Wochen gemeinnützige Arbeit lautete der Deal mit der Justiz. Tiefer sinken als beim Gräber ausheben konnte er zu Lebzeiten nicht mehr.
Stapel hatte überlegt, sich umzubringen. Das war an jenem Tag im August 2011, nachdem ihn der Rektor der Universität Tilburg mit den Fälschungsvorwürfen konfrontiert hatte. Anschließend raste Stapel über die Autobahn, Blinker links, Fernlicht an. Was manche Männer so machen, wenn ihnen die Kontrolle entgleitet. Aber bei Vollgas gegen einen Baum fahren, das konnte er nicht. Er kehrte heim und beichtete alles seiner Frau.
Früher riefen Journalisten bei Diederik Stapel an, um über seine Forschung zu berichten. Super Schlagzeilen waren das: Menschen äußern sich rassistischer, wenn sie sich in einer vermüllten Umgebung aufhalten (erforscht während eines Streiks der Müllabfuhr in Utrecht, publiziert in
Science).
Oder: Der Anblick eines saftigen Steaks macht Versuchspersonen aggressiver (die Nachricht wurde von Vegetariern gefeiert). Oder: Frauen, die Schönheitsprodukte in der Werbung sehen, fühlen sich hässlicher (dankbar aufgegriffen von Modejournalistinnen). Die
New York Times,
die
Neue Zürcher Zeitung, Spiegel Online
und auch ZEIT Wissen schrieben über Stapels Experimente. Dass viele seiner Studien gefälscht waren, blieb jahrelang sein schmutziges Geheimnis.
Für die Wissenschaft ist der Fall Stapel eine Riesenblamage. Wie kann es sein, dass Dutzende Mitarbeiter, Doktoranden, Fachzeitschriften und Kollegen nichts von dem Betrug gemerkt haben? In aller Welt beraten Ethikkommissionen nun, wie man solche Skandale in Zukunft verhindern kann. Das Verrückte ist, dass Stapel ihnen dabei helfen möchte.
An einem Montag im Dezember steht Diederik Stapel zum ersten Mal nach seinem Rauswurf wieder in einem Hörsaal am Rednerpult. Ein Studentenclub der Universität Utrecht hat ihn eingeladen, rund 60 Studierende sind gekommen, geschlossene Gesellschaft. Stapel sagt: "Es gibt viele Leute, die mich hier nicht sehen wollen."
Er trägt ein verwaschenes Langarm-Polohemd, Jeans, ein geflochtenes Armband, seine schwarzen Haare sind etwas wuschelig. Er sieht irgendwie lässig aus, nicht wie ein gestrauchelter Dekan. Er steht aufrecht neben dem Rednerpult, in der rechten Hand ein Blatt Papier. Früher war er mal Laiendarsteller, aber den Platz an der Schauspielschule hat er abgelehnt, weil er nicht immer dasselbe spielen wollte. Seit einem Jahr jedoch ist er festgelegt auf die immer gleiche Rolle in einer Ein-Mann-Tragödie. Steiler Aufstieg, jäher Fall, Zukunft ungewiss.
Von seiner Doktorarbeit in Amsterdam über seine erste Professur an der Universität Groningen bis zu seiner Entlassung als Dekan an der Universität Tilburg hat Stapel Daten erfunden und manipuliert. Die Betrügereien flogen auf, als drei Mitarbeiter Verdacht schöpften und sich einem Professor anvertrauten, der wiederum den Rektor der Universität Tilburg alarmierte. Drei Kommissionen an den Universitäten Amsterdam, Groningen und Tilburg untersuchten den Fall. Sie sichteten 137 Veröffentlichungen, an denen Stapel beteiligt war. In 25 konnten sie Manipulation nachweisen, in 30 waren Daten sogar frei erfunden worden. Auch 10 von 18 Doktorarbeiten, die er betreut hatte, enthielten fiktive Daten.
Nun kamen die Journalisten wieder zu ihm, aber diesmal schlichen sie um sein Haus und klopften an die Fenster: "Hallo! Ich kann Sie sehen, Professor. Ich weiß, dass Sie da sind. Hallo?" Viele Niederländer erkennen ihn heute auf der Straße. "Een stapeltje doen" ist zum Synonym geworden für hochstapeln (das Wort gibt es im Niederländischen nicht). Der Nobelpreisträger Daniel Kahneman forderte die Sozialpsychologen auf, ihren Stall auszumisten. "Euer Fach ist heute das Paradebeispiel für fragwürdige Forschung in der Psychologie. Hinter dieser Forschung steht ein großes Fragezeichen, und es ist eure Verantwortung, es wieder loszuwerden."
Am Rednerpult in Utrecht sagt Stapel: "Ich weiß, was ich getan habe, und ich weiß, dass es falsch war." Er liest den Studenten einen fiktiven Brief an sein zweites Ich vor, in dem es darum geht, dass man die Wissenschaft nicht vergöttern soll, wie er es tat – ein Plädoyer für mehr Mittelmaß und Vielseitigkeit. Vor allem aber will er darüber reden, wie man Wissenschaftsbetrug künftig besser vorbeugen kann.
Kommentare
Einerseits mutig
aber andererseits notwendig. Bei solchen Studien ist die Manipulation naheliegend, das Forschungsdesign ist trotz dicker Handbücher zu diesem Thema oft unsauber. Und da positive Ergebnisse - die Hypothese ist bewiesen - vorzeigbar sind, während es negative oft nicht sind, ist die Fälschung in diesem Bereich naheliegend.
Wo bleibt der Mut?
Mutig wäre es gewesen, wenn jemand in der Position Stapels seine eigenen Ergebnisse in Zweifel ziehen und Kollegen um Verifikation bittet. Aber es macht einen großen Unterschied, ob jemand den Verdacht hat, selbst unsauber gearbeitet zu haben oder aufgrund eigener Hypothesen bei der Interpretation nicht unvoreingenommen gewesen zu sein, oder ob jemand ganz bewusst gefälscht und betrogen hat.
Der Fall Stapel liegt aber offenbar völlig anders: hier versucht jemand, der bereits überführt wurde und der zuvor scheinbar sogar seine eigene Position gegenüber Doktoranden genutzt hat, mögliche kritische Nachforschungen zu unterbinden, Schadensbegrenzung in eigener Sache zu betreiben, indem er versucht, den Fokus von persönlichem Fehlverhalten auf Fehler im Wissenschaftsbetrieb als ganzem zu lenken. Das ist nicht mutig, und ich kann gut nachvollziehen, weshalb ehemalige Kollegen nun einen großen Bogen um Herrn Stapel machen.
Und klar, man kann am Beispiel eines Hochstaplers lernen, welche Lücken das System hat. Aber man sollte sich von jemand, der nie ordentliche Wissenschaft gemacht hat nun nicht erklären lassen wie man es richtig macht.
Solang der homo hybrid
versucht sich der Wissenschaft zu nähern, wird er getrieben von Selbstliebe, Aufmerksamskeitdefizit, Selbstberschätzung, Götterwahn, Ruhmsucht, Geldgier, und, und, und, auf den Pfaden der unwissenschaftlichen Schwächen wandeln, und wenn nur gedanklich. A. Nobel ist hier ein glänzendes Beispiel, A. Einstein mit seinem Brief zum Bau der Bombe nicht minder.Unter uns, wer Therapeutisches kennt, hat eine Vorstellung, um welches Wissen (Denkhandlungsschemata)es sich handelt, wenn der Klient sagt: "Ich weiss, ich habe was falsch gemacht!" Diese Art Ahnungslosigkeit ist der brilliant selbstverschuldete Selbstbetrug!
Wie A. Schopenhauer bereits treffend formulierte: Es gibt auf der Welt nur ein lügenhaftes Wesen - es ist der Mensch!
Hm...
Schimpansen lügen auch
Zumindest laut einer Studie...
Fehler liegt im System
Ich vermute, dass diese aufgedeckte Manipulation von Forschungsergebnissen nur die Spitze des Eisberges ist. Die Dozenten und Professoren werden nicht nach den Leistungen als Lehrkraft sondern nach ihren publizierten Forschungsergebnissen bewertet. Der Fehler liegt also im System.
Menschlich
Das ist halt auch etwas menschlich. Ich kenne solch eine Situation von einem Vertriebler. Es war der einzige Vertriebler in der Firma und er war halt nicht sonderlich erfolgreich. So wurde von der Geschäftsleitung der Druck auf den Mann immer größer. Um irgendwie dem Druck zu entgehen hat er Kundenkontakte erfunden und sich Abschlussprognosen aus den Fingern gesaugt. Bis halt die Geschäftsleitung die Kontakte selbst prüfte ...
Dieser Druck existiert auch bei der Forschung. Die Leute müssen Ergebnisse liefern. Je mehr Veröffentlichungen, um so besser. Und sie müssen ihre Ergebnisse "Verkaufen" können, wie er richtig bemerkt. Dieses System bevorzugt halt Schaumschläger. Und vom Schaumschläger zum Betrüger bedarf es nur weniger Schritte.
Forscher aus Leidenschaft gehen in dem System oftmals unter. Ich kannte jemanden, der sehr lange für seine Doktorarbeit gebraucht hat. Es lag einfach daran, dass er selbst den Trieb hatte sein Gebiet gründlich zu erforschen. Die Doktoranden vorher hatten nur oberflächlich gearbeitet und sind so schnell durch das System gekommen. Er hat die ganzen mathematischen Grundlagen nachträglich erarbeitet, um sein Ergebnis auf eine gesicherte Grundlage zu stellen. Das war aber nicht in der normalen Zeit möglich, da er ja die Arbeit seiner Vorgänger mit geschultert hat. So hat er es natürlich nicht geschafft im Wissenschaftsbereich eine Karriere starten zu können.
Die Anreize im System sind einfach falsch.
Kein Einzelfall -
ein Bekannter von mir wurde aus ähnlichen Gründen von seinem Professor mit den Worten bedacht: "Für die Forschung sind Sie aber nicht geeignet." Qui vaditis, Wissenschaften?