Zwanzig Minuten Mittagspause, die trostlose Kantine ist mehr schlecht als recht in zwei ehemalige Klassenzimmer gestopft, schnell essen, sonst reicht die Zeit nicht, aber viel Zeit möchte auf die geschmacksfreie Aluschalenkost, die totgekochten Nudeln und halbrohen Kartoffeln auch niemand verwenden; rasch mit dem Kohlehydratmatsch im Magen zurück in den Physikraum, biorhythmischer Tiefpunkt, noch zwei Unterrichtsstunden oder gar drei, um 16 Uhr kann der Heimweg angetreten werden, die Hausaufgaben dauern bei konzentrierter Erledigung bis etwa 18 Uhr: So sieht heute der Schultag an vielen Gymnasien aus, die die Schulzeit von neun auf acht Jahre bis zum Abitur verkürzt haben.
Die »Reform«, die derartige Zustände nach sich gezogen hat, verdient erstens den Namen nicht und ist zweitens hinterrücks über die Bundesrepublik gekommen. Anders als etwa die hochemotional geführte Gesamtschuldebatte wurde die Durchsetzung des achtjährigen Gymnasiums (»G8«) kaum öffentlich diskutiert. Erst jetzt, nachdem Jahrgang um Jahrgang von Zehn-, Elf-, Zwölfjährigen Erfahrungen mit einem Arbeitstag sammelt, der dem eines gut ausgelasteten Erwachsenen gleicht, werden die Eltern wach – und die Journalisten, deren Kinder auch zur Schule gehen. Von der Bild- Zeitung (So macht die Schule unsere Kinder kaputt) bis zur FAZ (Hände weg von unserer Kindheit!) reicht die Allianz der Empörten; Fernsehmoderator Reinhold Beckmann ließ sich vergangene Woche in seiner Sendung zu einer Philippika hinreißen, die vielen Betroffenen – Schülern, Lehrern, Eltern – aus der Seele gesprochen war. Denn die Aufregung über das Turbo-Abitur ist ausnahmsweise kein populistisches Quoten-Gehechel: Mit dieser »Reform« geht ein so unerträgliches Maß an Schulverwüstung einher, dass Widerstand die einzig logische Konsequenz zu sein scheint.
Dementsprechend reichen die Proteste besorgter Mütter und Väter inzwischen von Hamburg bis München; auch in Hessen nannten vor zwei Wochen viele Wähler die Schulpolitik als Grund, warum sie gegen die CDU-Regierung stimmten. Allein in Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz befindet sich »G8« noch in der Vorbereitungsphase, in allen anderen Bundesländern ist das Kurzgymnasium bereits Alltag – ein Alltag, der die eigentlich vergnügliche, interessante und auf die vielfältigste Weise lehrreiche Zeit am Gymnasium (der erfolgreichsten und stabilsten deutschen Schulform) zusammenpresst in ein graues, drückendes Unterrichtspaket, das auch Fünftklässler gefälligst zu schultern haben, im Namen von – ja, was eigentlich?
Kein Abiturient konkurriert auf dem Weltmarkt
Den Eltern scheint es endlich zu dämmern: »G8« ist eine Ideologie, der Nachmittagsfreizeit und Musikunterricht, Zeit für den Sportverein, für Freunde, fürs Lesen und fürs Nichtstun zu opfern sind. Diese Ideologie heißt »Tempo um jeden Preis« und bedeutet die Unterwerfung der Pädagogik unter sachfremde, ökonomistische Kriterien. Sie passt zum Zeitgeist der vergangenen 15 Jahre, in dem Schlagwörter wie »Konkurrenzkampf«, »Wettbewerb« und »Wohlstand« (alles CDU-Leitantrag 2000) einen besseren Klang hatten als vermeintlich verstaubte Begriffe wie »Bildung«, »Charakter«, »geistige Reife« oder »Urteilsvermögen«. Insofern ist die Turbo-Ideologie, obwohl sie ganz überwiegend von Christdemokraten vertreten wurde, zutiefst antibürgerlich – und in ihrer Bereitschaft, vom heranwachsenden Menschen abzusehen, dann wieder erstaunlich anschlussfähig an technokratische Tendenzen, an rein form- und methodenfixierte Unterrichtsreformen, die das deutsche Bildungswesen seit den siebziger Jahren prägen.
Die Tatsache, dass zu Anfang auch zahlreiche Eltern von »G8« begeistert waren, bis sie am eigenen Nachwuchs die Folgen beobachten konnten, macht eine politische Rückabwicklung jetzt nicht einfacher: Viele hofften ja, mit der verkürzten Schulzeit für ihre Kinder so etwas wie einen offiziellen Elite-Stempel zu erwerben. »Die Eltern haben in der ganzen Dynamisierungs- und Beschleunigungsfrage eine durchaus unselige Rolle gespielt«, sagt »G8«-Kritiker Elmar Tenorth, Professor für Historische Erziehungswissenschaft an der Humboldt-Universität Berlin. Wie sehr sie freilich von interessierter Seite in diese Richtung gedrängt wurden, lässt sich aus der Einlassung eines hochrangigen Bildungspolitikers herauslesen. »Die Debatte um die Einführung des achtjährigen Gymnasiums wurde ursprünglich nicht von Eltern eröffnet«, sagt Bayerns Kultusminister Siegfried Schneider (CSU), in dessen Land die Stimmung ähnlich aufgeheizt ist wie in Hessen. »Das war mehr eine Debatte, die aus der bayerischen Wirtschaft kam.«
Wofür eigentlich ist das Turbo-Abitur in einer Gesellschaft, die immer älter wird, gut? Wofür so dringend nötig? Das Hauptargument der Schulzeitverkürzer, das bereits in den sechziger Jahren von dem CDU-Bundestagsabgeordneten Hans Dichgans (offenbar mit einem gewissen messianischen Eifer) in die Diskussion eingeführt wurde und sich seither hält, lautet, die Absolventen deutscher Schulen und Hochschulen seien – gerade mit Blick auf die europäische Einigung – im internationalen Vergleich zu alt. Diese Position und die daraus resultierende Forderung nach einem früheren Gymnasialabschluss fand 1981 ihren Weg ins CDU-Grundsatzprogramm. Der ehemalige hessische Kultusminister Christean Wagner (CDU) sorgte sich um die »Konkurrenzfähigkeit« junger Deutscher auf dem europäischen Binnenmarkt und trieb seit Ende der achtziger Jahre in seinem Land Modellversuche zur Schulzeitverkürzung voran. Auch Bundeskanzler Helmut Kohl war ein großer Freund solcher Bestrebungen.
Kommentare
Schön zu hören...
daß die sog. Journalisten wie Bekmann nun über ihre Kinder mitleiden.
Nun können auch mal sie die Suppe auslöffeln, die sie sonst den Normalos wegen ihres kritiklosen Mainstreamvaluimprogamms einbrocken. Wäre ja ihre Aufgabe gewesen das frühzeitig anzukreiden und zu hinterfragen. Nun sind sie Opfer ihrer eigenen Anpassung geworden. Schön, schön... :))
Bleibt noch die Frage, wie so ein Flickwerk überhaupt entstehen kann, wenn da Leute in Jobs dransitzen, die richtig gut bezahlt werden. Wofür werden die eigentlich bezahlt? Und welche Köpfe werden rollen? Mit welcher Qualität wir derartige, für die Entwicklung der Kinder extrem wichtige Zeit, ausgestalten, sagt auch etwas darüber aus, welchen Wert wir ihnen beimessen. Noch dazu vor dem Hintergrund, daß ja überall geklagt wird, wir hätten zu wenige. So, so, dann sollte uns das Wohl und die Entwicklung dieser wenigen aber gerade mehr wert sein, und wir nicht neoliberalen Zeitgeist unüberlegt und oberflächlich auf ihrem Rücken umsetzen. Statt kürzerer Lehrzeit, wäre mehr individuelle Betreuung in kleinen , sehr kleinen Gruppen, ratsam. Lehrmittel müßten vollständig vom Staat bezahlt werden. Laptops sollten ein Selbstverständlichkeit für alle und umsonst sein. Aber da wirds uns dann schon wieder zu teuer. Verlogener kann eine Debatte gar nicht sein. Pfui!
lange nicht in der schule gewesen
Dieser artikel ist für mich reinster populismus und die doch wirklich sehr anschaulichen Schilderungen vom Schulalltag sind für mich völlig fremd. Ich habe 2006 in Sachsen-Anhalt Abitur gemacht und wir waren der vorletzte Jahrgang der nach 13 Jahren das Gymnasium beendet hat, 2007 wurde dann auf 12 Jahre "zurückgeschaltet", so wie es eine lange Zeit zuvor schon war.Ich erinnere mich noch gut an das elfte Schuljahr, das ich dank diesen 13-Jahre-Systems zusätzlich machen durfte, es galt offiziell als Vorbereitungsjahr auf die Kursstufe, aber im Endeffekt hat sich herausgestellt, dass alle meine Klassenkameraden, die die elfte Klasse übersprungen hatten, im Vorteil waren, denn dieses Jahr war das langweiligste und überflüssigste überhaupt in meiner Gymnasiallaufbahn.Es wurde viel wiederholt, wenig relevanter neuer Stoff behandelt und noch in der 13. Klasse habe ich mich darüber geärgert, jetzt noch in der Schule versauern zu müssen, wo andere in meinem Alter schon längst ein Studium angefangen hatten. Dadurch habe ich dann mit 20 Jahren die Schule verlassen und wenn man hier nun das Studium, die Arbeitsfindungs- und Einarbeitungsphase mit einberechnet, ist man schon wieder unattraktiv für den Arbeitsmarkt, der ja möglichst junge, erfahrene Kräfte sucht.Ich vertrete den Standpunkt, dass es möglich sein muss, sich schon so früh wie möglich auf eine Richtung spezialisieren zu können, doch die Schule bildet einen ja bis zum Abitur in allen gesamten Wissenszweigen weiter. Dies ist auch der Hauptgrund warum ich mich in der Oberstufe eingeengt gefühlt habe, da ich mich mit zu vielen Sachen beschäftigen musste, die mich nicht interessiert haben. Hier hinkt Deutschland im internationalen Vergleich hinterher, wenn ich an meine französischen Bekannten denke, die schon mit 17 mit dem Studium begonnen haben, kann ich nur neidisch werden.Ich plädiere für eine möglichst kurze Schulzeit und eine rasche Übergangsmöglichkeit zu den Universitäten.
Von den Konservativen und der beleidigten Leberwurst
Jeder hat die Freiheit, Kinder zu bekommen. Jeder hat auch die Freiheit, seine Kinder auf das Gymnasium zu schicken - das ist letztendlich die Argumentationsweise, die hinter den sogenannten G8-Reformen steht. Tatsächlich sind in einigen Kreisen der Union hohe Abiturientenzahlen schon immer unheimlich gewesen; ebenso hohe Studierendenzahlen, gelten diese doch als potenzielle Aufrührer und Revoluzzer. Der Schock von 1968 sitzt in der Union noch richtig tief. Nicht nur hinter vorgehaltener Hand wird im bürgerlichen Lager beklagt, in Deutschland bekämen die Falschen die Kinder und schickten die Falschen ihre Kinder aufs Gymnasium.Es ist schon bezeichnend, dass der ursprüngliche Ansatz zur Verkürzung der Gymnasialzeit von den Finanzministern aus ging. Nun sind aber Volks- und ganz besonders die Betriebswirte nicht für große intellektuelle Leistungen im Bereich der Pädagogik bekannt - aber sie können eben eines: das Geld streichen. Und wer bekanntlich das Geld hat, hat die Macht. Die seitens der BWLler gerne gestellte Frage, inwiefern sich etwas rechne und inwiefern etwas nützlich sei, taucht ja immer gerne wieder auf. Ein pfiffiger Geist hat vor nicht all zu langer Zeit einmal die Frage gestellt, ob Beethoven seine 9 Symphonien wohl geschrieben hätte, wenn er von Anfang an die Frage hinsichtlich ihrer Nützlichkeit durchgängig diskutiert hätte.Gerne wird seitens der Union immer wieder darauf verwiesen, die Verkürzung der Gymnasialzeit und das anschließende Bachelor- (ich nenne es Schmalspur-) studium wären von der Wirtschaft vehement gefordert worden. Das mag sicherlich in manchen Fällen stimmen, wünscht man doch dort oft formbare, aggressive und vor allem brutale Charaktere, die den Vertrieb regeln. Für so etwas braucht man Leute unter 30, denn wenn sie erst einmal älter sind, wissen sie, wie der Hase läuft - und entziehen sich: z.B. ins Ausland, oder werden mit spätestens Mitte 30 aussortiert, es wächst ja Frischfleisch nach. Und so eine knackige Mittzwanzigerin im knappen Mini mit betörender Figur - das ist doch was für einen hart arbeitenden Top-Manager: da läuft doch der Geifer im Munde zusammen. Doch Schluss mit dem Polemisieren - zurück zum Thema...Seitdem Georg Picht seine berühmte Artikelserie zur Bildungskatastrophe veröffentlicht hat, haben wir in D eine Schulreform nach der anderen erlebt. Meistens bestanden diese Schulreformen darin, dass man die Reformen der Vorgängerregierungen wieder rückgängig gemacht hat. Neben der Familien- und Integrationspolitik kenne ich kaum ein Politikfeld, das stärker vom Kalten Krieg und den dazugehörigen ideologischen Grabenkämpfen geprägt ist, als eben die Bildungspolitik. Mit der Realität hatte und hat sie nichts zu tun. Die Betreffenden werden gar nicht gefragt, ihnen wird die neue Strömung einfach über gestülpt. Wer es nicht schafft, so heisst, wessen Körper nicht mit macht, wäre selber schuld.Was wir im Moment erleben, ist eine Abrechnung neokonservativer und neoliberaler Kreise mit den sogenannten 68ern. Nur sind hier diejenigen die Leidtragenden, die absolut nichts damit zu tun haben: die Kinder. Ihnen stiehlt man die Kindheit, weil irgendwer wegen irgendetwas, was irgendein anderer vor 40 Jahren einmal gesagt hat, immer noch schwerst beleidigt ist. Und ich meine, es gibt nur eine politische Richtung, in der die beleidigte Leberwurst eine wichtige Rolle spielt: das ist der Konservativismus, die selbsternannte bürgerliche Verteidigungsgemeinschaft.
Schluß mit dem G8
Schon als die ersten Pläne zum G8 bekannt wurden, war ich entsetzt. Warum um alles in der Welt will man den Kindern kein bisschen Freiheit und Zeit für Muße und Selbstfindung mehr lassen? Es wird Zeit, dass wir alle anfangen uns gegen die Diktatur des Ökonomischen zu wehren. Wen interessiert es schon, auf welchem Rang der OECD-Bestenliste wir rangieren, wenn wir dafür zu einer Gesellschaft humanoider Autromaten degenerieren. Schluß mit dem Turbokapitalismus! Schluß mit dem G8! Gebt den Kindern ihre Jugend und das 13. Schuljahr zurück!